Die Wüste Gottes / The Desert of God

Achtes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Madredeus: O Mar (Das Meer)

Die Wüste ist ein Ort der absoluten Leere. Eben deshalb ist sie aber auch ein guter Ort für eine Begegnung mit Gott.

Kein Zweifel: Die Wüste ist ein unwirtlicher Ort. Mit ihrer sengenden Hitze, der fast völlig fehlenden Vegetation und der scheinbaren Abwesenheit allen Wandels ist sie das Gegenteil dessen, was für uns das Leben ausmacht bzw. es lebenswert macht.
Gerade in dieser radikalen Andersartigkeit der Wüste liegt allerdings auch eine Chance. Denn durch ihre absolute Leere ermöglicht sie es uns, uns von den Formen und Gestalten zu lösen, in denen wir die Wirklichkeit üblicherweise wahrzunehmen pflegen. Damit kann die Wüste für uns zu einem Spiegelbild Gottes werden. Denn als Urgrund des Seins kommt das Göttliche ja erst dann unverfälscht zum Vorschein, wenn alle äußeren Hüllen von ihm abfallen. Folglich ist eine reine Gotteserfahrung erst dann möglich, wenn wir uns von den Dingen lösen.
In diesem Sinne bezeichnet der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart (1260 – 1328) es als Ziel des geistigen Strebens, „sich frei und losgelöst zu halten“ von den Dingen und so eine Unwissenheit zu erlernen, die allein dem Wesen Gottes gerecht werden könne. Diesem Unwissen gelte es „nachzufolgen und nachzuhängen und nachzuspüren“ und so in sich selbst jene durch nichts vorbelastete Offenheit zu erzeugen, durch die allein eine Annäherung an das Göttliche möglich sei.
In den Worten Meister Eckharts: „Je mehr in dir selbst Wüste ist und Unwissenheit aller Dinge, je näher kommst du“ dem, „der alle Dinge ist. (…) Das wahre Wort der Ewigkeit wird allein in der Ewigkeit ausgesprochen, wo der Mensch Wüste ist und seiner selbst und aller Mannigfaltigkeit entfremdet.“
Nun sehen wir, wenn wir an die Wüste denken, zwar zunächst eine Sandwüste vor uns. Allerdings sprechen wir auch von Eis- und Meereswüsten. Im Falle der Eismassen des Nordpols und der Antarktis ist das unmittelbar einleuchtend. Denn beide sind in der Tat ebenso lebensfeindlich wie die Sandwüste – nur dass dies hier eben nicht auf übermäßiger Hitze, sondern auf extremer Kälte beruht.
Beim Meer ist die assoziative Verknüpfung mit der Wüste dagegen weniger einleuchtend. Denn das Meer ist ja keineswegs lebensfeindlich. Es ist vielmehr die Wiege des Lebens, der Schoß, aus dem alles Lebendige entsprungen ist.
Wenn wir das Meer mit einer Wüste assoziieren, so gehen wir deshalb von einer Situation aus, in der wir es von außen betrachten. Dies kann zum einen in der Weise einer kontemplativen Betrachtung geschehen, indem wir etwa an einem Strand stehen und auf die Wellen schauen, die sich in der Ferne in den Horizont zu ergießen scheinen.
Zum anderen kann das Meer uns aber auch mit derselben elementaren Kraft überwältigen wie eine Sand- oder Eiswüste. Dies kann ganz konkret bedeuten, dass wir als Schiffbrüchige auf hoher See zwischen den Wellentürmen zermalmt werden. Es kann sich aber auch auf eine innere, geistige Überwältigung beziehen, im Sinne eines plötzlichen Durchflutetwerdens von der Einsicht in die von keinem Wort, Gedanken oder Bild zu erfassende Unermesslichkeit des Meeres.
Das Meer kann damit sowohl eine Projektionsfläche für die Bilder unserer Sehnsucht sein als auch umgekehrt eine Leere, die alle Bilder vergessen lässt. In beiden Fällen ist es ein Gleichnis für den Weg zum Numinosen, im Sinne einer Erfahrung dessen, was unsere Alltagserfahrung übersteigt.
Einen adäquaten musikalischen Ausdruck für diese Empfindungen gibt es einmal mehr von der portugiesischen Band Madredeus. Der erste, der meditativen Besinnung gewidmete Teil dieses musikalischen Adventskalenders endet damit so, wie er angefangen hat: mit einer Reise in das portugiesische Land der Sehnsucht.

