Sechstes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Paavoharju: Valo tihkuu kaiken läpi (Das alles durchdringende Licht)
Durch den Fortschritt der Wissenschaften erfahren wir immer mehr über die Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Dem Wesen des Seins bringt uns das aber nicht unbedingt näher.
Eine Meditation kann eine Reise in das eigene Ich sein. Sie kann aber auch, gerade umgekehrt, Urlaub vom Ich sein. Dann dient sie dazu, die Welt vorurteilsfreier zu betrachten, sich also ganz auf ihre eigene Wahrheit und Entwicklungsdynamik einzulassen. Anstatt die Dinge auf der Grundlage der persönlichen Interessen und Bedürfnisse wahrzunehmen, werden sie so in ihrem Wesen erfahrbar.
Ein solches bewussteres Sehen ist etwa für den Zen-Buddhismus von zentraler Bedeutung. Dabei geht es gerade nicht darum, das große Ganze zu erleben, das zu finden, was die Welt „im Innersten zusammenhält“. Ziel ist es vielmehr, das Große im Kleinen zu entdecken, also etwa einen unscheinbaren Kieselstein oder einen Grashalm in seiner Einzigartigkeit und damit als kleinen, aber unverzichtbaren Baustein im Palast des Lebens wahrzunehmen.
Diese Form des interesselosen Anschauens und „willenlosen Erkennens“, wie sie auch der Philosoph Arthur Schopenhauer als Weg zur Wahrheitssuche empfiehlt, setzt allerdings nicht notwendigerweise eine bewusste Meditation voraus. Sie kann sich vielmehr auch plötzlich einstellen, in besonderen Momenten innerer Harmonie, in Augenblicken, in denen wir uns mit uns selbst und der Natur im Einklang befinden.
Einen solchen „Kairos“, verstanden als einen Augenblick außerhalb der Zeit, beschreibt Rainer Maria Rilke in zwei kurzen, 1913 entstandenen Prosastücken (Erlebnis I und II). In Erlebnis I fühlt sich der Protagonist, als er sich während eines Spaziergangs an einen Baum anlehnt, auf einmal so vollständig „eingelassen in die Natur“, dass er „in einem beinah unbewußten Anschaun“ innehält. Während aus dem Baum „fast unmerkliche Schwingungen“ in ihn überzugehen scheinen, hat er das Gefühl, als stehe er in seinem Körper „wie in der Tiefe eines verlassenen Fensters“, von dem aus er in die Natur hinübersehe. Schließlich kommt es ihm vor, als sei er „auf die andere Seite der Natur geraten“.
Durch das reine Anschauen gewinnen die Dinge eine neue Qualität für ihn. Sie scheinen ihm nun aus einem „geistigere[n] Abstand“ gegenüberzutreten und sich ihm dabei „mit so unerschöpflicher Bedeutung“ zu offenbaren, „als ob nun nichts mehr zu verbergen sei“.
In Erlebnis II wird die zunächst nur optisch vermittelte Verbundenheit mit den Dingen auch über andere Sinne realisiert. So heißt es hier von einem Vogelruf, dass er „draußen und in seinem Innern übereinstimmend da war, indem er sich gewissermaßen an der Grenze des Körpers nicht brach, beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem, geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewußtseins blieb“.
Im Endeffekt führt die Erfahrung der tieferen Wahrheit des Seins so zu der Empfindung einer tieferen Verbundenheit mit allem und allen anderen. So betont Rilke auch in einem um die gleiche Zeit entstandenen Gedicht das Gefühl der Seelenverwandtschaft mit anderem Seienden, das sich aus einer wesenhaften, nicht oberflächlichen Wahrnehmung der Welt ergibt
„Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.“
Auch die finnische Band Paavoharju, ein musikalisches Projekt asketischer Christen, thematisiert in ihrem Song Valo tihkuu kaiken läpi („Das alles durchdringende Licht“) das plötzliche Hervorbrechen des wahren Wesens des Seins hinter dem alltäglichen Erscheinungsbild der Dinge. Indem der „Spiegel“ der „Seele“ von den Schablonen der Alltagswahrnehmung ‚gereinigt‘ wird, öffnet sich der Blick für „ein klareres Bild“, in dem die tiefere Wahrheit der Dinge aufscheint.
Ausgangspunkt dieses besonderen Augenblicks ist hier „eine Sehnsucht nach einer Sehnsucht“. Dies umschreibt recht gut die Haltung eines im Gebet versunkenen Menschen, der auf die eigentlich unerreichbare Gnade hofft, für einen kurzen Augenblick von der göttlichen Wahrheit gestreift zu werden. Musikalisch entspricht dem ein kontemplativer Gesang, der durch die leichte Hallwirkung Anklänge an den Kirchengesang aufweist.
Zitatenachweis
Rilke:
Erlebnis I (e 1913, v 1918) und Erlebnis II (e 1913, v 1935): Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 4, hg. von Horst Nalewski, S. 666 – 670. Frankfurt/Main 1996: Insel.
