Gespräche mit Paula/4
„In jedem Kleidungsstück prägt sich die Individualität des Menschen aus, der es hergestellt hat. Deshalb gebietet es der Respekt vor der Herstellerin, ihre Individualität durch die Aufprägung ihrer Signatur zu würdigen.“
Marienerscheinung im städtischen Dschungel
Wenn man in der Stadt lebt, steht man ja eigentlich immer in der Gefahr, die Haltung eines Sklaven anzunehmen, der sich vor den Schlägen seines Herrn duckt. Ständig drohen Ampeln rot zu werden, Busse wegzufahren, die man unbedingt erreichen möchte, oder Autos aus Seitenstraßen auf einen zuzurasen. So gewöhnt man sich mit der Zeit automatisch eine fluchtbereit-abwehrende Haltung an.
Paula dagegen erlebt den städtischen Dschungel aus der Distanz einer Völkerkundlerin, die sich in der schützenden Obhut eines Einheimischen in das fremdartige Labyrinth vorwagt. So bewegt sie sich auch hier mit der gelassenen Anmut eines Menschen, der noch nichts von der Vertreibung aus dem Paradies weiß. Dies sichert ihr die Aufmerksamkeit der Passanten, die sich immer wieder mit der ungläubigen Sehnsucht eines Atheisten, der eine Marienerscheinung hat, nach ihr umdrehen.
Während Paula das ehrfurchtsvolle Staunen gar nicht wahrnimmt, fühle ich mich in ihrem auf mich abstrahlenden Glanz wie das Mitglied einer königlichen Entourage. Die persönliche Bekanntschaft mit ihr ist dann wie eine Auszeichnung, die ich stolz vor mir hertrage.
„Haben Sie die Hose selbst genäht?“
Manchmal kann die Bekanntschaft mit Paula allerdings auch recht peinlich sein – vor allem dann, wenn sie andere ungeniert anspricht und dabei von den Verhältnissen auf ihrer Südseeinsel ausgeht. Besonders unangenehm war es mir, als Paula mich einmal bei einem Hosenkauf begleitet hatte und an der Kasse anerkennend zu der Verkäuferin sagte: „Wirklich ein hervorragend gestaltetes Exemplar – haben Sie die Hose selbst genäht?“
Die Frau an der Kasse sah Paula konsterniert an und blickte sich dann vorsichtig nach einer versteckten Kamera um. Schließlich entgegnete sie trocken: „Der Name des Modelabels ist an der Innenseite des Hosenbunds eingenäht.“
Paula sah mich hilfesuchend an: „Modelabel?“
„Ich erklär’s dir, wenn wir draußen sind“, zischte ich ihr zwischen den Zähnen hindurch zu. Dabei steckte ich die bereits gezückte Kreditkarte wieder ein und zahlte lieber in bar, um schneller von der Kasse wegzukommen.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“ fragte mich Paula, als wir auf der Rolltreppe standen.
Ich seufzte. „Jedenfalls hast du die Verkäuferin ziemlich in Verlegenheit gebracht.“
„Ich dachte ja nur … weil doch nirgends der Name der Herstellerin zu finden war …“, rechtfertigte Paula sich zögernd.
„Aber der Name des Modelabels war doch eigentlich gar nicht zu übersehen!“ widersprach ich ihr.
„Wenn du diesen Schriftzug am Hosenbund meinst – den habe ich natürlich auch entdeckt. Aber der ist ja in so viele Hosen eingenäht, dass es sich dabei doch unmöglich um die Herstellersignatur handeln kann.“
„Genauso ist es aber!“ beharrte ich, während wir das Kaufhaus verließen und in die Fußgängerzone davor einbogen.