Zitat von Meister Eckhart entnommen aus: Von der Dunkelheit; in: Meister Eckharts mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von Gustav Landauer (1903), Predigten: Von der Dunkelheit,  S. 9 – 12 (Zitat S. 10). Berlin 1920: Schnabel.

Madredeus: O Mar (Das Meer); aus: O espírito da paz (‚Der Geist des Friedens‘; 1994)

Liedtext mit Nachdichtung:

English Version

The Desert of God

8th door of the musical Advent calendar: Madredeus: O Mar (The Sea)

The desert is a place of absolute emptiness. But this is precisely why it is also a good place for an encounter with God.

No doubt: the desert is an inhospitable place. With its scorching heat, the almost complete lack of vegetation and the seeming absence of all change, it is the opposite of what constitutes life for us or makes it worth living.
However, precisely in this radical otherness of the desert lies an opportunity for us. Through its absolute emptiness it enables us to free ourselves from the forms and shapes in which we usually perceive reality. Thus the desert can become a mirror of God for us. For as the primordial source of existence, the divine only appears undistorted when all outer shells fall away from it. Consequently, a pure experience of God is only possible when we detach ourselves from things.
In this sense, the medieval mystic Meister (Master) Eckhart (1260 – 1328) describes it as the goal of spiritual striving to „keep oneself free and detached“ from things and thus to learn an ignorance which alone can do justice to the nature of God. This ignorance is to be followed consequently in order to create in oneself that unencumbered openness through which alone an approach to the divine is possible.
In the words of Meister Eckhart: „The more desert and ignorance of all things is within you, the closer you come“ to the one „who is all things. (…) The true word of eternity is spoken only in eternity, where man is a desert and alienated from himself and from all manifoldness“.
When we think of the desert, we first see a sandy desert before us. But we also speak of ice and sea deserts. In the case of the ice masses of the North Pole and Antarctica, this is quite plausible. For both are indeed just as hostile to life as a sandy desert – with the only difference that this is not due to excessive heat but to extreme cold.
In the case of the sea, however, the associative link with the desert is less obvious. After all, the sea is by no means hostile to life. Rather, it is the cradle of life, the source from which all living things have emerged.
When we associate the ocean with a desert, we are therefore assuming a situation in which we are looking at it from the outside. This can be done in a contemplative way, for example by standing on a beach and gazing at the waves that seem to pour into the horizon in the far distance.
On the other hand, the sea can also overwhelm us with the same elemental force as a desert of sand or ice. In concrete terms, this can mean that we, as shipwrecked people on the high seas, are crushed between the mountains of waves. But it can also refer to an inner, spiritual overwhelming, in the sense of a sudden insight into the immensity of the ocean, which no word, thought or image can capture.
The sea can hence be both a projection screen for the images of our longing and, conversely, a void that makes us forget all images. In both cases it is a parable for the path to the numinous, in the sense of an experience of what goes beyond our everyday experience.
An adequate musical expression for these sentiments is once again provided by the Portuguese band Madredeus. The first part of this musical Advent calendar, dedicated to contemplative reflection, therefore ends just as it began: with a journey to the Portuguese land of longing.

Quotations taken from: Meister Eckhart: Von der Dunkelheit (Sermon on Darkness); in: Meister Eckharts mystische Schriften (Meister Eckhart’s mystical writings); aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von (from the Middle High German translated by) Gustav Landauer (1903), Predigten (Sermons): Von der Dunkelheit (On Darkness),  pp. 9 – 12 (quotation p. 10). Berlin 1920: Schnabel. English translation: The Complete Mystical Works of Meister Eckhart, sermon 3, translated and edited by Maurice O’C. Walsh (PDF). New York 1979: Herder & Herder.

Madredeus: O Mar; from: O espírito da paz (The spirit of peace; 1994)

Song (with slide show)

Lyrics and translation

Bilder / Pictures: Pixabay: Pezibear: Wüste / desert; Hintergrund / background: Free-Photos: Meer / sea; Nikolay Belpitov: Meer / sea

4 Antworten auf „Die Wüste Gottes / The Desert of God

  1. Renate

    Vielen Dank für diesen schönen Beitrag. Die Texte regen zum Nachdenken an. Der Adventskalender gefällt mir richtig gut. Ich freue mich schon auf das nächste Türchen. Dieses Lied und das aus Finnland sind meine absoluten Favoriten❤️

    Gefällt 1 Person

  2. Pingback: Der Fado und das Meer / The Fado and the Sea – LiteraturPlanet

  3. Pingback: Die Herren des Krieges und der Geist des Friedens / The Lords of War and the Spirit of Peace – LiteraturPlanet

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