Die Tränen der Mondgöttin / The tears of the moon gooddess

Siebtes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Charles Baudelaire: Tristesses de la lune (Mondmelancholie);Vertonung von Régis Flécheau; Sänger: Nicolas Gabet

English Version

Die Traumtränen der Mondgöttin versickern meist ungesehen in der kapitalistischen Wüste. Nur wenn ein Künstler sie in seinem Herzen aufnimmt, verwandeln sie sich manchmal in Perlen.

Kontemplation? Besinnung? Kreativität? Kunst? Aus Sicht einer kapitalistischen Gesellschaft ist all das: nutzlos. Denn: Es lässt sich kein Mehrwert damit erzielen.
Allerdings gilt dies nur aus kurzfristiger Perspektive. Bei einer langfristigeren Betrachtung kann zumindest der Kunst sogar nach kapitalistischer Logik eine gewisse Rentabilität nicht abgesprochen werden. Man denke nur an die astronomischen Preise, die einzelne Gemälde auf Kunstauktionen erzielen.
Paradoxerweise beruht der Mehrwert, der sich hier mit Kunst erzielen lässt, allerdings gerade auf jener Wertschätzung des Geistes, die nach kapitalistischer Logik unproduktiv ist. Denn der hohe materielle Wert mancher Werke resultiert ja gerade daraus, dass ihr ideeller Wert als hoch eingestuft wird. Die scheinbare nutzlose Anverwandlung der Welt durch den Geist erfährt so durch die Hintertür doch noch gesellschaftliche Anerkennung – auch wenn dies den dann oft schon verstorbenen Künstlern vielfach nichts mehr nützt.
Hinter der speziellen, auf den materiellen Wert einzelner Kunstwerke bezogenen Wertschätzung des Geistes verbirgt sich freilich noch eine andere, allgemeinere Anerkennung der Bedeutung geistiger Produktivität. Denn ohne diese gäbe es auch in einer kapitalistischen Gesellschaft keine wachstumsfördernden Innovationen. Auch für sie ist folglich Kreativität eine wichtige Triebfeder der Entwicklung.
Zwar lässt sich Kreativität durch spezielle Brainstorming-Praktiken gezielt für ökonomische Zwecke – etwa für die Produktentwicklung – nutzen. Vollständig plan- und steuerbar wird sie allerdings nie sein. Denn dann würde sie ja ihr Wesen – das freie, ungebundene Spiel des Geistes – verlieren.
Damit steht die kapitalistische Gesellschaft in einem ambivalenten Verhältnis zu geistiger Aktivität. Einerseits ist sie auf Kreativität angewiesen, um nicht in einem unproduktiven Stillstand zu verharren. Andererseits darf sie dem Geist auch nicht zu viele Freiräume lassen, da dies die grundsätzliche Orientierung an materiellen Werten in Frage stellen könnte.
Für das Verhältnis zu Religion und Kunst bedeutet das: Sie werden geduldet, solange sie nicht den wirtschaftlichen Kernbereich der Gesellschaft tangieren. Offene Wertschätzung erfahren Meditation und Kreativität nur dann, wenn sie sich – als Power-Yoga für gestresste Manager oder als Brainstorming in der Marketing-Abteilung – für Wertschöpfungszwecke instrumentalisieren lassen. Ansonsten gilt für Künstler aber dasselbe wie für mittelalterliche Nonnen: Man lässt ihnen ihre Spielwiese im gesellschaftlichen Abseits und schöpft allenfalls den finanziellen Rahm ab, wenn ihre Produkte sich als profitabel erweisen. Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse gesteht man ihnen aber dezidiert nicht zu.
Diese Sonderstellung des Künstlers in der modernen Industriegesellschaft thematisiert auch Charles Baudelaire (1821 – 1867) in seinem Gedicht Tristesses de la lune. (Traurigkeiten des Mondes / Mondmelancholie). Der Dichter wird hier als Wesen gezeigt, das auf der Nachtseite des Lebens zu Hause ist. Dort ist er zwar ab¬geschnitten vom gesellschaftlichen Alltag, erhält sich aber eben dadurch die Offenheit für Stimmungslagen, die unter dessen Oberfläche schlummern.
Das Gedicht fasst diese Offenheit in das schöne Bild eines Dichters, der die Tränen der Mondgöttin („der“ Mond ist im Französischen weiblich: la lune) in seinem Herzen auffängt – und sie dann in Gedichten zum Blühen bringt. Die Mondgöttin erscheint damit als Personifizierung der Welt der Träume und Visionen, die im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft verdrängt werden.
Indem der Dichter sich der verschmähten Göttin zuwendet und die Traumwelt „zur Sprache bringt“, gibt er dem Leben zum einen seine Buntheit und Mehrdimensionalität zurück. Zum anderen wirkt er so aber auch einer Selbstvergessenheit entgegen, die leicht zu verhängnisvollen Fehlentwicklungen führen kann.
Eine Vertonung des Gedichts, die dessen verträumte Stimmung in kongenialer Weise aufgreift, stammt von dem Komponisten Régis Flécheau. Gesungen wird das Lied von Nicolas Gabet.

