Charles Baudelaires Fleurs du Mal – Blumen des Bösen? / Charles Baudelaire’s Fleurs du Mal – Flowers of Evil?

Überlegungen anhand eines der Spleen-Gedichte in der Sammlung / Reflections on the basis of one of the Spleen-poems in the collection

English Version

Les Fleurs du Mal, Charles Baudelaires berühmte Gedichtsammlung, wird im Deutschen meist als „Die Blumen des Bösen“ übersetzt. Die Bedeutung von „le mal“ ist jedoch weitaus vielschichtiger. So erwachsen auch Baudelaires dichterische Blumen nicht ausschließlich dem „Bösen“.

Baudelaires Hauptwerk sind die Fleurs du Mal. Die Gedichtsammlung ist erstmals 1857 erschienen, hat aber erst in der dritten, 1868 (ein Jahr nach Baudelaires Tod) veröffentlichten Ausgabe ihre endgültige Gestalt erhalten.
Im deutschsprachigen Raum kennen wir die Fleurs du Mal als „Blumen des Bösen“. Eine solche Übersetzung ist insofern gerechtfertigt, als Baudelaire selbst die Kategorie des Bösen ausdrücklich als zentrale Triebkraft des menschlichen Handelns angesehen hat. Auch einige Gedichte der Fleurs du Mal sind erkennbar von dieser Sichtweise der menschlichen Natur beeinflusst (wie zum Beispiel Le revenant).
Auf der anderen Seite stellen die Fleurs du Mal im Rahmen des gesamten gleichnamigen Gedichtbandes aber nur einen Teilzyklus dar. Daneben stehen andere Teilzyklen, deren Titel (u.a. Der Wein oder Pariser Bilder) auf eine komplexere Konzeption des Bandes hindeuten.
Mit der Beschränkung auf den Aspekt des Bösen läuft man daher Gefahr, Klischees zu folgen, die schon zu Lebzeiten Baudelaires von dessen Kritikern verbreitet wurden – was mit ein Grund dafür war, dass einige seiner Gedichte zeitweilig verboten waren. Letztlich galt der Dichter dabei selbst als „böse“ oder zumindest als verrucht, weil er es gewagt hatte, die Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft dichterisch darzustellen, also das aus deren Perspektive „Böse“: die Bettler, die Huren, die nichtsnutzigen Herumtreiber, die Kranken, die Säufer und die Liebhaber anderer Drogen, aber auch das Alter und den Tod.
Es erscheint deshalb sinnvoll, noch einmal daran zu erinnern, dass die Bedeutung von „le mal“ sich keineswegs auf „das Böse“ beschränkt. In zahlreichen Wendungen deutet der Begriff vielmehr auch auf Schmerz, Kummer und körperliches Unwohlsein hin. So bezeichnet „le mal du pays“ das Heimweh, und wer „mal au cœur“ hat, dem ist übel. Dies macht das Bild von den Fleurs du Mal schillernder, als es in der deutschen Übersetzung erscheint.
Dass die „kränklichen Blumen“, die Baudelaire in der Widmung seines Gedichtbandes an Théophile Gautier ankündigt, auch dem Schmerz entwachsen können, zeigen auch zwei Schlüsselbegriffe des Bandes: „Ennui“ und „Spleen“. Beide Begriffe sind schwer zu übersetzen, verweisen jedoch in ihrer assoziativen Verknüpfung von Lebensüberdruss und Schwermut, Langeweile und unbestimmtem Groll auf den charakteristischen Gemütszustand des modernen Menschen, seine Entfremdungsgefühle und sein Unbehaustsein in einer Welt, die ihr selbstverständliches Sinn- und Ordnungsgefüge verloren hat.
Allein vier Gedichte in den Fleurs du Mal tragen den Titel Spleen. Das zweite davon evoziert den damit bezeichneten Empfindungskomplex über die Last der Erinnerungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens ansammelt. Schon die bloße Masse der Erinnerungen zeugt dabei von der unentrinnbaren Vergänglichkeit. Daneben ist aber auch jede einzelne Erinnerung eine schmerzliche Wunde, in der sich die Verlusterfahrungen des Ichs manifestieren. So führt das erstarrte Leben der Vergangenheit hier zu dem Gefühl, selbst innerlich erstarrt zu sein und nur noch als lebender Toter zu existieren.

Ausführliches Essay mit Nachdichtungen zu Charles Baudelaires Fleurs du Mal

Originaltext

NACHDICHTUNG

Schwermut

(Spleen 2; FM 78, S. 199)

Erinnerungen lagern in mir wie aus tausend Jahren …

Mein Herz ist ein gewaltiges Gewölbe,
ein Labyrinth aus Kellern, eine Pyramide,
ein Massengrab, in dem Erinnerungen lagern
bis zum Rand. Altäre mit geheimen Schreinen,
Tempel mit verborg’nen Gängen
verblassen vor dem Schatz, den ich behüte.

