Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Theo musste aus der Zukunft fliehen! Da er das Rad der Notfalluhr versehentlich zweimal gedreht hat, befindet er sich nun im Jahr 1485.
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Samstag, 28. (19.) März 1485
Puh, war das alles knapp! Zweimal hat mir der Tod auf die Schulter geklopft, und zweimal bin ich ihm nur um Haaresbreite entwischt.
Vorgestern wäre ich fast in den zweifelhaften Genuss der Todesspritze gekommen. Und gestern hätte ich, wenn es dumm gelaufen wäre, leicht auf dem Scheiterhaufen landen können. Schließlich fand ich mich auf einmal als eine Art extraterrestrisches – beziehungsweise extratemporäres – Spukwesen in einem mittelalterlichen Kloster wieder.
Vorgestern? Gestern? Mein Vorgestern liegt 1000 Jahre in der Zukunft – und mein Gestern ist, von meiner einstigen Gegenwart aus betrachtet, 500 Jahre her!
Hinzu kommt: Beides wird vielleicht nie gewesen sein! Wenn Schorsch mit seinen Plänen Erfolg hat, werde ich weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft gewesen sein. Alles, was in jenen fernen Zeiten, die mir auf einmal so nahe sind, mit mir zusammenhängt, wird einfach aus dem Buch der Zeit gestrichen werden. Oder etwa nicht? Wird es dann zwei parallel zueinander verlaufende Zeitstrahle geben?
Verrückt! Unvorstellbar! Und doch ist es meine Realität.
Einen zusätzlichen Zeitsprung verdanke ich dem Kalender. Den Extra-Salto rückwärts von zehn Tagen habe ich zunächst auf eine Ungenauigkeit der Notfalluhr zurückgeführt. Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran erinnert habe, dass die Gregorianische Kalenderreform, von meiner neuen Gegenwart aus gerechnet, noch fast 100 Jahre auf sich warten lassen wird.
1. Ein verrückter Plan
Aber der Reihe nach! Als ich „vorgestern“ das Appartement in den Ruhehäusern verlassen musste, wartete unten auf dem Platz schon Schorsch auf mich.
„Na, du Alien?“ begrüßte er mich, auf unsere futuristische Schutzkleidung anspielend.
„Na, du Zombie?“ frotzelte ich zurück. „Wieso hast du dich denn nicht auf dem Monitor gemeldet? Ich dachte, wir wollten heute Morgen unseren Abflug von hier besprechen.“
„Mir ist da eine Idee gekommen, wie wir unsere Antikriegs-Aktion vielleicht doch noch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen können“, eröffnete er mir. „Dafür brauche ich hier noch ein klein wenig Zeit.“
Das Mikro an seinem Schutzhelm verlieh seiner Stimme einen roboterhaften Klang. Hatte ich ihn vielleicht falsch verstanden? „Wie bitte?“ rief ich aus. „Hast du verdrängt, wo wir uns gerade befinden? Wie willst du denn von hier aus ein Geschehen beeinflussen, das 500 Jahre zurückliegt?“
„Vergiss nicht“, entgegnete Schorsch unbeirrt, „dass unsere Zeitreisen-Uhr in festen Intervallen tickt, wenn man so sagen darf. Wenn wir sie jetzt erneut betätigen, wird sie uns also genau in jenen Moment zurückschicken, von dem aus wir in die Zukunft aufgebrochen sind.“
„Ja – und? “ fragte ich. „Genau das ist doch das Problem! Du landest genau in derselben Situation, vor der du in die Zukunft geflohen bist. Dann kannst du doch gleich hierbleiben!“
In dem Augenblick erhoben sich auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes diejenigen in die Lüfte, für die es nun Abend war. Höchste Zeit für uns, ebenfalls das Mini-Triebwerk auf unserem Rücken in Gang zu setzen!
