Das Wunder hinter den Mauern des Alltags / The miracle behind the walls of everyday life

2. Türchen des musikalischen Adventskalenders: Orso Jesenska: Le fracas (Das Getöse)

English Version

Das Wunder, auf das wir so sehnsüchtig warten, ist womöglich längst eingetreten. Wir müssen nur die Augen öffnen, um es zu erkennen.

Gottes Wege sind unergründlich, heißt es. In der Tat haben wir wohl alle schon die Erfahrung gemacht, dass das Wunderbare sich oft gerade dann zeigt, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Was sich nach einer tiefen religiösen Erfahrung anhört, kommt im Alltag nicht selten recht banal daher. Zum Beispiel in Form eines Missgeschicks, aus dem ganz unerwartet etwas Schönes entsteht – eines irrtümlich eingeschlagenen Weges, auf dem man die große Liebe trifft; eines Fehlgriffs im Küchenregal, aus dem eine köstliche neue Speise entsteht; oder eines verpassten Zuges, der unseren Sinn erst für neue, am Ende viel lohnendere Ziele öffnet.
In all diesen Fällen ist es gerade der Irrtum, die Abweichung vom vorgegebenen Weg, der unserem Schicksal eine positive Wendung gibt. Ähnliche Erfahrungen lassen sich auch bei vielen Denkprozessen machen: Der entscheidende Geistesblitz, die Entwirrung des Knotens, der einen von der Lösung eines Problems abhält, findet man oft erst, wenn man es wagt, loszulassen und das Gehirn allein arbeiten zu lassen. Dann wacht man womöglich mitten in der Nacht auf und blickt wie von oben auf den Problemdschungel herab – in dem sich dann ganz selbstverständlich ein Weg zeigt, den man zuvor übersehen hat.
Nun ist es allerdings nicht so, dass das Wunderbare – in welcher Form auch immer wir es uns vorstellen wollen – sich ganz ohne unser Zutun ereignet. Wer es erfahren will, muss vielmehr stets offen für es sein. So kann der Ärger darüber, sich verlaufen oder den Zug verpasst zu haben, leicht zu einer mürrischen Verschlossenheit führen, durch die man dann nicht mehr offen ist für die unerwartet positive Wendung, die das Schicksal auf dem vermeintlich falschen Weg für einen bereithält. Und wer nicht bereit ist, für neue Probleme auch neue Lösungsansätze auszuprobieren, wird oft ebenfalls vergeblich auf Erlösung von seiner Problemlast warten.
Allerdings: Loslassen können, neue Sichtweisen ausprobieren, offen sein für das Unerwartete – all das hört sich leichter an, als es im Alltag umzusetzen ist. Denn es ist ja gerade das entscheidende Charakteristikum des Alltags, dass er unser Denken, Fühlen und Handeln auf ganz bestimmten, immer gleichen Bahnen lenkt. Auf Bahnen, auf denen jede Abweichung nichts anderes ist als eine Störung des gewohnten Ablaufs. Dies macht es unendlich schwer, offen zu bleiben für Neues und Fremdes.
Erschwerend kommt hinzu, dass unser Alltagsleben wie eine mittelalterliche Stadt von Befestigungsringen umgeben ist, die seine Unantastbarkeit sicherstellen sollen. Den wichtigsten Befestigungsring stellt dabei unsere eigene Angst dar, aus dem Nest des Vertrauten herauszufallen, das die Alltagsstrukturen uns bieten; unsere Angst auch, nicht mehr dazuzugehören, wenn wir von den allgemein anerkannten Normen und Denkmustern abweichen.
So sind wir auch allzu leicht bereit, uns gegenseitig in der Gültigkeit unserer Alltagsnormen zu bestärken und andere zu verspotten, wenn sie deren Allgemeingültigkeit hinterfragen. Dabei besteht immer die Gefahr, Lautstärke mit Wahrheit zu verwechseln, also davon auszugehen, dass der, der am lautesten schreit und seine Position am unerbittlichsten verteidigt, auch am ehesten Recht hat.
Eine solche Haltung ist nun aber das Gegenteil dessen, was benötigt wird, um im Lärm des Alltagstrubels die Stimme Gottes zu vernehmen. Oder, weniger religiös ausgedrückt: Wer jeden Zweifel – sei es seine eigene innere Stimme oder Kritik von außen – mit polternder Rechthaberei zu übertönen sucht, ist dazu verdammt, in einer verzerrten Wirklichkeit zu leben. Dies kann sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene zu katastrophalen Entwicklungen führen – man denke nur an den Hurra-Patriotismus, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs im deutschen Kaiserreich herrschte.
Ähnliche Gedanken legt auch das Lied Le fracas (Das Getöse) des aus Südfrankreich stammenden Chansonniers Orso Jesenska (Jahrgang 1980) nahe. Es handelt von selbst ernannten Siegertypen, die mit ihrem lauten Lachen den „Schlachtenlärm“ des Alltags zu übertönen versuchen. Gleichzeitig verdrängen sie auf diese Weise auch jeden Gedanken an das Andere und Fremde, das aus ihrer Perspektive schlicht ‚das Unnütze‘ ist. Diejenigen, die – als „Gefangene des Unnützen“ – nicht von dem lassen können oder wollen, was aus der Perspektive des bürgerlichen Alltags unproduktiv oder gar schädlich erscheint, geraten in diesem „Getöse“ schlicht in Vergessenheit. So versperren die vermeintlichen Siegertypen de facto sich und anderen den Weg in die Zukunft – die folglich „vergangen“ ist, ehe sie begonnen hat.
Was auf der Ebene des Textes zum Scheitern verurteilt scheint, wird durch die kontemplative Musik und die traumartigen Bildsequenzen des Videos zu dem Chanson erreicht: die Ermutigung zu einem inneren, geistigen Widerstand gegen das scheinbar Unabänderliche.