Ich bin ein Friedhof, den das Mondlicht meidet,
wo ihren Reigen reuevoll die Verse tanzen
um die, die mir am teuersten gewesen.
Ich bin ein Speicher voller welker Rosen,
mit abgelegten Moden und verblassten Bildern,
aus denen klagend die Erinn’rung strömt
wie eine Blume, die der Abendwind zerpflückt.

Wenn die Lawinenwand des Winters lähmend
auf den Uhren lastet, jeden Schritt erstickend,
dehnt ins Unendliche die Schattenschwingen
der dunkle Vogel der Melancholie.
Heute noch in der Welt, wirst bald
ein Fels du sein in einer fernen Brandung,
ein Dünenhang in einer Nebelwüste,
eine Sphinx, die keine Karte kennt
und die nur dann erwacht, wenn selbstvergessen
die Abendsonne über ihre Seele streicht.

English Version

Charles Baudelaire’s Fleurs du Mal – Flowers of Evil?

Reflections on the basis of one of the Spleen-poems in the collection

Les Fleurs du Mal, Charles Baudelaire’s famous collection of poems, is usually translated as „The Flowers of Evil“. However, the meaning of „le mal“ is far more complex. Thus, Baudelaire’s poetic flowers do not exclusively arise from „evil“.

Baudelaire’s main work is the collection of poems entitled „Les Fleurs du Mal“. It was first published in 1857, but only took on its final form in the third edition, published in 1868, one year after Baudelaire’s death.
The title is commonly translated as „The Flowers of Evil“. Such a translation is justified insofar as Baudelaire himself explicitly regarded the category of evil as a central driving force of human action. Some of the poems in the collection are indeed clearly influenced by this view of human nature (as for example Le revenant).
On the other hand, the Fleurs du Mal represent only a partial cycle within the framework of the entire book of the same name. Alongside this, there are other cycles, whose titles (including The Wine or Parisian Pictures) indicate a more complex conception of the volume.
By limiting the focus to the aspect of evil, there is a risk of following clichés that were already disseminated by Baudelaire’s critics during his lifetime – which was one of the reasons why some of his poems were temporarily banned. Ultimately, the poet himself was considered „evil“ or at least wicked in this context, because he dared to depict the flip side of bourgeois society in poetry, i.e. that which was „evil“ from its perspective: the beggars, the whores, the good-for-nothing drifters, the sick, the drunkards and the lovers of other drugs, but also ageing and death.
It is therefore worth recalling that the meaning of „le mal“ is by no means limited to „evil“. In numerous expressions, the term also refers to pain, sorrow and physical discomfort. Thus, „le mal du pays“ refers to homesickness, and someone who has „mal au cœur“ is sick. This makes the image of the Fleurs du Mal more complex than it appears at first glance.
In fact the „sickly flowers“ that Baudelaire announces in the dedication of his book of poems to Théophile Gautier can also grow out of pain. This is also indicated by two key terms in the volume: „ennui“ and „spleen“. Both terms are difficult to translate, but in their associative linking of weariness and melancholy, boredom and indefinite resentment, they are closely related to the characteristic state of mind of modern man, his feelings of alienation and his unhappiness in a world that has lost its self-evident structure of meaning and order.
No less than four poems in the Fleurs du Mal bear the title Spleen. The second of these evokes the complex of feelings it refers to through the burden of memories that a person accumulates in the course of a lifetime. First of all, it is the sheer mass of memories that testifies here to the inescapable transience. In addition, each single memory is a painful wound in which the experiences of loss manifest themselves. Thus, the frozen life of the past leads to the feeling of being inwardly frozen oneself and of existing only as a living dead.

Original text

Free translation

Spleen

(Spleen 2; FM 78, S. 199)

Memories are stored in me like from a thousand years …

My heart is an enormous vault,
a labyrinth of cellars, a pyramid,
a mass grave, in which memories are stored
up to the edge. Altars with secret shrines,
temples with hidden passages
grow pale before the treasure I preserve.

I am a graveyard that the moonlight evades,
where verses dance their rueful round dance
around those who have been dearest to me.
I am an attic full of withered roses,
with faded fashions and with paled pictures,
from which the memories mournfully flow
like a flower that the evening wind plucks up.

When the avalanche wall of winter weighs
down on the clocks, suffocating every step,
the dark bird of melancholy stretches
its shadowy wings into infinity.
Today still in the world, you soon will be
a rock in a faraway surf,
a slope of dunes in a desert of fog,
a sphinx of whom no map can tell
and who awakens only when, obliviously,
the evening sun caresses its soul.

Nachweise /References

FM: Baudelaire, Charles: Les Fleurs du Mal (first edition 1857, 2nd, expanded and revised edition 1861, 3rd, posthumous edition 1868); edition used: Les Fleurs du Mal. Paris 1868: Michel Lévy Frères (Œuvres completes / Complete works, vol. 1, ed. by Charles Asselineau and Théodore de Banville).

Bilder Pictures: Carl Gustav Carus (1789-1869): Friedhof auf dem Oybin / Graveyard on the oybin (1828). Museum der Bildenden Künste Leipzig (Wikimedia); Sammeera Matusanka: Rose (Pixabay)

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