Der Vagabund als konkreter Utopist / The Vagabond as a Concrete Utopian

Zu Jura Soyfers Vagabundenliedern / On Jura Soyfer’s Vagabond Songs

Im Bild des Vagabunden fasst der ukrainisch-österreichische Dichter Jura Soyfer seine Vorstellung von Utopie zusammen: Der Weg zu ihr führt zwar von der bestehenden Ordnung weg, muss aber auf diese bezogen bleiben, um nicht eskapistisch zu werden.

English Version

Vagabundenlied

Der Sommer ist verglommen,
der Herbst hat ausgeweint,
nun ist der Winter kommen,
der bitterböse Feind.
Die Erde liegt im Leichenhemd
und war einst jung und bunt.
Was suchst Du noch, Du bist hier fremd,
mein Bruder Vagabund.

Wie springt dir an die Waden
der scharfe Winterwind,
Du bist nicht eingeladen,
wo sie besoffen sind.
Dich ruft kein Wirt zum heißen Punsch
um Sankt Silversters Stund‘:
Ein Rabe krächzt den Neujahrswunsch,
mein Bruder Vagabund.

Und wär der Himmel droben
von Samt und von Brokat
und Sternlein eingewoben,
ein jedes ein Dukat,
wär keiner, der die Leiter stellt,
dass man sie holen kunnt.
So ist die Zeit, so ist die Welt,
mein Bruder Vagabund.

aus dem Theaterstück Astoria (1937); darin ohne Titel.

Vertonung (unter dem Titel Wanderlied) von der Band Schmetterlinge (aus dem Album Verdrängte Jahre, 1981):

Ungebundenheit vs. Unbehaustheit

Das Vagabundendasein hat im geistigen Kosmos Jura Soyfers zwei unterschiedliche Konnotationen. Es steht zum einen für das ungebundene Leben, den bewussten Austritt aus einer Ordnung, die, wie Soyfer in seinem Lied von der Ordnung kritisiert, nur um ihrer selbst willen da ist. Anstatt dem Menschen zu dienen, wird dieser zum Diener einer scheinbar gottgegebenen Ordnung herabgewürdigt:

„Eine Ordnung gibt’s auf dieser Welt,
sie ist da, damit wir sie nicht stören“
[1]

Auf der anderen Seite steht das Vagabundendasein aber auch für ein Leben außerhalb oder am Rande der Gesellschaft, für die Abwesenheit aller Sicherheiten, die ein geregeltes Leben bieten kann. Dieser Aspekt steht in Soyfers oben wiedergegebenem Vagabundenlied im Vordergrund. Der Sommer ist vorbei, nun bricht der Winter an, in dem Not und Mangel viel stärker zu spüren sind.

Dies kann durchaus wörtlich verstanden werden. Es lässt sich aber auch auf den kurzzeitigen Rausch des ungebundenen Lebens beziehen, auf den ein umso längerer Kater folgt, in dem Arbeits-, Obdach- und Mittellosigkeit sich schmerzhaft bemerkbar machen.

„Astoria“ oder Die Sterne bleiben unerreichbar

In seinem Einakter Astoria (1937; 2),in dem das Vagabundenlied als eine Art Präludium am Anfang steht, hat Soyfer die beiden Aspekte des Vagabundendaseins – das Ungebundensein und das Unbehaustsein – eng aufeinander bezogen.

Wie in dem Vagabundenlied die Sterne als ein unerreichbares Land innerer und äußerer Fülle erscheinen, das durch keine Leiter der Welt zu erreichen ist, erinnert auch der Titel des Stücks Astoria an „astra“, das lateinische Wort für „Sterne“. „Astoria“ steht denn auch in dem Stück für die Utopie einer Welt, in der die Menschen sich nicht mehr „aus Unglück, sondern aus Glück“ betrinken [3]; einer Welt, in der es friedlicher und gerechter zugeht.