Orso Jesenska: Le fracas; aus: Un courage inutile (Unnützer Mut; 2013)

Lied (Video mit Text):

Albumfassung

Übersetzung:

 Das Getöse
  
 Die Nacht ist noch ganz lau
 von diesem unbeweglichen Tag,
 an dem sie sich voller Glück
 als Sieger gefühlt haben.
 Sie lachen und reden laut
 und hoffen, dass sie auf diese Weise
 den Schlachtenlärm
 übertönen werden.
  
 Und wir beide,
 Gefangene des Unnützen,
 wir, mit unserem armen, zerbrechlichen  Lächeln
 und unserem unruhigen Verlangen,
 gehen an ihnen vorüber.
  
 Sie schaukeln im Sitzen
 und scheinen sich selbst darüber zu wundern,
 dass es so leicht ist,
 uns vergessen zu lassen.
 Die Nacht ist kalt geworden,
 und ich bin noch immer da.
 Aber ich fürchte um die Toten
 und um unsere vergangene Zukunft. 

Infos zu Orso Jesenska (französisch)

Mehr poetische Chansons aus Frankreich:

Chansons poétiques. Ein Blick auf die französischen ChansondichterInnen

English Version

2nd door of the musical Advent calendar 2020: Orso Jesenska: Le fracas (The roar)

The miracle for which we are hoping so desperately has possibly long since occurred. We only have to open our eyes to detect it.

God moves in mysterious ways, people say. In fact, we have probably all experienced that the miraculous often shows itself when we least expect it.
What sounds like a deep religious experience can appear quite trivial in everyday life. It might simply occur in the form of a mishap from which something beautiful emerges quite unexpectedly – a path taken by mistake on which one meets the great love; a wrong choice on the kitchen shelf from which a delicious new dish emerges; or a missed train that opens our minds to new and ultimately much more rewarding goals.
In all these cases it is precisely the error, the deviation from the predetermined path, which gives our fate a positive turn. Similar experiences can be made with many thought processes: The decisive flash of inspiration, the untangling of the knot that prevents us from solving a problem, is often only found when we dare to let go and let the brain work on its own. Then maybe we wake up in the middle of the night and look down on the jungle of problems as if from above – and suddenly a path we had previously overlooked appears before our eyes.
However, the miraculous – in whatever form we may imagine it – will not occur without any effort on our part. Whoever wants to experience it must always be open to it. The annoyance of having missed the train or taken the wrong way can easily lead to a grumpy reticence, which makes us no longer open to the unexpectedly positive turn that the fate has in store for us on the supposedly wrong path. And those who are not ready to try out new solutions to new problems will often wait in vain for relief from their burden of problems.
However, being able to let go, trying out new perspectives, being open to the unexpected – all this sounds much easier than it is in everyday life. After all, it is precisely the decisive characteristic of everyday life that it guides our thoughts, feelings and actions along very specific, unchanging paths. On paths on which every deviation is nothing more than a disturbance of the familiar routine. This makes it quite difficult to remain open to new and foreign things.
To make matters worse, our everyday life is surrounded, like a medieval town, by fortifications designed to ensure its inviolability. The most important ring of fortifications is our own fear of falling out of the nest of familiarity offered by everyday structures, and our fear of no longer belonging to the community if we deviate from the generally accepted norms and patterns of thought.
So we are all too easily prepared to encourage each other in the validity of our everyday norms and to mock others when they question the universality of these norms. In doing so, there is always the danger of confusing loudness with truth, of assuming that whoever shouts loudest and defends his position most relentlessly is most likely to be right.
Such an attitude, however, is the opposite of what is needed to hear the voice of God in the roar of everyday life. Or, to put it in less religious terms: anyone who tries to drown out every doubt – be it his own inner voice or criticism from the outside – with rumbling bossiness is condemned to live in a distorted reality. This can lead to catastrophic developments at both the individual and the social level – just think of the jingoistic patriotism that prevailed in the German Empire on the eve of the First World War.
Similar thoughts are suggested by the chanson Le fracas (The roar). The song of the chansonnier Orso Jesenska (born 1980 in Southern France) is about self-appointed victorious types who try to drown out the „battle noise“ of everyday life with their loud laughter. At the same time they thus repress any thought of the other and the unfamiliar, which from their perspective is simply ‚useless‘. Those who – as „prisoners of uselessness“ – cannot or do not want to let go of what seems unproductive or even harmful from the perspective of bourgeois everyday life will simply fall into oblivion in this „roar“. In this way the supposed victorious types actually block the way into the future for themselves and others – which is therefore „past“ before it has even begun.
What seems doomed to failure on the level of the text is achieved through the contemplative music and the dream-like image sequences of the video to the chanson: the encouragement to an inner, spiritual resistance against what seems to be irreversible.

Orso Jesenska: Le fracas; from: Un courage inutile (Useless courage; 2013)

Song (video clip), with lyrics

Album version

Translation:

 The Roar
  
 The night is still quite balmy
 from that immobile day,
 on which they, full of happiness,
 felt as winners.
 They laugh and talk loud
 hoping that in this way they can drown out
 the noise of battles.
  
 And you and me,
 prisoners of uselessness,
 we, with our poor, fragile smile
 and our restless desire,
 pass them by.
  
 They swing while sitting
 and seem to wonder themselves
 how easy it is
 to make us forget.
 The night has become cold
 and I am still here.
 But I fear for the dead
 and for our past future.
   

About Orso Jesenska (French)

Bilder / Pictures: Peter H.: Weg / Way (Pixabay), Zacharias da Mata: Friedhof bei Nacht / cemetery at night (fotolia)

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