Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Bruder Heinrich macht seinem Ruf als Bußprediger alle Ehre. Obwohl er aber alle irdischen Vergnügungen als Teufelswerk abtut, gelingt es ihm, seine Zuhörer für sich einzunehmen.
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Dienstag, 29. März 1485
Ich empfinde einen inneren Widerwillen dagegen, mich an die Worte des Predigers zu erinnern. Der Grund ist, glaube ich, der Überdruss an diesen geistigen Brandstiftern, die sich zu allen Zeiten zu Wortführern aufschwingen. In der Kegelstadt war das nicht anders als hier, und hier ist es nicht anders als in meiner ehemaligen Gegenwart.
Die Zeiten ändern sich, die Worte klingen etwas anders – aber der Inhalt der Reden bleibt sich doch gleich. Ich habe den Eindruck, ich könnte bis ans Ende aller Zeiten und von dort zurück bis an den Anfang der Welt reisen – und würde doch immer nur auf dasselbe geistige Brandschatzen in anderem Gewand treffen.
Nicht gerade ein ermutigender Gedanke! Aber ein bisschen verstehe ich mich ja auch als Chronist meiner eigenen Zeitreise. Und wer weiß, wozu es später einmal gut sein wird, wenn ich jetzt alles genau aufzeichne. Also stelle ich mich doch meiner Chronistenpflicht und bemühe mich um eine Rekonstruktion des denkwürdigen Tages.
- Eine Predigt auf dem Marktplatz
Von Anfang an hat Bruder Heinrich eine geradezu missionarische Ungeduld an den Tag gelegt. Die Begrüßungszeremonien, zu denen die anwesende städtische Prominenz ansetzen wollte, hat er, wie ich finde, auf recht unhöfliche Weise abgewürgt. Er ist einfach mit einem flüchtigen Kopfnicken an dem Ehrenspalier vorbei auf die für ihn aufgestellte Kanzel gestürmt.
Die Ratsherren hatten gerade erst auf der Holztribüne Platz genommen, da stand er auch schon an seinem Predigerpult. „Gelobt sei Gott!“ rief er der Menge zu.
Nachdem das vielstimmige „Amen“ verklungen war, begann er mit seiner Rede: „Im letzten Jahr habe ich hier zu euch über etwas Furchtbares gesprochen – über den Abfall vom Glauben! Mit vereinten Kräften haben wir damals eure Stadt von dem Übel gereinigt, das sich in ihr ausgebreitet hatte, und so diese Welt schöner, sicherer und besser gemacht. Leider ist jedoch das Böse zu stark, als dass wir es mit einem einzigen Kreuzzug besiegen könnten. Kaum hat man es an einem Ort besiegt, taucht es an einem anderen wieder auf. Auch wechselt es ständig seine Formen und maskiert sich immer wieder auf andere Weise. Sogar als ‚Engel des Lichts‘ kann der böse Feind uns ja erscheinen, wie die Heilige Schrift uns warnt.“
Sobald der Prediger zu reden begonnen hatte, waren die Gespräche auf dem Platz verstummt. Die Backwarenverkäufer schlängelten sich nun nur noch mit größter Vorsicht durch die Menge, als wäre ihre Ware aus Glas. Es war ein bemerkenswerter Kontrast zu dem Jahrmarktstreiben in der Kirche, das von dem geistlichen Geschehen so gänzlich unberührt geblieben war.
Dabei sprach Bruder Heinrich keineswegs besonders laut. Seine Stimme klang eher wie ein Zischen, ähnlich dem Geräusch, das entsteht, wenn kaltes Wasser auf einen heißen Gegenstand trifft. Gerade das machte es freilich schwer, sich seinen Worten zu entziehen. Durch den Flüsterton, in dem er zu predigen schien, war es, als würden seine Worte sich unmittelbar in die Ohren des Publikums ergießen. Es war ein bisschen wie bei einem Hypnotiseur, der seine Opfer ja auch weniger durch den Inhalt seiner Worte als durch die Art des Sprechens in einen willenlosen Zustand versetzt.
Die Unmittelbarkeit seiner Wirkung verstärkte sich noch durch die ausholenden Bewegungen seiner Arme, mit denen er geradezu nach seinen Zuhörern zu greifen schien. Hinzu kam, dass seine ganze Erscheinung ausgesprochen knöchern war. Aus seinem schmalen Gesicht ragten Nase und Kinn wie ein Ausrufezeichen hervor, und seine Finger krümmten sich wie die Krallen eines Greifvogels, wenn er die Arme beschwörend ausbreitete.