Die Sterne bleiben freilich auch hier unerreichbar. Das Utopia, für das sie stehen, ist nichts als „ein Traum der Nacht“, ein „lichte[r] Traum der Armen“, der im Licht der Realität verblasst wie die“ Sterne, unsre Brüder“. Der Himmel, eben noch ein Kosmos unbegrenzter Möglichkeiten, senkt sich bei Tage nieder

„als eine bleiern graue Last (…).
Der Mensch erwacht in seinem Leid
zum Mord und zum Gebete.
Der Atem einer kranken Zeit
geht keuchend durch die Städte.“
[4]

Die Utopie als Regulativ für gesellschaftsveränderndes Handeln

Das Besondere an Soyfers Stück ist es, dass es einerseits die Utopie einer besseren Welt ausmalt und ihre Berechtigung verteidigt, andererseits aber deutlich  macht, dass das Utopia stets nur ein Regulativ sein darf, ein Ideal, an dem die konkrete Realität gemessen werden muss. Die Abwendung von dieser würde aus utopischem Hoffen Eskapismus machen.

Die adäquate Antwort auf die Unvollkommenheit der Welt kann deshalb kein dauerhafter Ausstieg aus den gegebenen Verhältnissen sein. Das Vagabundendasein sieht Soyfer folglich nur als Zwischenschritt an, als eine Möglichkeit, Distanz zu gewinnen und sich die Ziele des Engagements für gesellschaftliche Veränderungen klarer vor Augen zu führen. In diesem Sinne heißt es in dem abschließenden zweiten Vagabundenlied:

„Dort ist das Land, das dir gehört,
auf diesem Erdenrund.
Such nicht Astoria,
mein Bruder Vagabund.“
[5]

Nachweise

[1]  Vgl. Jura Soyfer: Das Lied von der Ordnung; Erstveröffentlichung in der Arbeiter-Zeitung vom 3. Juli 1932.

[2]  Vgl. Jura Soyfer: Astoria (1937); online abrufbar im Projekt Gutenberg. Eine Hörspielfassung des Stücks mit Musik von Klaus Sonnenburg hat 1979 Amido Hoffmann für den Schweizerischen Rundfunk (SRF) erstellt.

[3]  Ebd., Viertes Bild.

[4]  Ebd.

[5]  Ebd., Siebentes Bild.

Beitrag zu den historischen Hintergründen der Vagabundenlyrik auf rotherbaron:

Vagantendichtung und Vagabundenlyrik. Eine Urahnin der Kabarettlyrik und ihre modernen Entsprechungen

English Version

The Vagabond as a Concrete Utopian

On Jura Soyfer’s Vagabond Songs

In the image of the vagabond, the Ukrainian-Austrian poet Jura Soyfer sums up his idea of utopia: The path to utopia leads away from the existing order, but must remain related to it in order not to become escapist.

Vagabond Song

Summer has faded away,
autumn has wept its tears,
now winter has come,
the fierce and bitter enemy.
The earth, once young and colourful,
is now covered with a shroud.
So what are you still looking for?
You are a stranger here,
my Brother Vagabond.

How the sharp winter wind
is pouncing on your heels!
You are not welcome
at their drinking bouts.
No innkeeper invites you to a punch
on Saint Sylvester’s Day.
A raven caws your New Year’s wish,
my Brother Vagabond.

Even if the sky above
were of velvet and brocade,
with starlets woven into it,
each one a golden coin,
there’d be no ladder long enough
to fetch them.
Such is the time, such is the world,
my Brother Vagabond.

Jura Soyfer: Vagabundenlied; Poem as a prelude to the play Astoria (1937); here without title

Musical setting (under the title Wanderlied) by the band Schmetterlinge (Butterflies) (from the album Verdrängte Jahre – Suppressed Years, 1981)

The Ambivalent Freedom of the Vagabond

Being a vagabond has two different connotations in Jura Soyfer’s spiritual cosmos. On the one hand, it stands for the unbound life, the conscious withdrawal from an order that, as Soyfer criticises in his Lied von der Ordnung (Song of Order), is only there for its own sake. Instead of serving humans, they are degraded to servants of an ostensibly God-given order:

There is an order in this world,
it’s there so we don’t disturb it“
[1]

On the other hand, being a vagabond also stands for a life outside or on the fringes of society, for the absence of all the security that a regular life can offer. This aspect is in the foreground in Soyfer’s Vagabond Song reproduced above. Summer is over, now winter is dawning, in which hardship and misery are felt much more strongly.

This can certainly be understood literally. But it can also refer to the brief frenzy of the unbound life, followed by a long hangover, in which the lack of work, shelter and other necessary resources becomes painfully noticeable.

