Die Melancholie: Raubtier und Menschenrecht / Melancholy: Predator and human right

Neuntes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Christophe Miossec: La mélancolie

Mit dem heutigen Beginn des zweiten Teils des musikalischen Adventskalenders begeben wir uns auf Wanderschaft im Tal der Finsternis. Für die zart Besaiteten unter uns habe ich eine direkte Brücke ins Reich Utopia spannen lassen, wo wir anderen am 17. Dezember ankommen werden. Aber Vorsicht: Nicht nach unten schauen! Sonst fressen euch die Ungeheuer der Nacht.

Wenn unsere Seele sich verdüstert, gibt es dafür oft ganz konkrete Gründe. Der Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwere Krankheit, die Trennung von Menschen, die uns lieb und teuer sind – in all diesen Fällen hat die innere Dunkelheit ihren Ursprung in einer äußeren Finsternis.
Es gibt aber auch Fälle, in denen der Vorhang in unserem Innern sich ganz unerwartet senkt, ohne erkennbaren Anlass, wie bei einem plötzlichen Wetterumschwung. Manchmal lässt der Schatten eines Traumgesichts, das wir nicht loswerden können, uns morgens in einem Land erwachen, in dem die Sonne nicht aufgeht. Es kann sogar passieren, dass uns an einem lauen Sommerabend, wenn nichts unser äußeres Glück trübt, auf einmal der dunkle Flügel der Melancholie streift.
Von dieser zweiten, unerklärlichen Form von Schwermut handelt das Lied von Christophe Miossec. Der aus der Bretagne stammende Sänger bringt dabei auch das janusköpfige Wesen der Melancholie zur Sprache. So beschreibt das Lied die Melancholie zum einen als etwas, das einen „zu Eis erstarren“ lässt, etwas das „am Körper klebt“, so sehr man sich auch bemüht, es loszuwerden. Zum anderen erscheint die Melancholie aber auch als etwas, das einen „sanft überwältigt“, das einen fast schon mütterlich „umschließt“ indem es einen vor den „Stürmen“ des äußeren Lebens „behütet“.
Der letztere Aspekt zeigt die Melancholie als enge Verwandte der Kontemplation. Denn wer „zur Besinnung kommt“, gewinnt dadurch immer auch Abstand zu seinem alltäglichen Tun. Vieles, was zuvor selbstverständlich erschien, wird dann auf einmal in Frage gestellt. Der Übermut des Alltags verwandelt sich in die Schwermut der Nachdenklichkeit.
Dies bedeutet dann aber auch, dass die Melancholie einen produktiven Sinn erhalten kann, indem man sie für eine vertiefte Reflexion über sich selbst und sein Leben nutzt. Der Versuch, die Melancholie vollständig aus dem eigenen Leben auszusperren, ist ohnehin wenig erfolgversprechend. Denn – wie es in dem Chanson von Miossec heißt – sie „kommt“ und „geht“, wie sie will. Vor ihr davonlaufen zu wollen, ist genauso wenig wie möglich, wie vor sich selbst davonzulaufen.
Das Schöne an Miossecs Lied ist, dass es diese an sich betrübliche Erkenntnis durch eine gehörige Portion Humor abmildert. So feiert es die Melancholie als etwas „Kommunistisches“, das den Gewerkschaften gefallen müsste, weil alle das gleiche „Anrecht“ darauf haben und ohne Ansehen der Person „aufgenommen“ werden.
Diese ironische Distanz zu der eigenen Schwermut spiegelt sich auch in dem Video zu dem Chanson wider. Der Clip illustriert die melancholisch-depressiven Verstimmtheiten mit trostlosen Orten sowie mit Porträts einzelner Menschen und ihrer verblassten Erinnerungen. In der Summe entsteht daraus ein erfrischend komischer Kontrast zu dem traurigen Lied, da der Film die Melancholie auf die sie auslösende Absurdität des Daseins zurückführt. Besonders deutlich wird dies in der Schluss-Sequenz, in der die Bandmitglieder einzeln an besonders trostlosen Orten ihr Wolfsgeheul anstimmen.

