Zehntes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Alina Orlova: Aš neatsimenu, kaip užmigau (‚Ich erinnere mich nicht …‘)
Die Depression ist wie ein falscher Freund, der uns unterschwellig suggeriert, an etwas schuld zu sein, für das wir in Wahrheit gar nichts können.
Wie das gestrige Chanson von Christophe Miossec handelt auch das heutige Lied der litauischen Sängerin Alina Orlova von einer Verfinsterung der Seele. Anders als bei Miossec haben wir es hier allerdings nicht mit einer Melancholie der sanfteren Art zu tun. Was Orlova besingt, ist eher eine handfeste Depres-sion.
Das Ich, das sich hier ausspricht, befindet sich an einem im Wortsinn „gottver-lassenen“ Ort (an einem Ort, an den ‚Gottes Blick nicht vordringt‘); an einem Ort, wo die Stille so mächtig ist, dass sie jedes Wort, das gesprochen wird, au-genblicklich verschluckt. Wie sich das Ich innerlich in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen befindet, sind auch äußerlich alle Gegensätze aufgeho-ben: Es gibt weder Helligkeit noch Dunkelheit, und jede Bewegung ist nur eine scheinbare, die den faktischen Stillstand nicht tangiert.
Der Ort erweist sich damit als eine vollkommene Entsprechung des Nichts („hier existiert wirklich gar nichts“). Der Schrei des neu geborenen Säuglings fällt hier mit dem Todesschrei zusammen, den man ausstößt, ehe man ver¬schwindet „wie eine bedrückende Erinnerung“.
Die Melancholie hat damit, so lässt sich aus Orlovas Lied schlussfolgern, nur bis zu einem gewissen Punkt ein produktives Potenzial, im Sinne einer Einladung zu Besinnung und Selbstreflexion. Wird die Schwermut zu heftig und hält sie zu lange an, so wird sie destruktiv.
Die Dynamik, die diesen Wandel von vorübergehender Melancholie zu krank-hafter Depression begleitet, lösen wir mitunter selbst aus. Als geistbegabte Wesen empfinden wir es als Kränkung oder wollen es einfach nicht wahrhaben, dass depressive Verstimmungen schlicht auf biochemischen Prozessen beruhen können. Würden wir dies akzeptieren, so könnten wir das aus den Fugen gera-tene Gleichgewicht unseres Körpers mit ebenso schlichten Gegenmitteln wie¬der einzurenken versuchen – etwa durch moderate sportliche Aktivität, die durch die Ausschüttung von Dopamin oder Serotonin gegenläufige biochemi¬sche Prozesse einleiten kann.
Stattdessen neigen wir jedoch dazu, nach fassbaren Gründen für unsere Ver-stimmung zu suchen. In der sozialen Realität und in unserer Biographie lässt sich immer etwas finden, womit sich unsere Schwermut begründen lässt. Und dann ist da ja noch die Vergänglichkeit, die ohnehin alles Tun sinnlos erschei¬nen lässt. Das Grübeln wirkt so wie ein Verstärker für unsere Schwermut. An¬statt uns aus dieser zu befreien, verstricken wir uns nur immer mehr im Netz der Melancholie.
In solchen Fällen hilft dann oft nur noch eins: menschlicher Zuspruch. Natürlich mag in schwereren Fällen auch eine begleitende Einnahme von Medikamenten notwendig sein. Aber erst die Brücke zu einem Du verleiht dem Ritual der me-dikamentösen Therapie jenen Sinn, der einem die Kraft gibt, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Eben von einer solchen Brücke singt Alina Orlova in einem anderen Lied (Baltos, baltos). Der kurze Text entfaltet seine ganze Bedeutung dabei erst durch die Euphorie des Trostes, den die Musik ausstrahlt. Hinzu kommt der le¬bendige Vortrag der Sängerin, die offenbar ganz genau weiß, wovon sie singt. Das Lied ist somit die komplementäre Ergänzung zu der Seelennacht, die Orlova in Aš neatsimenu, kaip užmigau beschwört.
Alina Orlova: [Aš neatsimenu, kaip užmigau];(bislang noch auf keinem Album veröffentlicht, entstanden vor 2009)
Liedtext auf der Website der Sängerin, mit russischer Fassung
Übersetzung
[Ich erinnere mich nicht …]
Ich erinnere mich nicht, wie ich eingeschlafen bin,
ich weiß nicht, ob ich schon aufgewacht bin,
hier wird es weder dunkel noch hell,
und das Wasser ist hier immer bräunlich.
