Die Hessenwahl – ein politisches Erdbeben? Ja, was die Mehrheitsverhältnisse anbelangt. Die politische Kultur wird sich dadurch jedoch kaum ändern. Hierzu ein Ausschnitt aus Nadja Dietrichs Roman Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau:
„Lidia Afanasjewna versuchte, sich auf die Reden der Parlamentarier zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Die stereotypen Betonungen, die einstudierte Aufgeregtheit, dieses Mit-dem-Finger-in-die-Luft-Hacken, als wollte man einen imaginären Gegner aufspießen, das Stakkato der Worte, kunstgerecht von beifallheischenden Pausen unterbrochen – das alles lenkte sie so sehr vom Inhalt der Reden ab, dass sie schon nach wenigen Minuten nicht mehr hätte sagen können, worüber sich der gerade abgetretene Redner eigentlich so aufgeregt hatte. Es war, als würde sie das Geschehen hinter einer schalldichten Glaswand verfolgen, wie wenn man beim Fernsehen den Ton abdreht. Münder schnappten auf und wieder zu, Hände umgriffen in der Haltung eines erholungsbedürftigen Geiers das Rednerpult, Haare wippten im hühnergleichen Wackelrhythmus der Köpfe.
Wenn man vom Inhalt der Reden absah, bot sich den Zuschauern zweifellos ein beeindruckendes Schauspiel. Und wie Schauspieler, dachte Lidia Afanasjewna, benahmen sich die Redner ja auch. Hinter dem Rednerpult gaben sie den Volkstribun, mit der Inbrunst eines Spartakus wetterten sie gegen ihre Gegner, die dieses Parlament, dieses Land, Europa, ja die ganze Welt an den Abgrund führen würden. Sobald sie aber die Manege verließen und wieder in der Kulisse verschwanden, tuschelten sie mit den anderen Gladiatorenmimen, als würden sie sich mit diesen im kollegialen Wettstreit darüber austauschen, wer an diesem Tag die überzeugendste Darbietung geliefert habe.
Erstaunlich war nur, dass die Auftritte der Volksvertreterdarsteller trotz ihrer häufigen Einsätze so laienhaft wirkten. Vielleicht, überlegte Lidia Afanasjewna, sollte man sie besser erst eine Zeitlang auf die Schauspielschule schicken, ehe man ihnen das Rednerpult überließ. Auch hätte man, fand sie, die Rollenbesetzung besser einer neutralen Castingstelle überlassen sollen. So war es ein bisschen wie bei der Kindervorstellung: Jeder wollte der edle Ritter sein, der die Prinzessin erlöst und das Reich des darbenden Königs vor dem Untergang bewahrt, niemand bekannte sich dazu, im Grundes seines Herzens der böse Drache zu sein, der das Königreich an sich reißen wollte.“