„Astoria“ or The Stars Remain Out of Reach

In his one-act play Astoria (1937; 2), in which the Vagabond Song stands as a kind of prelude at the beginning, Soyfer closely related the two aspects of a vagabond’s existence – being unbound and being unhoused.

Just as in the Vagabond Song the stars appear as an unreachable land of inner and outer fulfillment that cannot be reached by any ladder in the world, the title of the play Astoria is also reminiscent of „astra“, the Latin word for „stars“. In the play, „Astoria“ stands for the utopia of a world in which people no longer get drunk „out of misfortune, but out of happiness“ [3]; a more peaceful and just world.

The stars, of course, remain unreachable here as well. The utopia they represent is nothing but „a dream of the night“, a „bright dream of the poor“ that fades in the light of reality like the „stars, our brothers“. The sky, a minute ago still a cosmos of unlimited possibilities, falls down by day

„as a leaden grey burden (…).
Man awakens in his suffering
to murder and to prayer.
The breath of a sick time
blows wheezing through the cities.“ 
[4]

Utopia as a Resource for Socially Transformative Action

What is special about Soyfer’s play is that on the one hand it depicts the utopia of a better world and defends its legitimacy, but on the other hand emphasises that utopia can only ever be a regulatory aspect, an ideal against which the actual reality must be measured. Turning away from reality would transform utopian hope into escapism.

The adequate answer to the imperfection of the world can therefore not be a permanent withdrawal from the given circumstances. Consequently, Soyfer sees being a vagabond only as an intermediate step, as a way of gaining distance and becoming clearer about the goals of social change. In this sense, the concluding second Vagabond Song states:

„Here, on this earth,
is the land that belongs to you.
Do not search Astoria,
my Brother Vagabond.“ 
[5]

References

[1]  Cf. Jura Soyfer: Das Lied von der Ordnung (The Song of Order) first published in the Arbeiter-Zeitung (Workers‘ Newspaper) on July 3, 1932.

[2]  Cf. Jura Soyfer: Astoria (1937); available online in the Gutenberg Project. A radio play version of Astoria with music by Klaus Sonnenburg was created by Amido Hoffmann for Swiss Radio (SRF) in 1979.

[3]  Ibid., Scene 4 (Viertes Bild).

[4]  Ibid.

[5]  Ibid., Scene 7 (Siebentes Bild).

Bilder / Images:

László Mednyánszky (1852 – 1919): 1. Ausgestoßen (nach 1898) / Down-and-out (after 1898); Wikimedia Commons, 2. Vagabund bei einer Nachtwanderung (zwischen 1875 und 1895) / Vagabond walking at night (between 1875 and 1895); Wikimedia Commons

3 Antworten auf „Der Vagabund als konkreter Utopist / The Vagabond as a Concrete Utopian

  1. Pingback: Vagantendichtung und Vagabundenlyrik – rotherbaron

  2. Thomas Bulhaupt

    Das sind sehr starke Texte, die dieser damals so junge Mensch geschrieben hat. Mir war er gar nicht bekannt, obwohl er in Österreich wohl schon berühmt ist. Mich hat auch der Satz: „Eine Ordnung gibt’s auf dieser Welt, sie ist da, damit wir sie nicht stören. “ sehr beschäftigt. Damals gab es noch keine Digitalisierung und dennoch war das schon angelegt, was wir jetzt bekommen: Krankenhäuser, Behörden, ja sogar Bildungseinrichtungen sind nicht da, um das Leben der Menschen zu erleichtern und zu verbessern, sondern um „wie am Schnürchen“ zu laufen. Wehe du stellst eine Frage, du fügst dich nicht oder verstehst eine Regel nicht, dann wirst du entweder als renitent oder doof abgestempelt. Der Blick auf den Menschen als Subjekt verschwindet in einer Maschinerie, in der es um Effizienz, Output und reibungslose Abläufe geht. Der Mensch, das Subjekt als „Störfaktor“. Der Vagabund entzieht sich dieser Ordnung, um ganz als Mensch und nicht als Rädchen im Getriebe zu leben … und bezahlt mit „Unbehaustsein“, Armut und Schutzlosigkeit. Wo ist der Mittelweg?

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