„So muss ich“, fuhr er fort, „heute zu euch über ein anderes Übel sprechen, das für die Gemeinschaft der Gläubigen noch viel gefährlicher ist als der Abfall vom Glauben. Jeder Zweifel am Glauben ist wie eine Krankheit, die unsere Gemeinschaft befällt, wie ein Bazillus des Bösen am Leib Christi. Hiervon sind jedoch nur diejenigen betroffen, die ohnedies schon schwach sind im Glauben.“
Er verzog missbilligend das Gesicht. „Das Übel, an das ich denke, befällt dagegen nicht nur die Schwachen. Es trifft nicht nur die, die sich von sich aus der Gemeinschaft der Gläubigen zurückgezogen haben und bei denen der quälende Zweifel als Geißel Gottes betrachtet werden kann. Nein, dieses Übel kann uns alle in jedem Augenblick treffen – auch mich, der ich hier vor euch stehe, um euch vor ihm zu warnen!“
Der Prediger ließ seinen Blick über die Reihen der Zuhörer schweifen, dann rief er, seiner Wirkung gewiss, aus: „Ich spreche von dem Übel der Hexerei!“
Das Wort „Hexerei“ löste ein furchtsames Raunen in der Menge aus. Als willkommene Untermalung seiner Rede ließ der Prediger dieses anschwellen und wieder abebben, ehe er seine Rede fortsetzte. „Obzwar ein jeder der Hexerei zum Opfer fallen kann, müssen wir doch betonen, dass dieses Übel fast immer vom Weibe seinen Ausgang nimmt. Männer sind von ihr fast nie betroffen – und wenn, dann nur infolge einer völligen Verwirrung der Geistes, die sie die Natur des Weibes übernehmen und das eigene Geschlecht verleugnen lässt. Dass es sich dabei um eine Entartung handelt, lässt sich schon daran erkennen, dass Gott der Herr das männliche Geschlecht dem weiblichen vorzog, als er in das Reich der Menschen herabstieg.“
Ich sah mich vorsichtig um: Alle hingen gebannt an den Lippen des Predigers. Nirgends sah ich auch nur eine Andeutung von Skepsis oder gar Ablehnung. „Außer der Heiligen Schrift und dem Zeugnis glaubwürdiger Männer lehrt uns auch unsere eigene Erfahrung“, argumentierte Bruder Heinrich weiter, „dass das Weib über einen natürlichen Hang zur Hexerei verfügt. Die Eitelkeit des Weibes ist ja so allgemein bekannt, dass wir hier gar nicht viele Worte darüber verlieren müssen. Wir müssen uns nur umschauen, dann finden wir sie hundertfach bestätigt. Wahrlich, ein einziges Höllenfenster ist die Kleidung des Weibes, denn sie öffnet den Blick weit ins Verderben, das uns durch die Fleischeslust droht!“
Wie mir Albertus später erklärte, spielte der Prediger mit diesen Worten auf die „fenêtres d’enfer“ an, die weiten Öffnungen, welche die Obergewänder vieler Frauen in Höhe der Achselhöhlen aufwiesen. Da sich darunter allerdings nicht etwa nackte Haut, sondern vielmehr ein Unterkleid befand, machte diese Art der Kleidung auf mich keineswegs einen aufreizenden Eindruck. Zwar waren die „Höllenfenster“ vielfach pelzumrandet, wodurch sie vielleicht den Blick der Männer auf diese Stelle des weiblichen Körpers lenken und ihre Phantasie anregen mochten. Verglichen mit der Mode späterer Jahrhunderte, wurden die weiblichen Formen jedoch so gut wie gar nicht betont.
Wenn überhaupt, hätte man eher die Kleidung der Männer als unanständig bezeichnen können. Deren strumpfhosenähnliche Beinkleider lagen so eng an, dass die Formen des Körpers sich darunter deutlich abzeichneten. Da zudem die eng auf Taille geschnittenen Jacken bei manchen ausgesprochen kurz geschnitten waren, sahen einige so aus, als wären sie unterhalb der Jacke nackt.
