Elftes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Mikael Wiehe: Flickan och kråkan
Wenn du auf einer Brücke einen Bären triffst, grüß ihn freundlich und sag „Onkel“ zu ihm – so heißt es in einem türkischen, auch in Russland gebräuchlichen Sprichwort: Wenn etwas stärker ist als du, solltest du dich damit vertraut machen. Der gefährlichste Bär auf der Brücke des Lebens ist aber – der Tod.
Unter den Werken des schwedischen Künstlers Oscar Cleve (1906 – 1991) findet sich auch eine Zeichnung mit dem Titel „Kleines Mädchen eilt mit verletzter Krähe zum Tierarzt“. Dieses Bild hat den Singer-Songwriter Mikael Wiehe zu dem Lied Flickan och kråkan (Das Mädchen und die Krähe) inspiriert.
Wiehes Song war wiederum Inspirationsquelle für eine Reihe weiterer künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Sujet. Die einzelnen Bilder unterscheiden sich dabei durch charakteristische Akzentsetzungen:
- Manche Arbeiten orientieren sich eng am Original und stellen die Eile des Mädchens in den Vordergrund, sein verzweifeltes Bemühen, schneller zu sein als der Tod.
- Andere Bilder konzentrieren sich auf den Schmerz und die Angst des Mädchens. Das Ergebnis sind oft Porträtbilder, die teilweise auch schon die Trauer über den nicht mehr zu rettenden Vogel vorwegnehmen.
- Einige Werke stellen den Gegensatz zwischen dem Mädchen, das sich in der Blüte seiner Jahre befindet, und der toten oder sterbenden Krähe in den Mittelpunkt. Dies kann dadurch geschehen, dass die Lebendigkeit des Mädchens durch passende Attribute (rote, flackernde Haare, Mini-Kleid, Barfüßigkeit …) hervorgehoben wird oder die Krähe als übergroßer Vogel zu einer Allegorie des Todes stilisiert wird. Es gibt aber auch Werke, die das Sujet auf eine eher abstrakte Ebene heben und Leben und Tod durch charakteristische Farbunterschiede (rotes Mädchen vs. schwarze Krähe) voneinander absetzen.
- In anderen Fällen färbt die Trauer über die sterbende Krähe auch auf das Mädchen ab. Dann erscheint dieses selbst als vom Tod gezeichnet oder wird mit einem schwarzen Rock gezeigt, der an das Federkleid der Krähe erinnert.
- Schließlich gibt es auch den umgekehrten Fall, in dem eine übergroße Krähe als Trostspender erscheint. Die Hinwendung des Mädchens zu dem verletzten Vogel färbt dabei auf dessen Darstellung ab, so dass das Mitgefühl mit der leidenden Kreatur hier eine Art geistige Überwindung des Todes zu ermöglichen scheint.
Die große künstlerische Resonanz von Wiehes Lied mag auch damit zusammenhängen, dass dessen Metaphorik an archetypische Bilder rührt. So werden Rabenvögel in der Mythologie seit jeher mit dem Tod assoziiert, während Mädchen und junge Frauen als Symbole des aufblühenden Lebens erscheinen. So ist das Sujet auch schon früher in der Kunst verarbeitet worden. Berühmt ist etwa Pablo Picassos Bild „Frau mit Krähe“ aus dem Jahr 1904. Indem die Frau den Rabenvogel hier zärtlich auf den Kopf küsst, wird die innige Verbindung von Tod und Leben eindrücklich vor Augen geführt.
Die Besonderheit von Wiehes Herangehensweise an das Sujet liegt darin, dass der Sänger sich ausdrücklich mit dem verzweifelt um das Leben der Krähe rennenden Mädchen identifiziert: „Ich war’s, der auf dem Bild zu sehen war.“ Der Kinderglaube, „dass jemand existiert, / der Hilfe bringt und Antwort weiß“, ist dabei einerseits Antrieb, immerfort „dorthin zu laufen, wo es Schutz gibt und Wärme, / Gerechtigkeit und Wahrheit“. Andererseits steht dem das Wissen um die grundsätzliche Vergeblichkeit aller Bemühungen gegenüber: „Und ich bitte und ich flehe, auch wenn ich weiß, / im tiefsten Innern weiß: Es ist schon längst zu spät.“
Im Kern beschreibt Wiehe damit die Sisyphos-Natur des menschlichen Strebens: den absurden Versuch, Schutz zu finden für ein Leben, für das es keinen absoluten Schutz geben kann; ein Zuhause zu finden für ein unbehaustes Leben; vor etwas davonzurennen, das man wie eine dunkle Frucht im Leibe trägt. Auch „Gerechtigkeit und Wahrheit“ sind vor diesem Hintergrund immer nur relativer Natur. Absolute Gerechtigkeit kann es nicht geben, solange der Tod jederzeit den Lebensfaden abschneiden kann. Es gehört aber zum Mensch-Sein dazu, dieser Tatsache zu trotzen und dennoch unverdrossen den Idealen von menschlicher Wärme, Gerechtigkeit und Wahrheit nachzurennen.
