Charles Baudelaire: Le revenant (Der Wiedergänger)

English Version

Charles Baudelaires bahnbrechender, zuerst 1857 erschienener Gedichtband Les fleurs du mal ist im deutschsprachigen Raum, trotz anderweitiger Übersetzungsmöglichkeiten, vor allem als Die Blumen des Bösen bekannt. Dafür gibt es gute Gründe. So wird etwa in dem Gedicht Abel et Caïn Kain dazu aufgefordert, sein Werk zu vollenden und Gott „aus dem Himmel zu werfen“, da das Geschlecht Abels, allen ihm von Gott gewährten Privilegien zum Trotz, die Welt mit Krieg und Zerstörung überzogen hat. Aus demselben Grund ist in den Litanies de Satan auch Satan, als Gegenspieler Gottes, der Adressat für die Fürbitten der leidenden Menschen; denn Gott hat mit der Bevorzugung Abels ja sein Versagen unter Beweis gestellt.

Ausdrücklich verwahrt Baudelaire sich dagegen, das Böse „auf die Einflüsterungen des Teufels zurückzuführen“. Vielmehr sei es oft gerade Gott, der das Böse „für die Wiedererrichtung der Ordnung und die Züchtigung der Missetäter nutzt; – nachdem er sich derselben Missetäter als Komplizen bedient hat„. Auf der Ebene des konkreten Handelns manifestiert sich das Böse in der Lust an der Zerstörung. Es zeigt sich darin, dass bestimmte Handlungen „ihren Reiz allein daraus“ gewinnen, „dass sie boshaft und gefährlich sind“ bzw. „die Anziehungskraft des Abgründigen“ besitzen.

Charles Baudelaire: Le revenant

Freie Übertragung:

Der Wiedergänger

Ein Engel mit flackerndem Blick,
so suche ich des Nachts dich heim
und schleiche aus dem Schattenmeer
geräuschlos mich in deinen Schlaf.

Mondscheinkalt sind meine Küsse,
ich streichle dich wie eine Schlange,
die heimlich über einer Grube
dich in die dunkle Tiefe zieht.

Wenn der Morgen bleiern graut,
ist verwaist mein Platz und kalt,
bis der nächste Tag zerfällt.

Wo and’re zärtlich dich bezwingen,
mache ich durch das Entsetzen
mir deine Jugend untertan.

Baudelaire-Zitate entnommen aus Notes nouvelles sur Edgar Poe (Neue Anmerkungen zu Edgar Poe, 1857), Abschnitt I; zitierte Gedichte aus Les fleurs du mal, Zyklus Révolte.

Vertonung von Mens Divinior / Music setting by:

 

English Version

Le revenant

Charles Baudelaire’s groundbreaking volume of poetry, Les Fleurs du Mal, first published in 1857, is mostly translated as The Flowers of Evil, despite other possible translations.
There are some good reasons for this. For example, in the poem Abel et Caïn, Cain is called upon to complete his work and „cast God out of heaven“, since the race of Abel, despite all the privileges granted to it by God, has covered the world with war and destruction.
For the same reason, in the Litanies de Satan, the devil, as God’s adversary, is the addressee for the intercessions of suffering people. He appears more powerful, or at least more authentic, than God – who, by favouring Abel, has demonstrated his failure.
Baudelaire explicitly rejects attributing evil „to the whisperings of the devil“. According to him, it is often precisely God who uses evil „for the re-establishment of order and the chastisement of wrongdoers – after having made use of the same wrongdoers as accomplices“.
As far as concrete action is concerned, evil manifests itself in the desire for destruction. According to Baudelaire, it bears witness to the fact that certain actions „derive their appeal merely from the fact that they are malicious and dangerous“ or „possess the attraction of the abysmal“.

Free translation

The Revenant

(Le revenant; FM 65, p. 186)

An angel with flickering eyes,
that’s how I haunt you in the night,
sneaking out of the sea of shadows
noiselessly into your sleep.

My kisses are as cold as moonlight,
I caress you like a snake,
secretly slithering over an abyss,
I draw you into the gloomy depths.

When the morning leadenly dawns,
my place is deserted and cold,
until the next day decays.

While others tenderly defeat you,
I use the force of fright
to conquer your youth.

References: Baudelaire, Charles: Notes nouvelles sur Edgar Poe (New notes on Edgar Allan Poe; (1857). Preface to Poe, Edgar [Allan]: Nouvelles histoires extraordinaires (New extraordinary stories) [19 pages in four sections]. Paris 1884: Quantin.

Bild /Picture : Franz Stuck (1863-1928): Luzifer (1890)

2 Antworten auf „Charles Baudelaire: Le revenant (Der Wiedergänger)

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