Christophe Miossec: La mélancolie;aus: L’Étreinte (2006)

Liedtext

Übersetzung

Die Melancholie

Die Melancholie,
die kommt, die geht,
die euch ganz sanft überwältigt,
die euch umschließt,
die euch behütet,
die euch vor den Stürmen beschützt …

Die Melancholie,
die so oft an die Tür klopft,
dass man sich ihr ergibt,
dass man sich sogar in sie einwickelt …

Die Melancholie
unserer besten Jahre …
Unsere Gefährtinnen, unsere Dummheiten –
sie dürfen nicht eines Tages vergessen werden.

Unsere Melancholien
vermischen sich, mein Engel,
wickeln sich
in unsere armseligen Leben,
in die Erinnerungen aus unserer Schulzeit
und all den anderen Kram …

Die Melancholie
Ist wie eine Anomalie,
die euch ganz sanft zerstört,
die euch herausfordert und euch erklärt,
dass ihr keine Kinder mehr seid.

Die Melancholie,
die sich wie selbstverständlich einstellt,
die am Körper klebt
und die euch scheußlichen Ärger bereitet …

Die Melancholie ist kommunistisch,
jeder hat ein Anrecht auf sie von Zeit zu Zeit.
die Melancholie ist nicht kapitalistisch,
sie ist sogar kostenlos für die Verlierer.

Die Melancholie ist pazifistisch,
man gerät niemals mit ihr aneinander.
Die Melancholie, oh, du weißt, das gibt es,
sie lässt dich sogar mit Handschuhen zu Eis erstarren.

Die Melancholie ist etwas für Gewerkschafter,
hier wird jeder aufgenommen.

Über Christophe Miossec

Der 1964 in Brest geborene Sänger wandte sich nach kurzzeitiger Mitarbeit in der Band Printemps Noir (Dunkler Frühling) zunächst wieder von der Musik ab. Er studierte Archäologie, betätigte sich als freier Journalist und war zeitweilig in der Werbebranche tätig. Erst in den Neunzigerjahren fand er wieder zur Musik zurück und spielte zusammen mit Guillaume Jouan und Bruno Leroux das Album Boire (Trinken) ein. Das 1995 veröffentlichte Werk wurde von der Kritik sehr positiv aufgenommen. Der Titel enthält eine für die Biographie Miossecs pikante Pointe, da dieser lange an Alkoholismus litt.
Miossec arbeitet heute nicht nur selbst erfolgreich als Chansonnier, sondern schreibt auch immer wieder Lieder für andere Musiker. So hat er etwa Chansons für Jane Birkin, Johnny Hallyday und Juliette Gréco komponiert. Musikalisch sieht Miossec sich in der Tradition Jacques Brels, ist in seinem musikalischen Vortrag jedoch deutlich zurückgenommener als dieser.

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English Version

Melancholy: Predator and human right

9th door of the musical Advent calendar: Christophe Miossec: La mélancholie

With today’s beginning of the second part of the musical Advent calendar, we set out on a journey through the valley of darkness. For the delicate ones among us, a direct bridge has been built to the realm of Utopia, where the rest of us will arrive on December 17th. But beware: Do not look down! Otherwise the monsters of the night will devour you.

When our soul darkens, there are often very specific reasons for this. The loss of a job, a serious illness, the separation from people who are dear to us – in all these cases the inner darkness has its origin in an outer darkness.
But there are also cases in which the curtain inside us unexpectedly lowers, without any apparent reason, like a sudden weather change. Sometimes the shadow of a nightmare that we cannot get rid of makes us wake up in the morning in a country where the sun does not rise. It can even happen that on a balmy summer evening, when nothing disturbs our outer happiness, the dark wing of melancholy suddenly touches us.
The song by Christophe Miossec is about this second, unexplainable form of melancholy. The French singer, born in Brittany, thereby also brings up the Janus-faced nature of melancholy. The song describes melancholy on the one hand as something that makes you „freeze to ice“, something that „sticks to your body“, no matter how hard you try to get rid of it. On the other hand, melancholy also appears as something that „gently overwhelms“ you, that „encloses“ you almost maternally by „protecting“ you from the „storms“ of outer life.
The latter aspect shows melancholy as a close relative of contemplation. For the one who gets enclosed in himself always gains distance from his everyday actions through this. Many things that previously seemed self-evident are then suddenly called into question. The exuberance of everyday life turns into the melancholy of contemplation.
This also implies that melancholy can be given a productive meaning by using it for a deeper reflection on oneself and one’s life. The attempt to completely exclude melancholy from one’s own life is not very promising anyway. As the chanson of Miossec says, melancholy „comes“ and „goes“ as it likes. Wanting to run away from it is therefore just as impossible as running away from oneself.
The beautiful thing about Miossec’s song is that it mitigates this sad insight with a good portion of humour. Thus it celebrates melancholy as something „communist“ that should please the unions, because everyone has the same „right“ to it and is „accepted“ without regard to the person.
This ironic distance to one’s own melancholy is also reflected in the video to the chanson. The clip illustrates the melancholic-depressive moods with desolate places as well as with portraits of specific people and their faded memories. Altogether, this creates a refreshingly comical contrast to the sad song, as the film relates the melancholy to the absurdity of existence that triggers it. This becomes particularly clear in the final sequence, in which the band members intonate their wolf howls one by one in particularly bleak places.

