Flucht aus der Zukunft: 2. Rettung in höchster Not / Escape from the Future: 2. Last-Minute Escape

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Beinahe hätte Theo sein Ausflug in die Zukunft das Leben gekostet. Vor dem Hintergrund seines neuen Lebens in einem mittelalterlichen Kloster kommt ihm das ganz unwirklich vor.

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Samstag, 19. März 1485, abends

In diesem Kloster erscheint mir das, was ich vorgestern erlebt habe – oder vielmehr: in einer fernen Zukunft erlebt haben werde – vollends wie der Bilderreigen aus einem Drogenrausch. Ich muss mich selbst zwingen, an die Wirklichkeit der Ereignisse zu glauben. Vielleicht werden sie ja realer, wenn ich sie niederschreibe.

2. Rettung in höchster Not

Im Vergleich zum Vortag waren die Kontrollen an den Platzanweisersonden noch einmal deutlich verstärkt worden. Die Sanitätersoldaten warteten jetzt nicht nur in Zweierteams unter den Sonden, sondern standen entlang der Warteschlangen Spalier. Auch konnten die Passierstellen nicht mehr frei gewählt werden, sondern wurden einem durch die Uniformierten zugewiesen. So kam es, dass Schorsch und ich uns in unterschiedlichen Warteschlangen wiederfanden.
Alles in mir sträubte sich dagegen, die menschenunwürdige Behandlung über mich ergehen zu lassen. Zwar hatte ich nur eine eingeschränkte Sicht auf die Kontrollstellen. Dennoch entging mir nicht, dass heute noch wesentlich mehr Personen als am Vortag Opfer der ganz speziellen Methode wurden, mit der man hier Epidemien bekämpfte. Der Haufen mit grauen Säcken, in denen die Erkrankten nach der Spritzenbehandlung verstaut wurden, hatte schon eine furchteinflößende Höhe erreicht.
Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass das alles durch eine veränderte Weichenstellung in der Vergangenheit ungeschehen gemacht werden könnte. Vielleicht war Schorschs Plan ja doch nicht so unrealistisch, wie er mir zunächst vorgekommen war.
Aber war das Leid, dessen Zeuge ich hier werden musste, deshalb weniger real? Erschuf es nicht seine eigene Wirklichkeit, die selbst als Alptraum unerträglich gewesen wäre? Und hätte ich dem Geschehen dann nicht in irgendeiner Weise Einhalt gebieten müssen?
Aber wie hätte ich das tun sollen? Welche Mittel standen mir schon zur Verfügung, um mich gegen diese automatenhaften Spürhunde zur Wehr zu setzen? Schließlich waren die Spritzen mit Sicherheit nicht ihre einzigen Waffen! Ansonsten würden hier, sagte ich mir, kaum alle wie Lämmer der Schlachtbank entgegentrotten.
Ich hielt nach Schorsch Ausschau. Von meiner Position aus konnte ich nur undeutlich erkennen, wie er sich im Pulk der anderen weiterschob. Erst als wir uns den Prüfstellen näherten, hatte ich wieder freie Sicht auf ihn. Er stand etwas weiter vorne in seiner Reihe. Kurz darauf sah ich, wie er auf die roboterhaften Sanitäter zuschritt.
Dann geschah etwas Merkwürdiges. Schorsch hielt kurz vor der Kontrollstelle inne und gestikulierte wild mit seinen Händen. Dabei redete er intensiv auf die Sanitätermumien ein.
Da ich zwei Reihen von ihm entfernt stand, konnte ich nicht verstehen, was er sagte – und vor allem: in welcher Sprache er überhaupt redete. Hatte er sich etwa einen von diesen Lernhelmen aufgesetzt und sich von ihm einen Blitzkurs in der fremden Sprache ins Hirn brennen lassen? Oder hatte er einfach hier und da ein paar Wortfetzen aufgeschnappt, von denen er glaubte, dass er sich mit ihnen verständlich machen könnte? Aber was wollte er damit bewirken? Welche Botschaft versuchte er da mit solchem Eifer an die stummen Krankheitswächter heranzutragen?
Die beiden Sanitäter an Schorschs Teststelle waren offenbar genauso verdutzt wie ich. Eine Zeit lang sahen sie Schorschs Kasperletheater schweigend zu, dann taten sie einen bedrohlichen Schritt auf ihn zu.
