Mühsam orientiert sich Theo in der neuen Zeit. Wie er sich in seinem futuristischen Aufzug dort bewegen soll, bleibt ihm allerdings ein Rätsel.
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Sonntag, 20. März 1485
Da sitze ich nun also schon wieder in so einer engen Kammer. Fast fühlt es sich an, als wäre ich nur von einem Gefängnis in ein anderes transferiert worden. Ich sehne mich nach Wanderungen über freies Feld, mit unbegrenztem Blick auf immer neue Hügelketten, berauscht vom pulsierenden Atem der Vogelschwärme, dem instinktsicheren Gleichklang ihres Flügelschlags.
Seltsam … Einerseits möchte ich davonlaufen, ziellos durch die Welt streifen, mein Zuhause im Unterwegssein finden. Und andererseits sehne ich mich nach einem festen Halt, letztlich genau nach einem Ort wie diesem, wo ich zur Ruhe kommen kann. Ich möchte vor Anker gehen, ohne festgebunden zu sein.
Wahrscheinlich zeigt mir der ständige Wechsel der Zeiten und Orte einfach überdeutlich, dass ich mir selbst nicht entfliehen kann: So sehr sich das Äußere auch ändert, ich selbst bleibe mir doch immer gleich. Und parallel zu dieser Einsicht wächst der Wunsch, vor mir selbst davonzulaufen, ein Anderer sein zu können, wenigstens der Möglichkeit nach.
1. Die Gegenwart im Gewand der Vergangenheit
Bei meiner Ankunft hier habe ich zuerst gedacht, ich wäre in der Gegenwart gelandet – das heißt in der Zeit, die früher meine Gegenwart war. Denn bei dem Kloster, in dem ich gelandet bin, handelt es sich offensichtlich um dasselbe, in dem jetzt (bzw. später einmal) die Dunkelmänner ihre Zusammenkünfte abhalten (werden).
Als ich mich aber in der Kammer, wo ich mich auf dem Bett liegend wiederfand, genauer umsah, wurde mir schnell klar: Das Kloster mochte wohl dasselbe sein. Die Zeit aber war eine andere.
Zwar hatten die Dunkelmänner das von ihnen gepachtete Kloster nie aufwändig renovieren lassen. Mit seiner einfachen Holzausstattung, den kleinen Räumen und der schlichten Einrichtung wirkte es für seine Zeit recht altmodisch. Es gab jedoch auf jeder Etage ein Bad, es waren Stromleitungen verlegt worden, und die Fenster waren natürlich verglast.
In der Kammer, in der ich mich befand, waren dagegen nirgends Steckdosen oder Lichtschalter zu sehen. Stattdessen erblickte ich auf dem Tisch die kümmerlichen Reste eines Talglichts, und die Fenster waren nur im oberen Teil mit Butzenscheiben versehen, ansonsten aber unverglast. Die Fensterläden hatte jemand zum Lüften aufgeklappt, wodurch es in dem Zimmer empfindlich kalt war. Hinzu kam, dass das Bett für Liliputaner gemacht zu sein schien. Es war so klein, dass meine Beine zur Hälfte überhingen.
Den Kessel, der an dem Wandbord in der linken Zimmerecke an einer Eisenkette hing, hatte ich anfangs für einen Teekessel gehalten. Bei näherem Hinsehen erkannte ich jedoch, dass er zu beiden Seiten über eine Gießvorrichtung verfügte. Außerdem hing er über einer Schale, die offenbar dem Auffangen des ausgegossenen Wassers diente. So wurde mir klar, dass es sich nicht um einen Tee-, sondern um einen Handwaschkessel handeln musste, wie ich ihn schon einmal in einem Museum für Alltagskultur gesehen hatte. Allem Anschein nach war ich also tatsächlich im Jahr 1485 gelandet.
Und jetzt? Wie sollte ich mit dieser Situation umgehen?
Gut, immerhin war ich im Inneren eines Gebäudes gelandet. So entging ich dem Skandal, der angesichts meines Aufzugs kaum zu vermeiden gewesen wäre, wenn ich mich etwa auf einem Marktplatz wiedergefunden hätte – zumal dort auch meine Schattenlosigkeit viel eher aufgefallen wäre.