Gottes Blick dringt hierher nicht vor,
das Gebell der Hunde ist nicht zu hören,
man braucht hier keine Fälle für die Worte,
weil sie in der Stille ohnehin absterben.
Hier kannst du so laut schreien,
wie du es nur bei deiner Geburt getan hast,
schreien, ehe du zu verschwinden beginnst
wie eine bedrückende Erinnerung.
Ob du dich wohl erinnerst, wie du eingeschlafen bist,
ob du weißt, dass du nicht mehr schläfst?
Hier existiert wirklich gar nichts,
und du verharrst auf der Stelle, wenn du davonläufst.
Alina Orlova: [Baltos baltos]; (bislang noch auf keinem Album veröffentlicht, entstanden vor 2012)
Liedtext auf der Website der Sängerin, mit russischer Fassung
Übersetzung
[Deine weißen, weißen Hände …]
Deine weißen, weißen Hände
suchen und suchen – und finden nichts,
so, wie im Sturm die Vögel
gegen die dunkelsten Fenster der Stadt fliegen.
Deine weißen, weißen Hände
suchen und suchen – und finden doch nichts.
Gib sie mir.
Über Alina Orlova
Alina Orlova, Jahrgang 1988, ist als Tochter eines litauischen Polen und einer aus dem russischen Woronesch stammenden Mutter in der Kleinstadt Visaginas im Nordosten Litauens aufgewachsen. Die Stadt ist ein Zentrum der russischsprachigen Minderheit in Litauen: Während deren Anteil in dem Land nur 6 Prozent beträgt, liegt er in Visaginas bei 52 Prozent. Orlovas Eltern haben ihre Tochter jedoch – ungeachtet der Tatsache, dass die Familie sich zu Hause auf Russisch unterhalten hat – auf die einzige Schule der Stadt geschickt, in der auf Litauisch unterrichtet wurde.
Die Künstlerin ist damit gewissermaßen als Tochter dreier Kulturen aufgewachsen. Die Freiheit, die ihre Eltern ihr so ermöglicht haben, drückt sich u.a. darin aus, dass Orlova zu ihren Liedern, die sie überwiegend auf Litauisch vorträgt, immer wieder auch russische und englische Versionen anbietet.
Schon ihre erste Single, die sie mit gerade einmal 18 Jahren herausgebracht hat, war ein großer Erfolg und wurde von dem populären litauischen Jugendmagazin Pravda zum Debüt des Jahres gewählt. Spätestens seit ihrem zwei Jahre darauf erschienenen ersten Album hat sie sich nicht nur in der Musikszene ihres Landes etabliert, sondern tritt auch regelmäßig außerhalb Litauens auf.
Artikel zur antidepressiven Wirkung von Sport:
Joung, Frank: Weshalb uns Sport glücklich macht. In: Der Spiegel, 20. März 2014.
English Version
The dark house of depression
10th door of the musical Advent Calendar: Alina Orlova: Aš neatsimenu, kaip užmigau (I don’t remember)
Depression is like a false friend who subliminally makes us believe that we are guilty of something we actually cannot do anything about.
Like yesterday’s chanson by Christophe Miossec, today’s song by the Lithuanian artist Alina Orlova is about a darkening of the soul. Unlike Miossec, however, we are not dealing here with a melancholy of a rather gentle kind. What Orlova sings about is more like a deep depression.
The self that is speaking here is in a place that is literally „godforsaken“ (a place to which „God’s gaze does not penetrate“); a place where silence is so powerful that it swallows every word. Just as the self is inwardly in a state between waking and sleeping, all opposites are suspended in the outer world as well. There is neither brightness nor darkness, and every movement is just an illusion, which does not affect the actual standstill.
The place thus proves to be a perfect equivalent of nothingness („absolutely nothing is existing here „). The cry of the newborn child coincides here with the death cry that one utters before disappearing „like an oppressive memory“.
Melancholy hence has, as can be concluded from Orlova’s song, only up to a certain point a productive potential, in the sense of an invitation to contemplation and self-reflection. If melancholy becomes too intense and lasts too long, it becomes destructive.