Gedichtstrophe aus: Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen … (e 1914, v 1927). In: Ebd., Bd. 1, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, S. 113.
Schopenhauer:
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819); hier zit. nach Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus, Bd. 1, S. 267. Zürich 1988 (Neuausgabe 1994): Haffmans.
Paavoharju: Valo tihkuu kaiken läpi; aus: Yhä hämärää (2005)
Liedtext mit englischer und französischer Übersetzung
Freie Übertragung
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English Version
The truth of the pebble
6th door of the musical Advent calendar: Paavoharju: Valo tihkuu kaiken läpi (The all-pervading light)
Through the progress of science we learn more and more about the principles of life. However, this does not necessarily bring us closer to the essence of being.
A meditation can be a journey into our own self. But it can also be, just the other way round, a holiday from the self. Then it serves to look at the world more unprejudiced, and thus to get fully involved in its truth and momentum. Instead of perceiving things on the basis of personal interests and needs, they can be experienced in their essence.
Such a more conscious way of looking at the world is, for example, of central importance in Zen Buddhism. Meditation here is not about experiencing the whole picture, about detecting what holds the world together. The aim is rather to discover the big in the small, that is, to perceive an inconspicuous pebble or a blade of grass in its uniqueness and hence as a small but indispensable component in the palace of life.
Such a form of disinterested contemplation and „will-free cognition“, which is also recommended by the philosopher Arthur Schopenhauer as a path to truth, does, however, not necessarily require conscious meditation. It can also occur unexpectedly, in special moments of inner harmony, in moments when we are in unison with ourselves and nature.
Such a „kairos „, in the sense of a moment out of time, is described by Rainer Maria Rilke in two short prose pieces written in 1913 (Erlebnis / Experience I and II). In Experience I, the protagonist, leaning against a tree during a walk, suddenly feels so completely „immersed in nature“ that he pauses „in an almost unconscious gaze“. While almost „imperceptible vibrations“ seem to pass into him from the tree, he has the feeling of standing in his body „as if in the depths of an abandoned window“ from which he looks out into nature. In the end, he feels as if he has „passed over to the other side of nature“.
Through pure contemplation things gain a new quality for him. They now seem to emerge from a „more spiritual distance“, and to reveal themselves to him „with such inexhaustible meaning“, „as if there were nothing left to hide“.
In Experience II, the new attachment to things, initially only visually conveyed, is also realised through other senses. For instance, it is said here of a bird call that it „was there outside and inside correspondently, in that it did not break, so to speak, at the boundary of the body and connected both [inner and outer world] to an uninterrupted space in which, mysteriously protected, only a single spot of purest, deepest consciousness remained“.
In the end, the experience of the deeper truth of being thus leads to the feeling of a deeper connection with the world and all beings. In a poem written around the same time, Rilke similarly emphasises the feeling of the affinity of the soul with other beings, resulting from an essential, not superficial perception of the world:
„All beings are permeated by one space:
world’s inner-space. The birds fly silently
through us. Oh, I who want to grow,
I look outside – and inside me the tree is growing.“
In their song Valo tihkuu kaiken läpi („The all-pervading light“), the Finnish band Paavoharju, a musical project of ascetic Christians, also focuses on the sudden emergence of the true essence of being behind the everyday appearance of things. By removing the stencils of everyday perception from the „mirror“ of the „soul“, the view is opened to „a clearer picture“, in which the deeper truth of things is revealed.
The starting point of this special moment here is „a longing for a longing“. This describes quite well the attitude of a person immersed in prayer, hoping for the actually unattainable grace of being touched by divine truth for a short moment. Musically this corresponds to a contemplative way of singing, which due to the slight reverberation effect is reminiscent of church chant.
Quotation Proof
Rilke:
Erlebnis I (e 1913, v 1918) and Erlebnis II (e 1913, v 1935): Rilke, Rainer Maria: Werke (Works). Annotated edition in 4 volumes, volume 4, edited by Horst Nalewski, pp. 666 – 670. Frankfurt/Main 1996: Insel.
Poetry verses from: Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen … (e 1914, v 1927). In: Ibid., volume 1, edited by Manfred Engel and Ulrich Fülleborn, p. 113; English translation by David Young: All things can seem to summon us …
Schopenhauer:
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (The World as Will and Representation, 1819; first English translation 1883 under the title The World as Will and Idea, 1883); here quoted after: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus, volume 1, p. 267. Zürich 1988 (new edition 1994): Haffmans.
Paavoharju: Valo tihkuu kaiken läpi (The all-pervading light); from: Yhä hämärää (2005)
Translation
Bilder / Pictures: Mary Fotunaki: Kieselsteine / Pebbels; Gerd Altmann.: Licht / light (Pixabay)
Morgenstern
Vielen Dank für den besinnlichen Einführungstext und den wundervollen Musiktipp. Das Lied läuft bei mir in Endlosschleife. Es macht süchtig und führt zu innerer Ruhe 🌳
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