Charles Baudelaire: Tristesses de la lune (Vertonung: Régis Flécheau / Nicolas Gabet); aus: Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen, 1857)

Französisches Original

Vertonung von Régis Flécheau (Sänger: Nicolas Gabet):

Freie Übertragung

Mehr zu Baudelaire:

Weitere Gedichtvertonungen: Nachdichtungen: Charles Baudelaire

Ausführliches Essay zu Baudelaire mit weiteren Nachdichtungen: Charles Baudelaires Fleurs du mal („Blumen des Bösen“). Ein Überblick mit neu übersetzten Gedichten

Charles Baudelaire, 1855

English Version

The tears of the moon gooddess

7th door of the musical Advent Calendar:Charles Baudelaire: Tristesses de la lune (Moon melancholy); set to music by Régis Flécheau; singer: Nicolas Gabet

The dream tears of the moon goddess usually trickle away unseen in the capitalist desert. Only when an artist takes them up in his heart, they sometimes turn into pearls.

Contemplation? Meditation? Creativity? Art? From the point of view of a capitalist society all this is: useless. Because: no added value can be generated with it.
However, this is only true from a short-term perspective. In a long-term perspective, at least art, even according to capitalist logic, cannot be denied a certain profitability. Just think of the astronomic prices that particular paintings fetch at art auctions.
Paradoxically, the added value that can be achieved here with art is based precisely on that appreciation of the spirit which is unproductive according to capitalist logic. For the high finanical value of some works results precisely from the fact that their ideal value is regarded as high. The seemingly useless transformation of the world by the spirit is thus given social recognition through the back door – even though this is often of no benefit to the artists, many of whom have already died by then.
Behind the special appreciation of the spirit, based on the material value of single works of art, is hidden, however, another, more general recognition of the importance of intellectual productivity. For without this productivity, there would be no growth-promoting innovations even in a capitalist society. For this reason, creativity is an important driving force of its development as well.
It is true that creativity can be tailored specifically for economic purposes – such as product development – through certain brainstorming practices. However, it will never be completely predictable and controllable. Because then it would lose its essence – the free, unbound playing of the mind.
Capitalist societies hence stand in an ambivalent relationship to intellectual activity. On the one hand, they are dependent on creativity in order not to remain in an unproductive standstill. On the other hand, they must not allow the spirit too much freedom, as this could call into question the fundamental orientation towards material values.
For the relationship to religion and art this means that they are tolerated as long as they do not affect the economic core of society. Meditation and creativity are only openly appreciated if they can be instrumentalised for value creation purposes – as power yoga for stressed managers or as brainstorming in the marketing department. Apart from that, artists are treated in the same way as medieval nuns: They are given their playground in the social offside – and if their products turn out to be profitable, the financial cream is siphoned off. But they are decidedly not granted any influence on social processes.
This special position of the artist in modern industrial society is also addressed by the French poet Charles Baudelaire (1821 – 1867) in his poem Tristesses de la lune (Sadnesses of the moon / Moon melancholy). The poet is shown here as a being who is at home on the night side of life. There he is admittedly cut off from everyday social life – but this is precisely what keeps him open to the moods that lie dormant beneath the surface of society.
The poem captures this openness in the beautiful image of a poet who catches the tears of the moon goddess („the“ moon is female in French: „la“ lune) in his heart – and subsequently makes them blossom in poems. The goddess of the moon thus appears as the personification of the world of dreams and visions repressed in the everyday life of bourgeois society.
By paying attention to the spurned goddess and „bringing the dream world to speech“, the poet gives life back its colourfulness and multi-dimensionality. In addition, he counteracts a self-forgetfulness that can easily lead to fatal mistakes.
A musical adaptation of the poem, which takes up its dreamy mood in a congenial way, was created by the composer Régis Flécheau. The song is sung by Nicolas Gabet.

Charles Baudelaire: Tristesses de la lune (set to music by Régis Flécheau / Nicolas Gabet); from Les Fleurs du Mal (The Flowers of Evil, 1857)

French original

Musical adpaptation by Régis Flécheau (singer: Nicolas Gabet)

Free translation

Bilder / Pictures : Bilder / Pictures : Die Mondgöttin Selene; Ausschnitt aus: Victor Florence Pollet (1811 – 1883): Selene und Endymion (entstanden zwischen 1850 und 1860); Nadar. Porträt Charles Baudelaire, 1855 (Wikimedia), Hintergrund: Ractapopoulus. Mondlicht (Pixabay)

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