1866 schrieben Schüler an die Tafel eines Gymnasiums im südfranzösischen Tournon die Worte:
„Je suis hanté. L’Azur! L’Azur! L’Azur! L’Azur!“
(„Ich werde verfolgt. Der Azur! …“)
Es war der Schlussvers eines Gedichts von Stéphane Mallarmé, das kurz zuvor in einer Anthologie veröffentlicht worden war. Die auf den ersten Blick befremdlich wirkenden Worte lösten an der Schule einen Skandal aus. Für einen Englischlehrer – als der Mallarmé an dem Gymnasium tätig war – galt es als unschicklich, derartige Verse zu verfassen. So wurde der Dichter der Schule verwiesen und musste seinen Dienst fortan in einer anderen Stadt (in Besançon) verrichten.
Was damals niemand wusste: Die Worte gehören zu den Schlüsselversen des geistigen Kosmos Mallarmés. Der „Azur“ ist eine zentrale Metapher für seine Dichtung. Als Inbegriff des makellos blauen Himmels steht der „Azur“ in seiner Reinheit für ein den menschlichen Möglichkeitsraum übersteigendes Vollkommenheitsideal. Es ist gleichermaßen Sehnsuchtsziel und unerreichbares Gegenbild zur Vergänglichkeit des Alltags, Abbild des Erhabenen und Spiegel des Schrecklichen, im Sinne des den Menschen abweisenden Gleichmuts des Himmels.
Auch für den dichterischen Schaffensprozess ist die ambivalente Beziehung zum Idealen bei Mallarmé von zentraler Bedeutung. Das Gedicht Der Azur, aus dem der oben zitierte Vers stammt, verdeutlicht dies auf programmatische Weise. Der Dichter strebt hier mit seinem „sehnsuchtsvolle[n] Geist“ nach einem adäquaten Ausdruck für die ‚gleichmütige Schönheit‘ des Azurs. Da das Erhabene die menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten grundsätzlich übersteigt, bleibt dieses Ziel jedoch unerreichbar für ihn.
Dennoch verfolgt der ‚bohrende Blick‘ des Azurs ihn überallhin: Er kann seiner Bestimmung, das Ideal ebenso zu benennen wie den „Riss im Himmel“, der den Menschen von diesem Ideal trennt, nicht entkommen.
In der Liebe bezeichnet der „Azur“ bei Mallarmé die Unerreichbarkeit des Ideals dauerhafter, vollkommener Vereinigung. Hierauf verweisen in Tristesse d’été („Traurigkeit des Sommers“; 1866) die Traumworte:
„Nie werden wir als eine Mumie ruhen
unter den glückseligen Palmen der alterslosen Wüste.“
Allerdings wird der Liebe, ebenso wie der Kunst, das Potenzial zugeschrieben, eine Ahnung von einem Sein vollkommener Harmonie zu vermitteln. So träumen die Liebenden sich in Soupir („Seufzer“) hinauf in den Azur, der in seiner Unendlichkeit eine tröstende Zuflucht bietet vor dem „jardin mélancholique“, dem melancholischen Garten des Herbstes.
Originaltext: Soupir
Seufzer
Befleckt vom Sommersprossenglanz des Herbstes,
versinkt meine Seele, verschwiegene Schwester, an deiner Stirn
im fliehenden Himmel deiner Engelsaugen
und steigt mit den träumenden Wasserspielen
aus leergeweinten Gärten auf in den Azur.
– In den Azur, besänftigt von der reinen Blässe des Oktobers
und seiner wissenden Wunde,
den verblutenden Blattgespinsten auf dem erstarrenden Fluss,
in den der Wind eine Frostfurche gräbt, umzittert
von einem letzten, langen Sonnenstrahl.
(Soupir; Erstveröffentlichung 1866)
Maurice Ravel: Soupir. Bariton: Didier Henry; Klavier: Angéline Pondepeyre
Claude Debussy. Soupir. Bariton: Maurice Le Roux
Klavier: Noël Lee