„Willst du mir ernsthaft weismachen, dass all diese Kleidungsstücke von ein und derselben Person genäht worden sind?“ protestierte Paula. „Das wäre ja ein wahres Lebenswerk!“
„Nein“, präzisierte ich, „einer allein hat das alles natürlich nicht genäht. Bei dem Modelabel handelt es sich lediglich um den Namen des Unternehmens, das die Kleidungsstücke vertreibt.“
„Siehst du!“ triumphierte Paula. „Mir ging es aber um die Person, die die Hose genäht hat – eben um die Herstellersignatur, so etwas wie die Namenszüge auf den Gemälden in euren Museen.“
Ich schüttelte unwillig den Kopf. „Eine Hose ist doch kein Kunstwerk!“
„Das vielleicht nicht“, räumte Paula ein. „Aber in jedem Kleidungsstück prägt sich doch die Individualität des Menschen aus, der es hergestellt hat. Deshalb gebietet es der Respekt vor der Herstellerin, ihre Individualität durch die Aufprägung ihrer Signatur zu würdigen.“
Ich lachte sarkastisch. „In Kleidungsstücken prägt sich bei uns schon lange keine Individualität mehr aus! Der Herstellungsprozess ist doch längst maschinell gesteuert. Außerdem ist er strengen Vorgaben unterworfen, um die Einheitlichkeit der Gestaltung sicherzustellen. Unterschiede gibt es nur noch zwischen den einzelnen Modelabels und deren Designern, die für den Entwurf der neuen Produkte zuständig sind. Andere Namen werden deshalb auch auf den Kleidungsstücken nicht genannt.“
„Aber die Verkäuferin, die kennt doch wohl die wahren Produzenten – diejenigen, die die einzelnen Stücke genäht haben?“ fragte Paula in einem fast schon verzweifelten Versuch, ihr Südsee-Weltbild zu bewahren.
„Die am allerwenigsten!“ stöhnte ich. „Die Verkäuferin wickelt doch nur im Auftrag ihres Arbeitgebers das Geschäft ab. Selbst das Unternehmen, von dem der Händler die Ware bezieht, weiß nicht unbedingt, wer genau die einzelnen Kleidungsstücke hergestellt hat. Denn viele Unternehmen beauftragen damit heutzutage ausländische Subunternehmen oder verlagern ihre Produktion gleich ganz ins Ausland.“
„Warum näht ihr eure Sachen nicht selbst?“
Paula blickte kurz einem Pudel hinterher, der sein Frauchen angestrengt in Richtung eines schwarz-weiß getupften Mopses lenkte. Dieser hatte allerdings nur einen gelangweilten Blick für seinen Artgenossen übrig. Dafür wären Pudel und Frauchen beinahe über die gespannte Leine gestolpert.
Während der Pudel sich schuldbewusst den Tadel seiner Herrin anhörte, fragte Paula mich: „Ist es euch nicht unangenehm, derart von fremden Nähkünsten abhängig zu sein? Habt ihr denn bei euch niemanden, der gut genug nähen kann?“
„Doch, schon“, lachte ich. „Aber im Ausland lässt sich nun einmal viel billiger produzieren.“
„Das verstehe ich nicht“, bekannte Paula. „Wenn man die Waren im Ausland herstellen lässt, müsste die Produktion doch eigentlich eher teurer werden. Schließlich muss man die Waren dann ja erst noch umständlich hierher transportieren!“
„Der Transport ist natürlich ein zusätzlicher Kostenfaktor“, stimmte ich ihr zu. „Dafür sind jedoch die Produktionskosten im Ausland viel niedriger: die Miete für die Produktionsstätten, die Energiekosten, vor allem aber die Lohnkosten – das alles macht nur einen Bruchteil dessen aus, was das Unternehmen hierzulande dafür aufwenden müsste.“
Paula runzelte die Stirn. „Wie können die Lohnkosten denn im Ausland niedriger sein? Die Arbeit bleibt doch dieselbe!“
„Du darfst nicht vergessen, dass an den Produktionsstätten im Ausland in der Regel auch die Lebenshaltungskosten viel niedriger sind“, belehrte ich sie.
„Das heißt also, dass man sich dort mit weniger Geld dasselbe kaufen kann wie hier mit einem höheren Gehalt?“ hakte Paula nach.
Ich wiegte den Kopf. „Na ja … Ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht. Es gibt schon ein paar schwarze Schafe in der Branche, die sich ausbeuterische Strukturen in anderen Ländern zunutze machen. So ist das nun einmal in den Zeiten der Globalisierung: Wenn du in einem Land die Rechte der Beschäftigten verbesserst, ziehen die Unternehmen einfach in ein anderes Land weiter, wo sie den Leuten weniger zahlen müssen.“
„Dann könnten die Erwerbstätigen aber doch auch in die Länder weiterwandern, wo ihre Rechte besser geschützt sind und sie mehr verdienen können“, wandte Paula ein.