Im selben Moment leuchtete die Platzanweisersonde vor mir auf: Ich war an der Reihe! Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich auf die beiden Testautomaten auf zwei Beinen zuschritt. Ich ging mittlerweile zwar davon aus, dass die Handsonden bei mir keinen Erregerbefall anzeigen würden – schließlich waren Schorsch und ich gegen die Keime offenbar immun. Aber was, wenn ich mich meinerseits mit einem Erreger angesteckt hätte, gegen den die Menschen in dieser Kegelstadt immun waren?
Die Prozedur hatte ich am Vortag ja schon einmal über mich ergehen lassen müssen. Auch hatte ich sie schon unzählige Male bei anderen beobachtet. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb – stockte mir der Atem, als die Handsonde sich meinem Körper näherte und ihn unerbittlich abzutasten begann.
Ich sah noch einmal zu Schorsch herüber. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie er den Sanitätersoldaten einen Arm entgegenstreckte, während er mit dem anderen auf etwas wies, das die beiden an ihrem Schutzanzug trugen. Irgendetwas schien er in der Hand zu halten. Waren das nicht seine Magentropfen? Aber was wollte er damit ausrichten?
Was dann geschah, war eine Sache von Sekunden. Die Handsonde an meinem Körper gab ein surrendes Geräusch von sich. Fast gleichzeitig schlossen sich zwei greifzangenartige Hände um meine Oberarme, während die Handsonde gegen eine Spritze ausgetauscht wurde.
Ich wusste nur zu genau, was das bedeutete. Ein Bohrer würde ein Loch in meinen Schutzanzug fräsen, damit die Spritze in meine Haut stechen könnte. Einen Augenblick später würde ich mein Leben in einem Kunststoffsack aushauchen.
Nichts anderes wäre wohl auch passiert – wenn nicht Schorsch in genau diesem Augenblick an seiner Prüfstelle einen Tumult ausgelöst hätte. Was genau dort passierte, konnte ich in meiner Lage nicht erkennen. Ich sah nur, dass er offenbar in ein Handgemenge verwickelt war, aus dem er sich gerade noch rechtzeitig befreien konnte.
„Abflug!“ hörte ich ihn rufen. „Heimreise in die Gegenwart!“
Das allein hätte gegen die Greifarme der Sanitätersoldaten sicher nicht das Geringste ausrichten können. Was mir half, war vielmehr deren Verblüffung, ihr erstauntes Herüberschauen zu der ungewöhnlich heftigen Gegenwehr gegen die Entsorgungsroutine. So brachte ich mit letzter Kraft eine Hand an die Notfalluhr. Dies dürfte die Verwunderung meiner Henker in spe noch einmal gesteigert haben. Denn für sie muss ich mich bei meinem Sprung aus der Zeit einfach in Luft aufgelöst haben!
Ich selbst habe mich dabei erneut gefühlt, als würde ich mit Schallgeschwindigkeit in die Stratosphäre aufsteigen und dann gleich wieder auf die Erde zurückstürzen. Danach war ich so benommen, dass ich lange keinen klaren Gedanken fassen konnte. Es dauerte einige Zeit, bis ich rekonstruieren konnte, was geschehen sein musste. In der Hektik hatte ich das Rad an der Notfalluhr offenbar zweimal zurückgedreht. So war ich um zwei Intervallschritte in die Vergangenheit zurückversetzt worden, also um volle tausend Jahre. Ich war im Jahr 1485 gelandet!

English Version

Escape from the Future: 2. Last-Minute Escape

Theo’s trip into the future almost cost him his life. Considering his new life in a medieval monastery, this seems quite unreal to him.

Saturday, March 19, 1485, evening

In this monastery, what I experienced the day before yesterday – or rather: what I will have experienced in a distant future – seems to me completely like the flood of images from a drug high. I have to force myself to believe in the reality of the events. Maybe they will become more real when I write them down.