Besonders auffallend war dies bei einem abseits stehenden Mann, von dem die übrigen Zuhörer Abstand hielten, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Hier wurde das Obszöne der Kleidung noch zusätzlich dadurch betont, dass Jacke und Beinkleid in grellen, miteinander kontrastierenden Farben gehalten waren: Die Jacke war dunkelrot, die Hose violett gefärbt.
Erst später sollte ich erfahren, dass das bunte Äußere des Mannes in scharfem Kontrast zu seinen düsteren Aufgaben stand.
Anmerkungen:
Engel des Lichts: bezieht sich auf den zweiten Paulus-Brief an die Korinther (2 Kor 11, 14)
dass dieses Übel fast immer vom Weibe seinen Ausgang nimmt: Dies entspricht der Im Hexenhammer vertretenen Auffassung; vgl. Sprenger, Jakob / Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum; 1487). Der Hexenhammer, S. 74 f.: Erster Teil, Sechste Frage. Ausgabe Berlin und Leipzig 1923: Barsdorf.
Zeugnis glaubwürdiger Männer / auch unsere eigene Erfahrung: Vgl. ebd., S. 65
Eitelkeit des Weibes: Die Passage greift eine Rede des Straßburger Volksprediges Johannes Geiler von Kaysersberg aus dem Jahr 1498 auf (Über die bösen und zornigen Weiber und ihre Sitten). Der Text ist online verfügbar auf arsfemina.de (Themenkomplex Das Frauenbild der Kirche und der Theologie) und abgedruckt in Ketsch, Peter / Kuhn, Annette (Hg.): Frauen im Mittelalter. Quellen und Materialien, Bd. 2: Frauenbild und Frauenrechte in Kirche und Gesellschaft, S. 84. Düsseldorf 1983/84: Schwann-Bagel.

English Version
Brother Henry/2: A Sermon in the Marketplace
Brother Henry fully justifies his reputation as a preacher of repentance. However, although he dismisses all earthly pleasures as the work of the devil, he succeeds in winning over his listeners.
Tuesday, March 29, 1485
I feel an inner reluctance to remember the words of the preacher. I think this is because I am just fed up with these spiritual arsonists who usurp leadership at all times. It was no different in the Cone Town than it is here, and it is no different here than it was in my former present.
Times change, the words sound a little different – but the content of the speeches remains the same. I have the impression that I could travel to the end of all times and from there back to the beginning of the world – and would only ever encounter the same spiritual incendiary, albeit always in a different guise.
Not exactly an encouraging thought! But since I see myself a bit as a chronicler of my own time travel, I’ll do my duty as a chronicler and try to reconstruct this remarkable day.
- A Sermon in the Marketplace
From the very beginning, Brother Henry exhibited an almost missionary impatience. The welcoming ceremonies of the city’s notables were quite rudely stifled by him. He simply stormed past them with a perfunctory nod of the head to the pulpit set up for him.
The councillors had barely taken their seats on the wooden stands when he stepped up to his lectern and started his sermon. „Praise be to God!“ he shouted to the crowd.
After the many-voiced „Amen“ had faded away, he began his speech: „Last year I spoke to you here about something terrible – about apostasy, the mortal sin of falling away from faith! At that time, with united forces, we cleansed your city of the evil that had spread in it and thus made this world more beautiful, safer and better. Unfortunately, however, the evil is too strong for us to defeat it with a single crusade. No sooner has it been defeated in one place than it reappears in another. Moreover, it constantly changes its forms and masks itself in ever new ways. Even as an Angel of Light the evil enemy can appear to us, as the Holy Scripture admonishes us.“
As soon as the preacher had started talking, the conversations in the square had fallen silent. The pastry sellers now made their way through the crowd with utmost caution, as if their goods were made of glass. It was a remarkable contrast to the hustle and bustle in the church, which had remained so completely unaffected by the spiritual events.
Yet Brother Henry did not at all preach in a particularly loud tone. His voice sounded more like a hiss, similar to the sound that occurs when cold water hits a hot object. Of course, this was precisely what made it difficult to escape his words. Because of the whispering tone in which he seemed to speak, it felt as if his words were pouring directly into the ears of the audience. The effect was a bit like that of a hypnotist, who deprives his victims of their will not so much through the content of his words as through the way he speaks.
The immediacy of his impact was reinforced by the sweeping movements of his arms, with which he almost seemed to reach for his listeners. On top of that, his whole appearance was decidedly bony. His nose and chin protruded from his narrow face like an exclamation mark, and his fingers curled around the lectern like the claws of a bird of prey.