Auf der anderen Seite stand mir so natürlich ein noch viel größerer Skandal bevor. Schließlich konnte der Mönch, der die Kammer bewohnte, jeden Moment zurückkehren. Und wie sollte ich dann meine Anwesenheit in der fremden Klosterzelle erklären? Ich konnte mich ja wohl kaum damit herausreden, dass ich mich „in der Zeit geirrt“ hätte!
In meiner ehemaligen Gegenwart hätte ich die Möglichkeit gehabt, mich als Außerirdischer auszugeben – eine Behauptung, die durch die Flugdüse und den Schutzanzug, den ich noch immer trug, eine gewisse Glaubwürdigkeit erhalten hätte. In meiner neuen Zeit schied eine solche Geschichte jedoch aus, da das Weltbild hier den Gedanken extraterrestrischen Lebens in radikaler Weise ausschloss. Wenn ich nicht als vom Teufel Besessener gelten wollte, musste ich mir wohl oder übel etwas anderes einfallen lassen.
In meiner Not schlich ich mich vorsichtig an das geöffnete Fenster und linste über den unteren Rand hinaus, indem ich mich davor hinkniete und mich dann ganz langsam aufrichtete. Aber was ich sah, war lediglich der menschenleere Hof des Klosters. Er bestand aus einem mir nur allzu gut bekannten Kreuzgang, der einen Kräutergarten mit einem Brunnen umschloss. Diese Erkenntnis brachte mich in meiner Lage natürlich auch nicht gerade weiter.
Immerhin konnte ich durch den Blick nach draußen die Tageszeit – die ja angesichts des künstlichen Tag-Nacht-Wechsels in der Kegelstadt ebenso Morgen wie Abend hätte sein können – etwas besser bestimmen. Dem Licht nach zu urteilen, musste es später Vormittag sein. Nach allem, was ich über den Alltag von Mönchen wusste, war damit zu rechnen, dass der Bewohner der Zelle um diese Zeit entweder gerade beim Beten oder bei der Arbeit war.
Durch das geöffnete Fenster waren die Schläge der Turmuhr gut zu hören. Ich erinnerte mich zwar dunkel daran, dass im Spätmittelalter die Anzahl der Tagesstunden mancherorts noch je nach der Dauer des Tageslichts variierte. Dennoch konnte ich auf diese Weise feststellen, dass ich mit meiner Einschätzung der Tageszeit richtig gelegen hatte.
Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, mich heimlich davonzuschleichen. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch sogleich wieder. Denn hierfür hätte ich mir zuerst entsprechende Kleidung besorgen müssen. Aber wo hätte ich die hernehmen sollen? Und selbst wenn es mir gelungen wäre, passende Kleider aufzutreiben, wäre noch immer eine nicht ganz unwesentliche Frage unbeantwortet geblieben: Wohin hätte ich mich eigentlich wenden sollen?
Erschöpft von der Anspannung und dem langen, ergebnislosen Warten, begann ich allmählich wegzudämmern. Da vernahm ich plötzlich das knarrende Geräusch von Schritten auf der Treppe.
Immer näher kamen die Schritte, bis sie schließlich in dem Gang vor meiner Kammer zu hören waren. Offensichtlich waren die Mönche von der Arbeit oder dem Gebet zurückgekommen und begaben sich nun vor dem Mittagessen noch kurz in ihre Zellen.
English Version
Arrival in the Year 1485: 1. The Present in the Guise of the Past
With great difficulty, Theo gains an impression of the new time. However, he still doesn’t know how to get along there in his futuristic outfit.
Sunday, March 20, 1485
So once again I am sitting in such a cramped chamber. It almost feels like I’ve just been transferred from one prison to another. I long for walks across open fields, with unlimited views of ever new ranges of hills, inebriated by the pulsating breath of the flocks of birds, the harmonious unison of their flapping wings.
Strange … On the one hand, I want to run away, roam aimlessly through the world, find my home in being on the road. But on the other hand, I long for a firm footing, ultimately for precisely a place like this where I can come to rest. I want to drop anchor without being tied.
Probably the constant change of times and places simply shows me beyond all doubt that I cannot escape myself: No matter how much the outside changes, I myself always remain the same. And along with this insight, the desire grows to run away from myself, to turn into a different person, at least in my imagination.