Die erwähnten künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Thematik sind nicht gemeinfrei und können deshalb hier nicht abgebildet werden. Über die Eingabe des entsprechenden Stichworts (Flickan och kråkan / Bilder) in die Maske einer Suchmaschine sind sie jedoch leicht zu finden.
Mikael Wiehe: Flickan och kråkan; aus: Kråksånger (1981)
Freie Übertragung
Das Mädchen und die Krähe
An einem Tag wie so vielen anderen zuvor
saß ich da und las in der Zeitung.
Und ich träumte von all den vergangenen Träumen,
die einer nach dem anderen zerplatzt waren.
Da fiel mein Blick auf das Foto eines Mädchens,
eines Mädchens mit einer verwundeten Krähe im Arm.
Sie lief, so schnell sie konnte,
mitten durch das Dickicht eines Waldes.
Sie läuft mit ihren flatternden Locken,
sie läuft auf ihren dürren Beinchen.
Und sie fleht und sie bittet, sie hofft und sie glaubt,
dass es nicht schon zu spät ist für alles.
So klein ist das Mädchen, so blond ist sein Haar,
und eine flackernde Glut überzieht seine Wangen.
Schwer ist die Krähe und schwarz wie ein versteinertes Skelett.
Gleich wird der Tod seinen Mantel über sie breiten.
Das Mädchen aber rennt um sein Leben,
rennt für das Leben des sterbenden Vogels,
dorthin, wo es Schutz gibt und Wärme,
Gerechtigkeit und Wahrheit.
Und sie läuft, ein Funkeln in den Augen,
sie läuft auf ihren dürren Beinchen.
Denn sie weiß: Es ist wahr, was ihr Vater gesagt hat:
Solange es Leben gibt, ist es nicht zu spät.
Ein jäher Schreck durchzuckte meine Adern,
ich zitterte vor Angst und Schmerz.
Klar und deutlich stand es mir vor Augen:
Ich war’s, der auf dem Bild zu sehen war.
Meine Hoffnung ist eine verletzte Krähe,
und ich selbst bin ein rennendes Kind.
Ein Kind, das glaubt, dass jemand existiert,
der Hilfe bringt und Antwort weiß.
Und ich laufe mit pochendem Herzen,
ich laufe auf meinen dürren Beinchen.
Und ich bitte und ich flehe, auch wenn ich weiß,
im tiefsten Innern weiß: Es ist schon längst zu spät.
Über Mikael Wiehe
Mikael Wiehe ist einer der bedeutendsten schwedischen Singer-Songwriter. Der 1946 geborene Musiker hat mit zahlreichen Songs sein politisches Engagement zum Ausdruck gebracht. So hat er sich 1985 mit dem Lied Soweto an dem Protest schwedischer Künstler gegen das südafrikanische Apartheid-Regime (Svensk Rock mot Apartheid) beteiligt. Er ist außerdem öffentlich gegen das amerikanische Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba aufgetreten und engagiert sich in der Stiftung Artister mot nazister (Künstler gegen Nazis), die er seit 2001 leitet. Daneben hat Wiehe jedoch auch einige eher philosophische Lieder geschrieben, die allgemein um grundlegende Fragen der menschlichen Existenz kreisen.
English Version
A Visit to Uncle Death
11th door of the musical Advent calendar: Mikael Wiehe: Flickan och kråkan (The Girl and the Crow)
If you meet a bear on a bridge, greet him friendly and say „uncle“ to him – so says a Turkish proverb, also common in Russia: If something is stronger than you, you should get familiar with it. However, the most dangerous bear on the bridge of life is – death.
One of the drawings of the Swedish artist Oscar Cleve (1906 – 1991) shows a little girl hurrying to a veterinarian with a wounded crow. This work inspired the singer-songwriter Mikael Wiehe to write the song Flickan och kråkan (The Girl and the Crow).
Wiehe’s song was in turn a source of inspiration for a number of other artistic approaches to the subject. The drawings, paintings and photos differ in the accents they set:
- Some works are closely based on the original and focus on the girl’s hurry, her desperate attempt to be faster than death.
- Other pictures concentrate on the pain and fear of the girl. The results are often portraits, some of which already anticipate the mourning over the bird that cannot be saved.