Christophe Miossec: La mélancholie; from: L’Étreinte (2006)

Song (video clip)

Lyrics

Free Translation

The Melancholy

The melancholy
which comes, which goes,
gently overwhelming you,
enclosing you,
sheltering you,
protecting you from the storms …

The melancholy
which so often knocks on the door
that you surrender to it,
that you even wrap yourself up in it.

The melancholy
of our best years …
Our companions, our stupidities –
they must not be forgotten one day.

Our melancholic days
merge, my dear,
they wrap themselves
in our miserable lives,
in the memories of our school days
and all the other stuff …

The melancholy
is like an anomaly,
which destroys you quite gently,
which challenges you and teaches you
that your childhood is over.

The melancholy
which comes as a matter of course,
which sticks to the body,
causing you hideous trouble …

Melancholy is communistic,
everyone has a right to it from time to time.
Melancholy is not capitalistic,
it is even free for the losers.
Melancholy is something for trade unionists:
everyone is welcome here.

Miss Melancholy is pacifistic:
you’ll never get into a fight with her.
But even in your thickest winter gloves
she will make you freeze to ice.

About Christophe Miossec

Christophe Miossec, born in 1964 in Brest, turned away from music after a short time in the band Printemps Noir (Dark Spring). He studied archaeology, worked as a freelance journalist and was temporarily active in the world of advertising. Only in the nineties did he find his way back to music and recorded the album Boire (Drinking) together with Guillaume Jouan and Bruno Leroux. The work, released in 1995, was received very positively by the critics. The title contains a delicate punch line to Miossec’s biography, since he suffered from alcoholism for a long time.
Today Miossec not only works successfully as a chansonnier himself, but also repeatedly composes songs for other musicians. For instance, he has written chansons for Jane Birkin, Johnny Hallyday and Juliette Gréco. Musically, Miossec sees himself in the tradition of Jacques Brel, although he is much more reserved in his musical performance than the latter.

Bilder / Pictures: Louis Jean François Lagrenée (1724-1805) : Die Melancholie (1785). Louvre; Christelle Prieur (Selenee): Hafen von Paimpol, Côtes-d’Armor, Bretagne (Pixabay)

4 Antworten auf „Die Melancholie: Raubtier und Menschenrecht / Melancholy: Predator and human right

  1. Jakob

    Lieber Baron, ich habe deinen Text mit Interesse gelesen. Die allzeit „Lustigen“ denken vielleicht wirklich zu wenig nach. Das ist auch nicht gewollt. Mir schoss so Einiges durch den Kopf: Ein Interview vor vielen Jahren mit Erich Fromm, in welchem er sagte, dass die Falschen in der Psychiatrie landen und die so genannten „ Normalen“ gefährlich sind (so erinnere ich es sinngemäß)…Auch die vielen Ratgeber zum „positiven Denken“ oder „so werden Sie störende Gedanken los.“ Gedanken, die stören -seltsam irgendwie, oder? -Wir sollen fröhlich sein, nichts hinterfragen und ständig lächelnd konsumieren …Sonst sind wir selbst ein „Störfaktor“. Du siehst: Dein Beitrag hat eine „Gedankenflut“ ausgelöst. Dies war nur ein Ausschnitt😉. Das Chanson sowie das Video finde ich supertoll und so passend zum
    Gesamtpost! Hab einen schönen Advent!

    Gefällt 1 Person

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