Die Erfüllung des Unerfüllbaren / The fulfilment of the unfulfillable

1. Türchen des musikalischen Adventskalenders 2020: Madredeus: Ainda (Noch)

English Version

Die Adventszeit zeichnet sich aus durch die Sehnsucht nach der Erfüllung des Unerfüllbaren. Dies verbindet sie mit der portugiesischen Saudade und ihrer musikalischen Entsprechung, dem Fado, die beide von einem ähnlichen Gefühlskomplex getragen sind.

Der Advent ist eine Zeit der Erwartung: der Erwartung eines Mysteriums, von dem wir wissen, dass es nicht eintreten wird.
So ist die Adventszeit einerseits fraglos ein Kernelement des Christentums. Christliche Menschen bereiten sich in dieser Zeit auf die Geburt Christi vor, auf ein Ereignis, von dem sie jedes Jahr aufs Neue hoffen, dass ein Abglanz des Wunderbaren ihre Seelen erhellen wird.
Andererseits ist die Adventszeit aber auch ein prägnantes Beispiel für die absurde Grundstruktur der menschlichen Existenz. Denn wir wissen ja genau, dass es am Abend des 24. Dezembers nicht zu einer Wiederkunft Christi kommen wird. Wir sind uns bewusst, dass die Geburt des Gottessohnes entweder nur ein Gleichnis oder ein Ereignis aus mythischer Vorzeit ist, das der menschlichen Geschichte auch in diesem Jahr nicht jene Wendung geben wird, die wir uns davon erhoffen. Die Welt wird auch nach diesem 24. Dezember nicht friedlicher werden, und unsere Beziehungen zu anderen werden nicht frei sein von Habgier, Misstrauen, Neid und Hass.
Wenn wir uns dennoch jedes Jahr in der Adventszeit wieder der Hoffnung auf das Unmögliche hingeben, so trotzen wir damit in eben jener absurden Weise unserem Schicksal, wie es Albert Camus am Beispiel des Sisyphos-Mythos beschrieben hat: Immer wieder rollen wir den Fels unserer Hoffnung den Berg hinauf, immer wieder rollt er hinab in das Tal unseres Scheiterns.
Das Absurde, als Konzept zur Beschreibung einer gottverlassen-sinnlosen Existenz entwickelt, erweist sich so bei näherer Betrachtung auch als geeignete Kategorie zur Beschreibung des Glaubens. Obwohl wir wissen, dass es keine Gewissheit für unsere Glaubensinhalte gibt, halten wir doch an diesen fest. Eben dadurch aber erlangen sie eine eigene, geistige Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit.
Ein bisschen ist es wie bei einer self-fulfilling prophecy: Wer an die Wirklichkeit der Liebe und des Friedens glaubt, erschafft diese Wirklichkeit damit in gewisser Weise auch.
Im Prinzip ist der Glaube damit eine lebenslange Adventszeit: Wer an die Friedensbotschaft des Neuen Testaments oder schlicht an die Möglichkeit einer friedlicheren, humaneren, gerechteren Welt glaubt, geht sein Leben lang auf diese Utopie zu, obwohl er weiß, dass er sein Ziel nie erreichen wird.
Diesen Satz könnte man auch umdrehen und sagen: Das Wissen, das Ziel nicht zu erreichen, ist das Fundament des Glaubensweges. Das verwirklichte Ziel büßt stets den Glanz ein, mit dem die Hoffnung auf sein Erreichen es umkränzt hat. Eingeholt von der faktischen Wirklichkeit, wird es in jene Grautöne getaucht werden, die für diese charakteristisch sind.
So ist das absurde Streben nach dem Unerreichbaren auch der romantischen Sehnsucht verwandt. Denn auch für diese gilt ja, dass sie Erfüllung stets in dem Unerfüllbaren sucht. So fragt Georg Philipp Schmidt von Lübeck 1813 in seinem Gedicht Des Fremdlings Abendlied, das Franz Schubert unter dem Titel Der Wanderer vertont hat: „Wo bist du, mein gelobtes Land, / gesucht, geahnt und nie gekannt? / Das Land (…), / wo meine Träume wandeln gehn?“ Die Antwort, die das Gedicht im abschließenden Vers gibt, fasst das Wesen der romantischen Sehnsucht ebenso knapp wie treffend zusammen: „Da, wo du nicht bist, ist das Glück!“
Eng mit der romantischen Sehnsucht verwandt ist die portugiesische Saudade. Das schwer übersetzbare Wort bezeichnet einen Gefühlskomplex, der sich aus Fernweh, Nostalgie und der unbestimmten Sehnsucht nach einer inneren Erfüllung, die sich ihrer Unerfüllbarkeit bewusst ist, zusammensetzt. Die musikalische Entsprechung zur Saudade ist der Fado, der diese Sehnsucht in charakteristischer Weise zum Klingen bringt.
Exemplarisch kommt dies in dem Lied Ainda („Noch“) der portugiesischen Band Madredeus zum Ausdruck. Explizit wird hier der Gedanke ausformuliert, dass eine Sehnsucht, die sich ihrer Unerfüllbarkeit bewusst ist, nur so lange eine Illusion von Erfüllung finden kann, wie die Suchenden unterwegs sind. Sobald sie ihr Ziel erreichen, lösen sich die mit diesem verbundenen Hoffnungen in Luft auf. Nur wer ein Leben lang auf ideeller Wanderschaft bleibt, „bewahrt sich die Liebe / und die Hoffnung“.
Damit geht es auch hier wieder um einen Glauben, der seine Kraft paradoxerweise gerade aus seiner Unerfüllbarkeit bezieht. Um einen Glauben, der auf seinem Ungenügen an der existierenden Welt besteht und eben deshalb die Kraft findet, Gegenentwürfe für eine bessere Welt zu ersinnen.
Die Kraft des Glaubens ist damit immer auch ein Beleg für die Kraft des menschlichen Geistes, das Bestehende zu transzendieren. Wirkmächtig kann diese Kraft dann werden, wenn wir uns nicht in unserem Alltagshandeln verstricken, sondern immer wieder von diesem zurücktreten und es in seinen Zielen und Konsequenzen überdenken. Die Adventszeit kann in diesem Sinne dazu dienen, unser Handeln an unseren Erwartungen zu messen. Auch dazu können wir die innere Einkehr nutzen, die wir mit dieser Zeit verbinden. Mit seinen kontemplativen Klängen lädt das Lied von Madredeus eben hierzu ein.