The dynamics that accompany this change from temporary melancholy to pathological depression are sometimes triggered by ourselves. As spiritually gifted beings, we feel offended or simply do not want to admit that depressive moods can simply be based on biochemical processes. If we were able to accept this, we might try to rebalance our body with equally simple remedies – such as moderate physical activity, which can initiate opposing biochemical processes by releasing dopamine or serotonin.
Instead we tend to look for tangible reasons for our disgruntlement. In social reality and in our biography, there is always something to be found that can seemingly explain our melancholy. And then there is, of course, the fact of transience, which makes all action seem meaningless anyway. This kind of brooding therefore acts like an intensifier for our gloom. Instead of freeing ourselves from it, we become more and more entangled in the net of melancholy.
In such cases there is often only one thing that helps: human encouragement. Of course, in more severe cases, accompanying medication may be required. But it is the bridge to a „you“ that gives the ritual of pharmaceutical therapy the sense needed for pulling oneself out of the swamp by one’s own hair.
It is precisely such a bridge that Alina Orlova sings about in another song (Baltos, baltos). The short text unfolds its full meaning only through the euphoria of consolation exuded by the music. In addition, there is the expressive performance of the singer, who obviously knows exactly what she is singing about. The song is thus the perfect complement to the night of the soul that Orlova evokes in Aš neatsimenu, kaip užmigau.
Alina Orlova: [Aš neatsimenu, kaip užmigau]. (not yet released on any album, created before 2009)
Lyrics (Lithuanian and Russian)
Translation:
[I don’t remember]
I don’t remember how I fell asleep,
I don’t know if I have woken up or not,
here it will be neither dark nor light,
and the water here is always tainted.
God’s gaze does not penetrate to this place,
the barking of the dogs cannot be heard,
you don’t need cases for your sentences here,
because they die off in silence anyway.
Here you can scream as loud
as you only did when you were born,
you can scream before you start to disappear
like an oppressive memory.
Will you remember how you fell asleep?
Will you know that you’re not sleeping anymore?
Absolutely nothing is existing here,
and you stand still when you run away.
Alina Orlova: [Baltos baltos]; (not yet released on any album, created before 2012)
Lyrics (Lithuanian and Russian)
Translation
[Your white, white hands]
Your white, white hands
are searching and searching
without finding anything
just like birds in a storm
flying against
the darkest windows of the town.
Your white, white hands
are searching and searching
without finding anything at all.
Hand them over to me.

About Alina Orlova
Alina Orlova, born in 1988, grew up in the small town of Visaginas in north-eastern Lithuania as the daughter of a Lithuanian Pole and a mother from Voronezh in Russia. The town is a major centre for the Russian-speaking minority in Lithuania. While their share in the country as a whole is only 6 percent, it is 52 percent in Visaginas. Orlova’s parents, however, sent their daughter to the only school in the town where lessons were held in Lithuanian, despite the fact that the family spoke Russian at home.
The artist thus grew up as the daughter of three cultures, so to speak. The freedom that her parents gave her is expressed, among other things, by the fact that Orlova repeatedly offers Russian and English versions of her songs, which she performs mostly in Lithuanian.
Her very first single, which she released at the age of just 18, was a huge success and was voted debut of the year by the popular Lithuanian youth magazine Pravda. At the latest since her first album, released two years later, she has not only established herself in the music scene of her country, but also performs regularly abroad.
Article on the antidepressant effect of sport:
Legg, Timothy J.: Exercise, Depression, and the Brain. Healthline.com, July 25th, 2017.
Bilder: Edvard Munch (1863 – 1944): Melancholie, (1894 – 1896); Kunstmuseum Bergen; Br. Ale And: Alina Orlova, 13. August 2013 (Wikimedia)
Eva Maria
Was für eine wunderbare, ausdrucksstarke Künstlerin!!! Ich bin total beeindruckt. Dein Text zu Depression macht den Eindruck eigener Erfahrungen mit dem „dunklen Haus“. Meine Erfahrung als Psychologin ist, dass es einerseits hilft, sich seiner so bewusst zu sein, dass sehr reflektierte PatientInnen einer Therapie aber oft schwerer zugänglich sind. Danke für den interessanten Text und vor allem für die Musik!!!
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Spinnradl-Sabine
Die Musik – vor allem ihre Stimme gehen so richtig zu Herzen.
Danke
Sabine vom 🕷 🕸
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