Paul Verlaines Gedicht Pierrot / Paul Verlaine’s Poem Pierrot
Heute beginnt auf LiteraturPlanet eine Reihe mit Gedichten des französischen Schriftstellers Paul Verlaine, nachgedichtet von Ilona Lay. Den Anfang macht sein Gedicht Pierrot.
Pierrot
Nur das Gespenst des Träumers, der von hohen Seilen
lachte einst in schreckensbleiche Gesichter,
sucht heute uns heim. Freudlos sieht man die Lichter
sein mondfahles Antlitz umeilen.
In den gnadenlos ihn umzüngelnden Blitzen
bläht wie ein Leichentuch schon der Wind sein Kleid.
Sein Mund, ein Abgrund, heult lautlos im Leid,
als würden die Würmer schon ihm die Haut zerritzen.
Dem Vogelschwarm gleich, der die Nacht durchschwirrt,
sind seine Ärmel hilflos verwirrt
zu Zeichen, die unverstanden verhallen.
Und durch die Löcher der Augen wühlt sich das Licht
wie Schlangen, indessen unter der Schminke Schicht
die blutleeren Lippen im Todeskampf lallen.
Paul Verlaine: Pierrot; aus: Jadis et Naguère (1884)
Der Pierrot der Commedia dell’arte
Die Gestalt des Pierrot entstammt ursprünglich der Commedia dell’arte. Darin war der Pierrot ein Gegenspieler des Arlecchino, der sich im Lauf der Zeit zu einem volkstümlichen Schelm entwickelt hatte. Als solcher setzt er seinen Anspruch auf ein glückliches Leben mit schalkhaften Mitteln durch, die gerne auch mal die moralischen Normen kreativ umdeuten.
Der Pierrot widersetzt sich diesem in seinen Augen unsozialen Verhalten, indem er dem Arlecchino Steine in den Weg legt und ihn beständig belehrt. Als Figur, die sich in ihrer moralischen Überlegenheit sonnt, durch eben diese Selbstgerechtigkeit aber die Sinnhaftigkeit starrer Normen fragwürdig erscheinen lässt, lebt der Pierrot auch heute noch in der Zirkuswelt fort. Er ist dort in der Figur des Weißclowns aufgegangen, der seinen Mitspieler, den Dummen August, zu erziehen versucht – natürlich vergeblich.
Weiterentwicklung der Figur durch Jean-Gaspard Deburau
Der Pierrot, wie wir ihn heute kennen, verdankt sich ironischerweise einem bürokratischen Willkürakt. Das Pariser Théâtre des Fumnambules (Theater der Seiltänzer), wo die Figur in ihrer heutigen Form entwickelt wurde, besaß keine behördliche Erlaubnis für sprachliche Darbietungen. Es musste sich daher auf akrobatische und andere nonverbale Vorführungen beschränken.
So kam 1816 auch Philippe Germain Deburau an das Theater. Er war mit seiner Familie 1811 aus Böhmen nach Paris ausgewandert und trat im Théâtre des Fumnambules als Seiltänzer auf.
Deburaus Sohn, der 1796 geborene Jean-Gaspard Deburau, kam auf die Idee, das Sprachverbot für die Vorstellungen durch pantomimische Darstellungen zu umgehen. Dafür griff er auf die Gestalt des Pierrot zurück, die er seinen Bedürfnissen entsprechend umwandelte.
Aussehen und Charakter von Deburaus Pierrot
Auf der äußeren Ebene sind die entscheidenden Änderungen, die Deburau an der Figur vornahm, das weiß geschminkte Gesicht, das lange weiße Gewand und die bauschigen Ärmel. All diese Elemente dienen dazu, Mimik und Gestik stärker zur Geltung zu bringen. Die Gesichtszüge zeichnen sich in einem weiß geschminkten Gesicht – zumal mit rot geschminkten Lippen – stärker ab, ein bauschiges Gewand erlaubt es, das Schattenspiel gezielter für den nonverbalen Ausdruck einzusetzen.
Der Charakter von Deburaus Pierrot hat ebenfalls kaum noch etwas mit seinem Vorgänger in der Commedia dell’arte zu tun. Der Pierrot ist nun kein moralinsaurer Besserwisser mehr, sondern ein meist unglücklich verliebter Träumer. Aus seinen untauglichen Versuchen, seine Träume in die Realität umzusetzen, ergeben sich gleichzeitig tragische und komische Effekte.
Als tragikomische, aufgrund seiner Beheimatung in einer Traumwelt notwendig zum Scheitern verurteilte Gestalt ist Deburaus – später von seinem Sohn Jean-Charles weiterentwickelte – Pierrot-Figur zwar noch immer ein Gegenbild zum Arlecchino. Der Kontrast ergibt sich nun aber nicht mehr aus dem Anspruch des Pierrot auf moralische Überlegenheit. Er beruht vielmehr auf dem Gegensatz zwischen der unbekümmert-schalkhaften Durchsetzung des kleinen Glücks durch den Arlecchino und dem träumerisch-tragischen Beharren auf dem ganzen, unteilbaren Glück durch den Pierrot.
Paul Verlaines Adaption der Pierrot-Gestalt
Paul Verlaine knüpft in seinem Pierrot-Gedicht erkennbar an die von Deburau entwickelte Figur an. So greift er etwa die bauschigen Ärmel des Pierrot-Gewands und die dick aufgetragene weiße Schminke auf. Dabei verleiht er der Figur allerdings eine Bedeutung, die sie teilweise aus ihrem ursprünglichen Kontext löst.
