Pjotr Nalitsch: Guitar / Morje (Das Meer)

Russische Selbstironie.

Wenn die Göttin der Liebe in Frankreich zu Hause ist, so dürfte der Gott der Ekstase wohl in Russland wohnen. Kaum irgendwo sonst verstehen sich die Menschen so meisterhaft darauf, den tristen Alltag für ein paar Stunden hinter sich zu lassen und in der Gemeinschaft mit anderen eine Insel des Glücks entstehen zu lassen. Mag sie auch am anderen Morgen wieder im grauen Meer des Alltags versunken sein: In diesem einen Augenblick, in dem man auf ihr tanzt und singt und lacht, schenkt sie einem doch ein Stückchen Ewigkeit.
Der Grund für diese Fähigkeit, es mal so richtig krachen zu lassen, ist natürlich derselbe, der auch auf den Dörfern hierzulande früher für besonders ausgelassene Feiern gesorgt hat: Je grauer der Alltag ist, desto bunter wünscht man sich die Feste. Auch wer sich nur wenige Feiern leisten kann, gestaltet diese dafür umso opulenter.
„Opulent“ ist in Russland durchaus wörtlich zu nehmen: Das Ideal derer, die eine Feier ausrichten, ist immer der „polnyj stol'“, also ein „voller Tisch“, der sich vor lauter duftenden Speisen und ebenso hochwertigen wie hochprozentigen Spülwässerchen nur so biegt. Daneben bedeutet „opulent“ aber auch, dass alle aus sich herausgehen und sich in ihr schönstes Lachen kleiden. Die Masken fallen, im gemeinsamen Tanzen und Singen feiert man die Gemeinschaft des Augenblicks.
Datscha Tanz NalitchDabei geht es nicht um die richtigen Schrittfolgen und Tonhöhen. Wichtig ist allein, dass alle mitmachen können. Nichts demonstriert das so schön wie der Gummistiefel-Kasatschok, den Pjotr Nalitsch im Videoclip zu seinem Song Gitar (Guitar) inszeniert. Dass dabei auf der Datscha getanzt wird, ist sicher kein Zufall. Denn die Datscha-Welt steht eben für jene Ungezwungenheit und jenen vorübergehenden Austritt aus der Welt der sozialen Rollen und Regeln, die das gemeinsame Feiern ermöglichen soll.
Der Song von Nalitsch, der Russland 2010 mit seinem „musykalnyj kollektif“ beim Eurovision Song Contest vertreten hat (mit dem Song Lost and forgotten), ist überdies auch ein schönes Beispiel für die spezielle Art des „russkij jumor“. Russischer Humor enthält immer eine Spur Selbstironie, er entlarvt die ewige Selbstüberschätzung und Selbstverliebtheit des Menschen und führt auf groteske Weise die mangelnde Passung von himmelsstürmerischen Zielen und erdgebundenen Möglichkeiten vor Augen. In Gitar ergibt sich hieraus ein herrlich selbstironischer, in einem cowboy-coolen Nonsens-Englisch dargebotener Abgesang auf machohafte Selbststilisierung.
In anderen Songs von Nalitsch ist die Ironie etwas leiser. Manchmal ergibt sie sich auchgitarxvideo-1912193_0x440 erst aus dem Kontrast zwischen Text und Gesangsdarbietung. So karikiert in Lost and forgotten das übersteigerte Pathos des Gesangs das Selbstmitleid des Ichs in dem Text (was besonders schön in der Datschnyj-Unplugged-Version zur Geltung kommt). Gleiches gilt für den Song Morje („Das Meer“). In diesem Fall wird der melancholische Text zudem von einem humorvollen Videoclip (in Zeichentrickform) begleitet, der den (tragi-)komischen Charakter des Textes zusätzlich unterstreicht.
Die spielerisch-selbstironische Distanz, die aus vielen Songs von Nalitsch spricht, scheint mir allgemein ein wirksames Gegengift zu sein gegen die Neigung des Menschen, sich selbst zu wichtig zu nehmen. Gerade die düstersten Bedenkenträgermienen sollten sich ab und an durch einen vergleichbaren Abstand zur eigenen Selbstgefälligkeit aufhellen. Das Problem ist nämlich, dass das menschliche Dasein sich gerade dann am deutlichsten in seiner Lächerlichkeit offenbart, wenn es sich in den Talar der Bedeutungsschwere kleidet.

Der 1981 in Moskau geborene Nalitsch, der zusätzlich zu seinem Architekturstudium auch eine professionelle Musikausbildung durchlaufen hat, führt damit in doppelter Hinsicht die Familientradition fort: Er ist Sohn eines Architekten und Enkel eines bosnischen Opernsängers. Die Songs seiner Band MKPN (Musykalnyj Kollektiv Pjotra Nalitscha) werden auf deren Website als freier Download angeboten.

Pjotr Nalitsch (engl. Nalitch/Nalich):

Gitar (Guitar)

 

Pjotr Nalitsch: Morje

aus: Morje („Das Meer“); 2009

Videoclip

Liedtext

Übersetzung:

Das Meer

Über der endlosen Weite des Meeres
blinken die Leuchttürme mit den Sternen.
Mit einem leisen Lied auf den Lippen stechen wir in See.
Singt mit, meine Matrosenfreunde!

Ein warmer Wind wiegt unser Boot,
über dem Wasser schwebt der Nebel.
Nie vergesse ich deinen Gang,
genauso wenig wie deinen Betrug.

Du hast heute die ganze Nacht mit Wahrsagungen zugebracht,
mein Schatz, mit wem wirst du wohl zusammen sein?
Du hast die Karten auf dem Feld verteilt
und meine Träume in Stücke gehauen.

Die Wellen türmen sich höher und höher,
aber mir ist das längst einerlei –
mich hört ohnehin keiner mehr.
Mit einem leisen Lied auf den Lippen sinken wir auf den Grund.

Dort, auf dem Grund des Meeres, werde ich liegen,
in einer Welt der lautlosen Schönheit,
und über mich werden die Kapitäne hinweggleiten,
mit denen du dich vielleicht gerade amüsierst.

Du hast heute die ganze Nacht
am Heck auf die Wellen geschaut.
Dort, in der Tiefe, hast du einen Körper gesehen.
Ja, das bin ich, ich werde immer bei dir sein.

 

Mehr Musik aus Russland: Putinistan und Russkij-Rockistan. Zur Kontinuität der musikalischen Gegenkultur in Russland.

 

Bilder: Screenshots aus den Videos zu „Gitar“ und „Morje“

Eine Antwort auf „Pjotr Nalitsch: Guitar / Morje (Das Meer)

  1. R. Schmitt

    Vielen Dank für diesen supertollen Beitrag. Heute: Nicht mein Tag, schlechte Laune. Das Video „Guitar“ angesehen und angehört. Das ist wie Medizin: Laune super, Lächeln auf dem Gesicht! Vielleicht ist die russische Datscha DIE Medizin für die verkrampften und verspannten Deutschen?- „Das Problem ist nämlich, dass das menschliche Dasein sich gerade dann am deutlichsten in seiner Lächerlichkeit offenbart, wenn es sich in den Talar der Bedeutungsschwere kleidet.“- Gut gesprochen, Herr Baron!

    Gefällt 1 Person

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