Last-Minute Rescue

Compared to the previous day, the controls at the place-assigning probes had once again been significantly intensified. The paramedic soldiers were now not only waiting in two-person teams under the probes, but were also lined up along the queues. Moreover, the checkpoints could no longer be chosen freely, but were assigned to everyone by the uniformed personnel. As a result, Shorsh and I had to stand in different queues.
Everything in me resisted undergoing the inhumane treatment. Although I only had a limited view of the checkpoints it did not escape my attention that many more people today fell victim to the very special method used to fight epidemics here. The pile of grey sacks in which the sick people were stowed after the injection treatment had already reached a frightening height.
I tried to calm myself with the thought that all this could be undone by a change of course in the past. Maybe Shorsh’s plan was not as unrealistic as it had seemed to me at first.
But was the suffering I had to witness here any less real because of that? Did it not create its own reality, which would have been unbearable even as a nightmare? And wouldn’t I then have to put a stop to what was happening in some way?
But how should I have done that? What means did I have at my disposal to oppose these automaton-like sleuths? After all, the syringes were certainly not their only weapons! Otherwise, I said to myself, the people here would hardly obey the orders like lambs on their way to the slaughter.
I tried to spot Shorsh in the crowd. From my position, I could only vaguely make out how he moved on in his queue. It wasn’t until we approached the checkpoints that I had a clear view of him again. He was standing a little further forward in his line. Shortly after, I saw him walking towards the robotic paramedics.
Then something strange happened. Shorsh stopped just before the checkpoint and gestured wildly with his hands. As he did so, he spoke intensely to the paramedic mummies, as if to convince them of something.
As I was standing two lines away from him, I couldn’t understand what he was saying – and above all: in which language he was speaking at all. Had he put on one of those learning helmets and let it burn a crash course in the foreign language into his brain? Or had he simply picked up a few scraps of words here and there by which he hoped to communicate? But what was the point of his torrent of words? What message was he trying to convey to the mute disease guards with such zeal?
The two paramedics at Shorsh’s checkpoint were obviously just as baffled as I was. For a while they watched Shorsh’s Punch and Judy show in silence, then they took a threatening step towards him.
At the same moment, the place-assigning probe in front of me lit up: It was my turn! My heart was pounding as I walked towards the two testing machines on two legs. Basically, I expected the hand probes to show no pathogen infestation in my case – after all, Shorsh and I were obviously immune to the germs. But what if I, in turn, had contracted a pathogen to which the people in this cone town were immune?
I had already undergone this procedure the day before, and I had observed it countless times with others. Nevertheless – or maybe just because of this – my breath caught as the hand probe approached my body and began to scan it relentlessly.
I looked over at Shorsh once again. Out of the corner of my eye I could see him holding out one arm to the paramedics while pointing with the other to something they were wearing on their protective suits. It looked like he was holding something in his hand. Wasn’t that the vial with his stomach drops? But what purpose was he pursuing with it?
What happened next was a matter of seconds. The hand probe on my body made a whirring sound. Almost simultaneously, two pincer-like hands closed around my upper arms while the hand probe was exchanged for a syringe.
I knew all too well what this meant. A drill would cut a hole in my protective suit so that the syringe could pierce my skin. A moment later I would breathe my last in a plastic bag.
That’s exactly what would have happened – if Shorsh hadn’t caused a commotion at his checkpoint at that very moment. Trapped as I was, I could not make out what precisely was happening there. I only saw that he was apparently involved in a scuffle from which he managed to free himself just in time.
„Departure!“ I heard him shout. „Return to the present!“
That alone would certainly not have helped to loosen the grasping arms of the paramedic soldiers. What saved me was rather their amazement, their astonished look over at the unusually fierce resistance to the disposal routine. So with the last of my strength I managed to reach for the emergency clock. This might have increased the astonishment of my would-be executioners even more. Because for them, I must have simply vanished into thin air when I set off on my leap through time!
I myself felt again as if I were ascending into the stratosphere at the speed of sound and then immediately crashing back down to earth. Afterwards I was so dazed that I couldn’t think clearly for a long time. It took me quite a while to understand what must have happened. In the rush, I had apparently turned the wheel on the emergency watch back twice. So I had been hurled back into the past by two interval steps, that is, by a full thousand years. I had landed in the year 1485!

Bilder / Images: Enrique Meseguer: Die Todesmaschine / Death Maschine (Pi­xabay); Thierry Rimbault: Der Tod als Sensenmann in einer Kirche / Death as a grim reaper in a church (Pixabay)

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