- Some works focus on the contrast between the girl in the prime of her years and the dead or dying crow. This can be done by emphasising the girl’s vitality with appropriate attributes (red, fluttering curls, bare-footed, mini-dress …) or by depicting the crow as an oversized bird and thus as an allegory of death. There are, however, also works that lift the subject to a more abstract level and emphasise the contrast between life and death by characteristic differences in colour (red girl vs. black crow).
- In other cases, grief over the dying crow also rubs off on the girl. Then she herself appears as marked by death or is shown with a black skirt reminiscent of the crow’s plumage.
- Finally, there is also the opposite case, in which an oversized crow appears as a comforter. The girl’s turning to the injured bird in this case rubs off on the representation, so that compassion for the suffering creature seems to make possible a kind of spiritual overcoming of death.
The great artistic resonance of Wiehe’s song may also be related to the fact that its imagery touches on archetypal patterns. In mythology, ravens have always been associated with death, while girls and young women appear as symbols of blossoming life. In this way, the subject has also been treated in art before. Pablo Picasso’s famous painting „Woman with a Crow“ from 1904, for example, shows the intimate connection between death and life by the woman kissing the raven tenderly on the head.
The particularity of Wiehe’s approach to the topic is that the singer explicitly identifies with the girl running desperately for the life of the crow: „It was me who was shown in the picture.“ The child’s belief „that someone exists, / who brings help and knows the answer“, is on the one hand a motivation to constantly „run to where there is protection and warmth, / justice and truth“. On the other hand, this is countered by the knowledge of the fundamental futility of all efforts: „And I beg and I plead, although I feel / and know deep inside: it is long since too late“.
In essence, Wiehe thus describes the Sisyphus nature of human endeavour: the absurd attempt to find protection for a life that cannot be absolutely protected; to find a home for a homeless life; to run away from something that we carry in our womb like a dark fruit. In this context, even „justice and truth“ will always be relative. There can be no absolute justice as long as death can cut off the thread of life at any time. It is part of being human, however, to defy this fact and yet undauntedly run after the ideals of human warmth, justice and truth.
The pictures mentioned above are not in the public domain and therefore cannot be reproduced here. However, they can easily be found by entering the corresponding keyword (Flickan och kråkan / Images) in a search engine mask.
Mikael Wiehe: Flickan och kråkan; from: Kråksånger (1981)
Live (1981)
Free translation
The Girl and the Crow
On a day like so many others before
I sat there and read the newspaper.
And I dreamed of all those past dreams,
which had burst one by one.
That’s when my gaze fell on the photo of a girl,
of a girl with a wounded crow in her arms.
She ran as fast as she could
through the thicket of a forest.
She is running with her fluttering curls,
running on her skinny legs.
And she begs and she pleads, she hopes and she believes
that it is not too late.
The girl is so small, her hair is so blond,
and a flickering embers covers her cheeks.
The crow is so heavy and black like a petrified skeleton.
In a moment death will spread its cloak over it.
But the girl is running for the life,
running for the life of the dying bird,
to places where protection and warmth,
justice and truth can be found.
And she is running, a sparkle in her eyes,
running on her skinny legs
because she knows that what her father said is true:
As long as there is life, it is not too late.
A sudden shock went through my veins,
I trembled with fear and with pain.
It was all too plain to see:
the girl in the picture was me.
My hope is a wounded crow
and I am a running child.
A child who believes that someone exists,
who brings help and who knows the answer.
And I am running with a beating heart,
running on my skinny legs.
And I beg and I plead, although I feel
and know deep inside: it is long since too late.
About Mikael Wiehe
Mikael Wiehe, born in 1946, is one of the most important Swedish singer-songwriters. With many songs he has expressed his political commitment. In 1985, for example, he participated in the protest of Swedish artists against the South African apartheid regime (Svensk Rock mot Apartheid) with the song Soweto. He has also publicly expressed his opposition to the American prison camp Guantanamo in Cuba and is involved in the foundation Artister mot nazister (Artists against Nazis), which he has directed since 2001. In addition, Wiehe has written a number of more philosophical songs, which deal with fundamental questions of human existence in general.
Bilder / Pictures: Jaroslaw Grudzinski: Krähe auf einem Grabstein / Crow on a gravestone (Fotolia): Enrique Mesenguer: Gothic (Pixabay)
Elias
Sehr interessanter Post. Habe ich gerne gelesen. Was so ein Bilderbuchbild an Gedanken auslösen kann!
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Spinnradl-Sabine
Sehr spannende Hintergründe, die es bei dir zu Lesen und um die Ohren gibt.
Danke
Sabine vom 🕷 🕸
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rotherbaron
Danke, liebe Sabine😀
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