Die für die Pierrot-Gestalt charakteristische Tragikomik deutet Verlaine um in eine existenzielle Tragik, wie sie dem menschlichen Leben allgemein zugrunde liegt. Dies bezieht sich zum einen auf den Gegensatz von lebendiger Hülle und den Todeswürmern, die den Körper darunter ein Leben lang zersetzen. Zum anderen betrifft die existenzielle Tragik bei Verlaine aber auch die Ebene des sprachlichen Ausdrucks.
Die Eigenart der Pantomime, keine eindeutigen Mitteilungen machen zu können, wird von Verlaine im Sinne der Unmöglichkeit interpretiert, die Tragik des Lebens bzw. das Leiden daran angemessen in Worte zu fassen. Die Tragikomik des Pierrot basiert damit hier auf einer tragischen Fehldeutung seiner Gesten durch das Publikum – das lacht, wo die Figur auf der Bühne die Menschen im Saal mit der Wahrheit ihrer eigenen tragischen Existenz konfrontiert.

English Version
A Dreamer in the Labyrinth of Life
Paul Verlaine’s Poem Pierrot
Today a series with poems by the French writer Paul Verlaine, adapted by Ilona Lay, is launched on LiteraturPlanet. First up is his poem Pierrot.
Pierrot
Only the spectre of the dreaming tightrope walker
who once laughed into faces pale with horror
haunts us today. Joylessly the lights
dance around his moon-pale face.
In the mercilessly flickering flashes
his dress already billows like a shroud.
His mouth, an abyss, howls silently in suffering,
as if the worms were already gnawing at his skin.
Like a flock of birds that flit through the night
his sleeves are helplessly tangled
to signs that fade away unheard.
The rays of light wind lambently into his eyes,
while beneath the layer of make-up
his bloodless lip lines slur as if in agony.
Paul Verlaine: Pierrot; from: Jadis et Naguère (1884)
The Pierrot of the Commedia dell’arte
The character of Pierrot originally comes from the Commedia dell’arte. In it, Pierrot was a counterpart of Arlecchino (Harlequin), who had evolved over time into a folksy prankster. As such, he asserts his claim to a happy life with mischievous means that sometimes creatively reinterpret moral norms.
Pierrot opposes this behaviour, which he sees as antisocial, by putting obstacles in Arlecchino’s path and constantly telling him how to behave. As a character whose self-righteousness implicitly puts the sense of rigid norms into question, Pierrot still lives on in the circus world today. There he has merged into the figure of the white clown, who tries to educate his fellow player, the red clown or „Dummer August“ (Stupid Auguste) – in vain, of course.
Further Development of the Character by Jean-Gaspard Deburau
The Pierrot as we know the character today owes its origins, ironically, to an arbitrary bureaucratic act. The Théâtre des Fumnambules („Tightrope Walkers‘ Theatre“) in Paris, where the figure was developed in its present form, did not have official permission for performances using language. It therefore had to limit itself to acrobatic and other non-verbal forms of presentation.
This is also how Philippe Germain Deburau came to the theatre in 1816. He had emigrated with his family from Bohemia to Paris in 1811 and performed at the Théâtre des Fumnambules as a tightrope walker.
Deburau’s son, Jean-Gaspard Deburau, born in 1796, came up with the idea of circumventing the ban on language for the performances by using pantomime. To do this, he resorted to the character of Pierrot, which he modified to suit his needs.
Appearance and Personality of Deburau’s Pierrot
On the outer level, the decisive changes Deburau made to the figure are the white made-up face, the long white robe and the puffy sleeves. All these elements serve to bring out facial expressions and gestures more strongly. The facial features stand out more in a face with white make-up – especially with red lips – and a puffy robe allows the shadow play to be used in a more purposeful way for non-verbal expression.
The nature of Deburau’s Pierrot also has little in common with his predecessor in the Commedia dell’arte. The new Pierrot is no longer a moralistic know-it-all, but a dreamer who is usually haplessly in love. His ineffectual attempts to turn his dreams into reality result in tragic and comic effects at the same time.
As a tragicomic figure necessarily doomed to failure because of his being at home in a dream world, Deburau’s Pierrot – later further developed by his son Jean-Charles – is still a counter-image to Arlecchino. But the difference between the two characters no longer arises from Pierrot’s claim to moral superiority. Rather, it is based on the contrast between the carefree, mischievous assertion of a small piece of happiness by Arlecchino and the tragic insistence on the whole, indivisible happiness by Pierrot.
Adaptation of the Pierrot Character by Paul Verlaine
In his poem Pierrot, Paul Verlaine recognisably refers to the character developed by Deburau. Thus, he takes up the puffy sleeves of Pierrot’s robe and the thick white make-up. At the same time, however, he gives the character a meaning that partially detaches it from its original context.
Verlaine reinterprets the tragicomedy typical of Pierrot into an existential tragedy as it is generally inherent in human life. On the one hand, this concerns the contrast between the vibrant shell and the worms of death that decompose the body underneath for a lifetime. On the other hand, the existential tragedy in Verlaine’s poem also involves the level of verbal expression.
The peculiarity of pantomime not to be able to provide unambiguous messages is interpreted by Verlaine in terms of the impossibility of adequately expressing the tragedy of life or the suffering of it in words. The tragicomedy of Pierrot is thus based here on a tragic misinterpretation of his gestures by the spectators – who laugh when the figure on stage confronts them with the truth of their own tragic existence.
Bilder / Images: Arsène Trouvé: Jean-Gaspard Deburau (1796 – 1846) als Pierrot (1832); Paris, Musée Carnavalet (Wikimedia Commons); Jean Pezous (1815 – 1885): Portrait des Pantomimen [Jean-]Charles Deburau; Paris, Musée Carnavalet (Wikimedia Commons)
E.M.
Danke für diesen interessanten Beitrag, den ich gerne gelesen habe. Schöne Nachdichtung!
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