„Dass die Grenzen für die Unternehmen offen sind, bedeutet ja keineswegs, dass sie auch für die einzelnen Arbeitskräfte ohne weiteres zu überwinden sind“, stellte ich klar. „Unternehmen bringen einem Land Geld ein, wohingegen zusätzliche Arbeitskräfte nur den Druck auf den einheimischen Arbeitsmarkt erhöhen.“
Die Zombies der Globalisierung
Ein kurzes Schweigen trat ein. Wir hielten vor einem Modegeschäft inne und starrten auf die Auslagen, während wir weiter unseren Gedanken nachhingen.
„Weißt du, woran ich gerade denken muss?“ fragte Paula nach einer Weile. „An die Zombies – diese Untoten, die den Lebenden als Arbeitssklaven dienen müssen. Irgendwie erinnert mich eure Globalisierung daran. Sie hat etwas Unheimliches, finde ich …“
„Jetzt übertreibst du aber!“ hielt ich ihr vor, musste aber doch über den Vergleich schmunzeln. „Immerhin liegen in der Globalisierung ja auch eine Menge Chancen – und zwar gerade für die Länder, die anfangs vielleicht unter ihr leiden müssen. Schließlich kommen mit den ausländischen Unternehmen auch ein gewisses Know-how und Investitionen ins Land, die der Wirtschaft dabei helfen, moderne, international konkurrenzfähige Strukturen aufzubauen. In vielen Ländern, die anfangs die Werkbank der Welt waren, sind später selbst global operierende Unternehmen entstanden, die mittlerweile ihrerseits im Ausland produzieren lassen. So gesehen, ist die Globalisierung eine mächtige Triebkraft der ökonomischen Entwicklung.“
„Das heißt, wenn ich Glück habe, bin ich der Fußabtreter für die nächste Generation?“ höhnte Paula. „Das Fundament, auf dem diese ihr Haus baut? Und was ist mit meinem eigenen Leben? Zählt das gar nichts?“
„Du solltest das wirklich nicht so negativ sehen“, ermahnte ich sie. „Denk doch nur mal an die armen Leute bei uns – die profitieren schließlich auch von der Globalisierung! Die kostengünstigere Produktion im Ausland ist zwar keine Garantie dafür, dass die entsprechenden Waren hierzulande preiswerter angeboten werden. Sie ist aber auf jeden Fall die Voraussetzung dafür, dass das möglich ist. Und wir haben bei uns nun mal auch viele Arbeitslose und Geringverdiener, die auf solche Billigprodukte angewiesen sind.“
Paula blitzte mich herausfordernd an. „Damit Menschen sich Dinge, die man sie nicht selber herstellen lässt, dennoch leisten können, müssen im Ausland also Menschen unter unwürdigen Bedingungen arbeiten?“
Kaufen und Klauen
Ich atmete erschöpft aus. Es war eine von Paulas Zuspitzungen, die keinen Widerspruch zuließen. Allerdings hatte ich ohnehin keine Lust mehr zum Diskutieren und wollte lieber noch ein wenig den frischen Abendwind genießen, der sich gerade anschickte, die stickige Luft des Sommertags aus der Stadt zu vertreiben. So überließ ich Paula mal wieder den Schlussakkord unseres Gesprächs – an ihrer Südseelogik zerschellten ja ohnehin noch die stichhaltigsten Argumente.
Kurz darauf kamen wir an einem Geschäft vorbei, das sich auf kleinere modische Accessoires spezialisiert hatte. Mein Blick fiel auf einen bunten Schal, der mit lauter exotischen Vögeln bedruckt war. Er war wie für Paula gemacht!
Als ich jedoch vorschlug, ihr den Schal zu kaufen, zeigte sich zu meiner Enttäuschung nichts von der kindlichen Freude in ihrem Gesicht, die sonst bei solchen Gelegenheiten darin aufleuchtete. Stattdessen winkte sie nur müde ab. „Danke“, lehnte sie mein Angebot ab, „aber was ihr ‚kaufen‘ nennt, klingt für mich zu sehr nach ‚klauen‘.“
Bild: Iasphotodesign (Portugal): Näherin / Seamstress (Pixabay)
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