„So I must speak to you today,“ he continued, „about another evil, which is a much greater danger to the faithful than apostasy. Admittedly, every doubt about the faith is like a disease that infects our community, like a bacillus of evil in the body of Christ. But this only affects those who are already weak in their faith.“
He frowned in disapproval. „The evil that I have in mind, by contrast, does not only affect the weak. It does not only afflict those who have withdrawn from the community of believers and for whom the tormenting doubt can be considered the scourge of God. No, this evil can strike all of us at any moment – including me, who stand here before you to warn you of it!“
The preacher let his gaze wander over the rows of listeners. Then, savouring the impact of his words, he exclaimed: „And this evil, my fellow believers, is the evil of witchcraft!“
The word „witchcraft“ caused a fearful murmur in the crowd. The preacher let it swell and subside again before continuing his speech. „Although anyone can fall victim to witchcraft, we must emphasise that this evil almost always originates in women. Men are hardly ever affected by it – and if they are, it is only as a result of a complete confusion of the mind that makes them adopt the nature of women and deny their own sex. That this is a degeneracy is evident from the preference for the male sex which our Lord showed when he descended for us into the realm of man.“
I looked around cautiously: Everyone was hanging spellbound on the preacher’s lips. Nowhere did I see the slightest hint of scepticism or even rejection. „Apart from the Holy Scripture and the testimony of trustworthy men, our own experience also teaches us,“ Brother Henry argued, „that women have a natural inclination towards witchcraft. After all, their vanity is so obvious that we don’t need to say much about it here. We only have to look around, and we will find it confirmed a hundred times over. Truly, the woman’s clothing is a single window into hell, for it opens the view far into the perdition that menaces us through carnality!“
As Albertus explained to me later, the preacher was alluding with these words to the „windows to hell“, the wide openings that many women’s outer garments had at the level of the armpits. However, since there was no naked skin underneath, but an undergarment, this type of clothing did not make a provocative impression on me at all. It is true that the „windows to hell“ were often edged with fur, which perhaps drew men’s attention to this part of the female body and stimulated their imagination. Compared to the fashion of later centuries, however, the female forms were hardly emphasised at all.
If anything, the men’s clothing could have been considered indecent. Their pantyhose-like leggings were so tight that the shapes of their bodies were clearly visible. Moreover, since the jackets, fitting tightly around the waist, were cut decidedly short on some, quite a few looked as if they were naked below the jacket.
This was particularly striking in the case of a man standing apart, from whom the rest of the audience kept their distance as if he had a contagious disease. Here, the obscenity of the clothing was further emphasised by the fact that jacket and leggings were in garish, dissonant colours: The jacket was dyed dark red, the pants had a violet hue.
Only later did I learn that the man’s colourful exterior contrasted sharply with his gloomy duties.
Annotations:
Angel of Light: refers to the second Epistle of Saint Paul to the Corinthians (2 Cor 11:14).
This evil almost always originates in women: This corresponds to the view advocated in the Hammer of Witches; cf. Sprenger, Jakob / Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum; 1487). Der Hexenhammer, p. 74 f.: First Part, Sixth Question. Berlin and Leipzig 1923 edition: Barsdorf; English version available on sacred-texts.com and in the Internet Archive.
Testimony of trustworthy men / our own experience: Cf. ibid., p. 65.
Vanity of women: The passage takes up a speech given by the popular preacher Johannes Geiler of Kaysersberg in Strasbourg in 1498 („Über die bösen und zornigen Weiber und ihre Sitten“ / On the wicked and angry womankind and their manners). The text is available online at arsfemina.de (topic complex „Das Frauenbild der Kirche und der Theologie“ [The Image of Women in Church and Theology] and printed in Ketsch, Peter / Kuhn, Annette (eds.): Frauen im Mittelalter. Quellen und Materialien [Women in the Middle Ages. Sources and Materials], vol. 2: Frauenbild und Frauenrechte in Kirche und Gesellschaft [The Image of Women and Women’s Rights in Church and Society], p. 84. Düsseldorf 1983/84: Schwann-Bagel.
Bilder / Images: Thomas III de Saluces: Marktplatz in Paris / Marketplace in Paris (um 1400); Wikimedia common); Mittelalterlicher Prediger 14. Jhd.