Unwillkürlich rückte Schorsch näher, als er den Flugmenschenschwarm auf uns zukommen sah. Fast wäre sein Schutzhelm gegen meinen gestoßen. „Wir müssen ja nicht dieselben Fehler noch einmal machen“, gab er zu bedenken. „Jetzt wissen wir doch, was auf uns zukommt. Also können wir uns auch ganz anders darauf vorbereiten!“
„Das mag ja sein“, räumte ich ein. „Aber das ändert doch nichts daran, dass unsere Gegner uns haushoch überlegen sind – und den Ablauf der Aktion genau kennen. An ein paar kleinen Stellschrauben zu drehen, bringt uns da auch nicht weiter.“
„Lass mich nur machen“, raunte Schorsch mir noch zu, während schon die ersten Flugmenschen neben uns landeten. „Aber merk dir: Auf mein Zeichen lässt du die Notfalluhr den Rückwärtsgang antreten! Also dann: Wir sehen uns in der Gegenwart!“
Damit betätigte er wie ich den Knopf, durch den die Flugdüse an unserem Rücken das Startsignal erhielt. Wenige Sekunden später landeten wir auf der anderen Seite des Platzes, wo es – um es in der Sprache meiner neuen Zeit-Heimat auszudrücken – Gott zum ersten Mal gefiel, mich den Fängen des Todes zu entreißen.
English Version
Escape from the Future: 1. A Crazy Plan
Theo had to escape from the future! Because he accidentally turned the wheel of the emergency watch twice, he now finds himself in the year 1485.
Saturday, March 28 (19), 1485
Phew, that was pretty close! Twice death tapped me on the shoulder, and twice I escaped just by a hair’s breadth.
The day before yesterday I almost had the dubious pleasure of the lethal injection. And yesterday, if things had gone badly, I could easily have ended up on the funeral pyre. After all, I had suddenly turned into some kind of extraterrestrial – or rather extratemporal – phantom in a medieval monastery.
The day before yesterday? Yesterday? My day before yesterday lies 1000 years in the future – and my yesterday, seen from my former present, is 500 years ago!
On top of that, both my yesterday and my futuristic day before yesterday will perhaps never have been! If Shorsh succeeds with his plans, I will have been neither in the past nor in the future. Everything connected with me in those distant times that are suddenly so close to me will simply be erased from the book of time.
Or am I wrong here? Would Shorsh’s intervention result in two parallel timelines?
Crazy! Unimaginable! And yet this is my reality.
An additional leap in time is due to the calendar. I initially attributed the extra ten-day somersault backwards to an inaccuracy in the emergency watch. It took me a while to remember that the Gregorian calendar reform, calculated from my new present, still lies almost 100 years ahead.
1. A Crazy Plan
But let’s take it one step at a time! When I had to leave the apartment in the recreation houses „the day before yesterday“, Shorsh was already waiting for me in the square below.
„Hey little alien!“ he greeted me, alluding to our futuristic protective clothing.
„Hey Mr. Zombie!“ I teased back. „Why didn’t you contact me on the monitor? I thought we had planned to discuss our departure from here this morning.“
„I’ve had an idea about how we might be able to bring our anti-war action to a successful conclusion after all,“ he revealed to me. „For that, I need a little more time here.“
The mike on his hard hat gave his voice a robotic sound. Had I perhaps misunderstood him? „Excuse me?“ I shouted. „Have you forgotten where we are right now? How are you going to influence from here an event that happened 500 years ago?“
„Don’t forget,“ Shorsh replied unperturbed, „that our time-travel clock ticks at fixed intervals, if I may say so. So if we press it again now, it will send us back to the exact moment from which we set off into the future.“
„But that’s precisely the problem!“ I objected. „You would end up in the exact same situation from which you escaped into the future. Then you might as well stay here!“
At that moment, those on the opposite side of the square, for whom it was now evening, took off into the air. High time for us to start the mini-engine on our backs as well!
Involuntarily, Shorsh moved closer when he saw the swarm of flying people coming towards us. His safety helmet almost bumped against mine. „We don’t necessarily have to make the same mistakes again,“ he pointed out. „Now we know what’s ahead of us. So we might as well prepare ourselves differently!“
„That may be so,“ I conceded. „But it doesn’t change the fact that our opponents are vastly superior to us – and that they know exactly what our plans are. So adjusting a few small screws won’t get us any further.“
„Let’s just try it,“ Shorsh whispered to me, while the first flying people were already landing next to us. „But remember: on my signal, you put the emergency watch in reverse! Well then: See you in the present!“
With that, he, like me, pressed the button that gave the take-off signal to the flight engine at our backs. A few seconds later we landed on the other side of the square, where – to put it in the language of my new „home time“ – it pleased God for the first time to rescue me from the clutches of death.
Bilder / Images: Pete Linforth (TheDigitalArtist): Traum-Uhr / Dream clock (Pixabay); Brigitte Werner (ArtTower): Astronomie / Astronomy (Pixabay)
Elias
Spannend!!!!!
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