Zitate aus Georg Philipp Schmidt von Lübeck: Des Fremdlings Abendlied entnommen aus Ders.: Lieder von G. P. Schmidt von Lübeck. In: Becker, Wilhelm Gottlieb (Hg.): Guirlanden, Bd. 3, S.  93 – 136 (Gedicht S. 117 – 119). Leipzig 1813: Gleditsch.

Albert Camus‘ Essay Der Mythos von Sisyphos ist zuerst 1942 in französischer Sprache erschienen. Die erste deutsche Übersetzung wurde 1950 veröffentlicht und trägt den Untertitel „Ein Versuch über das Absurde“.

Madredeus: Ainda (Titelsong aus dem gleichnamigen Album, 1995)

Liedtext

Freie Übertragung:

 Wie lange noch?

Bestimmte Dinge
 kommen über meine  ppen,
 einige andere
 lerne ich allmählich kennen:
 Wahrheiten
 wie die Abenteuer der Freundschaft.
  
 Wer sein Ziel erreicht,
 entfernt sich weit
 von aller Veränderung
 und verlernt seinen Namen.
  
 Freude,
 vergebliche Traurigkeit,
 Phantasie,
 Unsicherheit:
 Auch das sind Wahrheiten
 der Suchenden,
 wie die Abenteuer der Freundschaft.
  
 Wer seinen Weg weitergeht,
 bewahrt sich die Liebe
 und die Hoffnung
 ganz von selbst.
 Wie lange noch?
 Wie lange noch? 

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English Version:

1st door of the musical Advent calendar 2020: Madredeus: Ainda

The Advent season is characterised by the longing for the fulfilment of the unfulfillable. This connects it with the Portuguese Saudade and its musical equivalent, the Fado, both of which are based on a similar complex of emotions.