1. The Present in the Guise of the Past
When I arrived here, I first thought I had returned to the present – that is, to the time that used to be my present before I had set off into the future. The monastery in which I have landed is obviously the one in which the Disciples of Darkness are now (or will later be) holding their meetings.
However, when I took a closer look around the chamber where I found myself lying on the bed, I quickly realised: The monastery might well be the same – but the time was different.
It is true that the Disciples of Darkness had never extensively renovated the monastery. With its simple wooden interiors, the small rooms and the plain furnishings, it looked quite old-fashioned for its time. However, there was a bathroom on each floor, electricity lines had been installed, and the windows were of course glazed.
In the chamber I was in, though, there were no sockets or light switches at all. Instead, I spotted the puny remains of a tallow candle on the table, and the windows only had crown glasses in the upper part, but were otherwise unglazed. Someone had opened the shutters for ventilation, which made the room noticeably cold. In addition, the bed seemed to be made for midgets. It was so small that half of my legs were hanging over.
On the wall shelf in the left corner of the room I saw a kettle hanging from an iron chain. At first I thought it was a tea kettle. On closer inspection, however, I realised that it had a pouring device on both sides. Furthermore, it was dangling over a bowl that obviously served to collect the water poured out. From this I concluded that it was not used for making tea but for washing hands, like the kettle I had once seen in a museum of everyday culture. Thus, to all appearances, I had indeed landed in the year 1485.
And now? How was I supposed to deal with this situation?
Well, at least I had landed inside a building. So I escaped the scandal that, given my appearance, could hardly have been avoided if I had ended up in a marketplace – especially since my shadowlessness would have been noticed there immediately.
On the other hand, I thus had to brace myself for a much bigger scandal. After all, the monk who inhabited the chamber could return at any moment. And how was I then to explain my presence in this monastery cell? I could hardly excuse myself by saying that I had „mixed up the times“!
In my former present, I would have had the opportunity to present myself as an extraterrestrial – a claim that would have gained a certain credibility through the flight engine and the protective suit I was still wearing. In my new time, however, such a story was ruled out because the world view here radically excluded the idea of extraterrestrial life. If I didn’t want to be seen as possessed by the devil, I would have to come up with something else.
In my distress, I cautiously crept up to the open window and peered out over the bottom edge, kneeling in front of it and then very slowly standing up. But what I saw was only the deserted courtyard of the monastery. It consisted of a cloister I knew only too well, enclosing a herb garden with a small well. Of course, this discovery did not really help me in my situation.
At least, by looking outside, I was able to determine the time of day a little better – which could have been morning or evening, given the artificial day-night change in the cone town. Judging by the light, it had to be late morning. From what I knew about the daily life of monks, I could assume that the occupant of the cell was either praying or working at that time of day.
Through the open window, the chiming of the tower clock was cIearly to be heard. I vaguely remembered that in the late Middle Ages the number of daytime hours still varied in some places according to the duration of daylight. Nevertheless, I could see in this way that I had been correct in my estimation of the time of day.
For a moment I wondered if I should try to sneak away. However, I immediately dismissed this idea. For that, I would have had to get the appropriate clothes first. But where should I have procured them? And even if I had succeeded in finding suitable clothes, a not quite insignificant question would still have remained unanswered: Where should I actually have gone?
Exhausted by the tension and the long, fruitless waiting, I gradually began to doze off. But then I suddenly heard the creaking sound of footsteps on the stairs.
The footsteps came closer and closer until they finally reached the corridor in front of my chamber. Obviously, the monks had returned from work or prayer and were now going to their cells for a short while before lunch.
Bilder / Images: Gabi (Goldengel): Klosterhof / Monastery courtyard (Pixabay; modifiziert / modified); „Meister der Baroncelli-Porträts“: Handfass. Gießgefäß zum Händewaschen auf einem Ölgemälde mit Darstellung des Pfingstwunders (Detail); ca. 1485 – 1490. Brügge, Groeninge-Museum (Wikimedia commons) /“Master of the Baroncelli Portrait“: Vessel for washing hands on an oil painting depicting the Miracle of Pentecost (detail), ca. 1485 – 1490. Bruges, Groeninge Museum (Wikimedia Commons)
Jakob
Das ist nun wirklich eine verrückte Wendung. Bin gespannt wie es weitergeht.
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