Advent is a time of expectation: the expectation of a mystery that we know will not happen.
Thus, on the one hand, the Advent season is unquestionably a core element of Christianity. Christian people prepare themselves during this time for the birth of Christ, for an event from which they hope that a reflection of the miraculous will illuminate their souls.
On the other hand, the Advent season is also a striking example of the absurd structure of human existence. For we know very well that there will not be a return of Christ on the evening of December 24th. We are aware that the birth of the Son of God is either just a parable or an event from mythical times, which will not give human history the turn we hope for. The world will not become any more peaceful after this year’s Christmas, and our relations with others will not be free from greed, mistrust, envy and hatred.
If, nevertheless, every year during the Advent season we indulge in the hope of the impossible, we are defying our fate in precisely the same absurd way as Albert Camus described it, using the Sisyphus myth as an example: Again and again we roll the rock of our hope up the mountain, again and again it rolls down into the valley of our failure.
The absurd, developed as a concept for describing a godforsaken-senseless existence, thus proves on closer examination to be a suitable category for describing faith. Although we know that there is no solid ground for our beliefs, we still hold on to them. However, it is precisely through this that they attain their own spiritual reality and impact.
It is a little bit like a self-fulfilling prophecy: Whoever believes in the reality of love and peace is creating this reality in a certain way.
In principle, faith thus proves to be a lifelong Advent season: anyone who believes in the New Testament’s message of peace or simply in the possibility of a more peaceful, humane, just world, is heading towards this utopia all his life, even though he knows that he will never reach his goal.
We could also turn this sentence around and say: The knowledge of not reaching the goal is the foundation of the path of faith. The realised goal always loses the splendour with which the hope of reaching it has framed it. Caught up in factual reality, it will always be bathed in those shades of grey that are characteristic of reality.
The absurd striving for the unattainable is therefore also related to romantic longing. For this too always seeks fulfilment in the unfulfillable. Thus Georg Philipp Schmidt von Lübeck asks in his poem Des Fremdlings Abendlied (The Evening Song of the Stranger, 1813), which Franz Schubert set to music under the title Der Wanderer: „Where are you, my promised land, / wanted, sensed and never known? / The land (…) / where my dreams are wandering?“ The answer given by the poem in the concluding verse sums up the essence of romantic longing as succinctly as accurately: „Where you are not, there is happiness!“
Closely related to the romantic longing is the Portuguese Saudade. The word, difficult to translate, denotes a complex of emotions made up of wanderlust, nostalgia and the indeterminate longing for an inner fulfilment that is aware of its unfulfillability. The musical equivalent of Saudade is Fado, which makes this longing resound in a characteristic way.
An example of this is the song Ainda („Still“) by the Portuguese band Madredeus. Here the idea is explicitly formulated that a longing aware of its unfulfillability can only find an illusion of fulfilment as long as the seekers are on the way. As soon as they reach their goal, the hopes associated with it vanish into thin air. Only those who remain on imaginary wanderings for a lifetime will „preserve love / and hope“.
Thus we are again dealing with a belief which paradoxically draws its strength precisely from its unfulfillability. With a faith that insists on its dissatisfaction with the existing world and for this very reason finds the strength to conceive of alternative concepts for a better world.
The power of faith thereby also proves the power of the human spirit to transcend the existing. This power can become effective if we do not get entangled in our everyday actions, but repeatedly step back from them and rethink their consequences. In this sense, the Advent season can serve to improve the balance between our actions and our expectations. This is another way to use the introspection that we associate with this season. With its contemplative sounds, the song of Madredeus invites us to do just that.

Quotations from Georg Philipp Schmidt von Lübeck: Des Fremdlings Abendlied (The Evening Song of the Stranger) taken from Lieder von  G. P. Schmidt von Lübeck. In: Becker, Wilhelm Gottlieb (Ed.): Guirlanden, tome 3, pp.  93 – 136 (poem page 117 – 119). Leipzig 1813: Gleditsch.

Albert Camus‘ Essay The Myth of Sisyphus was first published in French in 1942. The first English translation was published in 1955.

Madredeus: Ainda (title song from the same-named album, 1995)

Song (extract from the film Lisbon Story by Wim Wenders, 1994)

Lyrics

Free translation

 
How much longer? 

 Certain things
 come over my lips,
 some others
 I get to know gradually:
 Truths
 like the adventures of friendship.
  
 Who reaches his goal
 is far away
 from all change
 and forgets his name.
  
 Joy,
 vain sadness,
 imagination,
 uncertainty:
 These are truths
 of the seekers, too,
 like the adventures of friendship.
  
 Those who follow their path
 will preserve love
 and hope
 all by itself.
  
 How much longer?
 How much longer? 

Bilder: Pixabay: 1. Johannes Plenio: Weg; 2. Nile: Wald

5 Antworten auf „Die Erfüllung des Unerfüllbaren / The fulfilment of the unfulfillable

  1. Elias Münter

    Vielen Dank für diesen schönen Beitrag. Ich kenne Madredeus und das Lied, habe es aber nie von dieser Seite betrachtet -Ich hatte auch keine Übersetzung;-)- Ich freue mich auf die nächsten Türchen!

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  2. R.Schmitt

    Dieses Türchen habe ich mit Freude geöffnet. In unserer hektischen Zeit haben wir viel zu wenig Zeit fürs Nachdenken. Vielen Dank für die Arbeit am musikalischen Adventskalender.❤️

    Gefällt 1 Person

  3. Диана

    Моя дочь Ярослава любит просматривать совместно вместе со мной Ваши заметки. Премногое спасибо за занимательную информационную подборку

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  4. Pingback: Die Herren des Krieges und der Geist des Friedens / The Lords of War and the Spirit of Peace – LiteraturPlanet

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