Das Versöhnungsgespräch. Gespräch über das Strafrecht

Gespräche mit Paula/6

„Wenn jemand ein Verbrechen begeht, fragen wir stets, welche Fehlentwicklun­gen in der Ge­mein­schaft dazu beigetragen haben. Deshalb sind auch immer alle gemeinsam dafür verant­wortlich, die Wunden, die die Tat hinter­lässt, zu behandeln.“

Lesung

Die Metalltür des Winters

Ein einziges Mal hat Paula mich mitten im Winter be­sucht. Es hat dafür einiger spe­zieller Werbemaß­nah­men von meiner Seite bedurft – denn kaum etwas hasst Paula so sehr wie den Winter. „Euer Winter“, hat sie ein­mal zu mir gesagt, „kommt mir immer vor wie eine kalte Me­talltür, die mich vom Leben trennt. Unser Sommer ist für mich dagegen wie ein warmer Luftzug, der mitten durch mich hin­durchweht.“

Paulas Abneigung gegen den Winter rührt wohl auch daher, dass sie ihre Haut in der kalten Jahreszeit nicht – wie sie es ge­wohnt ist – unbedeckt dem Wind aussetzen kann. Klei­dung jedweder Art empfindet sie nun einmal wie ein Gefängnis, das sich unmittel­bar um ihren Körper legt.

Bezeichnend ist auch, dass Paula von „ih­rem“ Sommer und „unserem“ Winter spricht – als würden wir hier im ewigen Eis leben. Nicht gerade ein Kompliment! Andererseits spiegelt sich darin genau das wider, was ich an Paula so anziehend finde: dass sie wie ein Abbild des ewigen Sommers ist.

Leider vermissen wir den Sommer ja immer dann am meis­ten, wenn er am unerreich­barsten für uns ist. So habe ich auch alles darangesetzt, Paula dazu zu überreden, mich ge­rade im Winter zu besuchen. Denn ich wusste ja: Wenn sie bei mir wäre, würde es für ein paar Tage Sommer sein.

Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um mein Ziel zu erreichen. Von der Roman­tik verzauberter Winterlandschaften zu schwärmen, verfing bei Paula so­wieso nicht. Wo es kalt war, konnte es für sie nicht ro­mantisch sein.

Also habe ich mich ganz darauf verlegt, die Wärmemulden anzupreisen, in die man sich vor der uner­bittlichen Kälte zurückziehen kann. Das befreite Aufatmen der Haut nach einem Saunabesuch, das heitere Zischen des Wassers im Dampfbad und der Zauber des prasselnden Kaminfeuers bildeten den Schwerpunkt meiner Winterwer­bepoesie – was dann auch tatsächlich zum Erfolg ge­führt hat.

Ich muss gestehen, dass meine Hüttenzau­berbeschwörung nicht ganz ohne Hinterge­danken erfolgt ist. Schließlich war Paulas letzter Besuch bei mir von einer beschwerli­chen Diskus­sion über die deutsche Steuer­gesetzgebung und die „Mu­schelkonfe­renz“, durch die man in Paulas Heimat die Abga­ben der Gemeinschaftsmitglieder bestimmt, überschattet worden.

Ein sol­ches Fiasko wollte ich dieses Mal auf jeden Fall vermeiden. Deshalb hatte ich für ihren Besuch eine Hütte in den Bergen gemietet, in der zwar ein Bilderbuchkamin be­hagli­che Wärme versprach, es aber weder Fernseher noch Internet gab. Dieses Mal sollten unsere gemeinsamen Stunden nicht durch das Sperrfeuer der Nachrichtenspre­cher gestört werden.

Der Vermieter der Hütte war so zuvorkom­mend gewesen, uns rechtzeitig vor unserer abendlichen Ankunft ordentlich einzuheizen. Die Temperatur war fast schon auf Sauna-Ni­veau, so dass sogar Paula sich sogleich mit einem wohligen Seufzer aus ihrem Mantel schälte und sich in einen der Plüschsessel in der Nähe des Kamins sinken ließ. Dabei warf sie mir, dem Wärmezauberer, einen anerkennenden Blick zu.

Alles wäre wohl nach Plan ver­laufen – wenn es nur der Vermieter mit seiner Gästebeglü­ckung nicht ein wenig übertrieben hätte. Seine Rundum-Sorglos-Begrüßung beinhal­tete nämlich unglücklicherweise auch eine aktu­elle Zeitung. „Steuersünder zu drei Jah­ren Haft verurteilt“, schrien die Schlagzeilen mich an.

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ fluchte ich leise, wo­bei ich die Zeitung wohl etwas zu auffällig beiseite räumte.

„Schlechte Nachrichten?“ fragte Paula – die natürlich nicht wis­sen konnte, dass die Zei­tung selbst die schlechte Nach­richt für mich war.

„Ach – nur wieder Muschelprobleme“, ent­gegnete ich betont beiläufig, in der Hoff­nung, dass auch sie keine Lust hätte, das Thema noch einmal aufzuwärmen. Ganz verschweigen konnte ich ihr die Schlagzeile allerdings nicht – die Zeitung war ja nun einmal da.

„Na, dann wird wenigstens das Versöh­nungsgespräch nicht so kompliziert“, trös­tete sie mich ebenso beiläufig. „Muschelprobleme lassen sich ja in der Regel sehr leicht aus der Welt schaffen.“

„Versöhnungsgespräch?“ echote ich. „Du meinst wohl die Gerichtsverhandlung …“

Nun war es an Paula, mich verwundert an­zuschauen: „Gerichtsverhandlung? Was ist das denn?“

Damit war also doch wieder das eingetreten, was ich unbe­dingt hatte vermeiden wollen: Die Zeitung hatte jeden von uns auf seine eigene Wirklichkeit zurückgeworfen. Anstatt uns auf jener allgemein-menschlichen Ebene begegnen zu können, auf die meine Som­mersehnsucht abgezielt hatte, verhedderten wir uns wieder im Dickicht der unterschiedli­chen Denk- und Deutungsmuster unserer beiden Welten.

Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich einfach das Thema wechseln sollte. Aber ein Blick in Paulas Au­gen zeigte mir, dass es dafür zu spät war. Wenn ihr Wissens­durst einmal geweckt war, gab es kein Ent­rinnen.

Also leierte ich missmutig das Allerweltswis­sen herunter, das mir bei den Stichworten „Gerichtsverhandlung“ und „Strafpro­zess“ in den Sinn kam: „Bei einer Gerichtsverhand­lung in einer Strafsa­che wird geklärt, ob je­mand ein Verbrechen, dessen er ange­klagt ist, auch wirklich begangen hat. Der Beschuldigte darf sich dabei von einem Rechtsanwalt verteidi­gen lassen, die Gegen­seite wird von einem Staatsanwalt ver­tre­ten. Am Ende ent­scheidet das Gericht, ob der Angeklagte schuldig ist und welches Straf­maß über ihn verhängt wird.“

„Strafmaß …“, überlegte Paula. „Da geht es dann um die Wiedergutmachung – richtig?“

Ich zögerte. „Schon – darum auch“, entgeg­nete ich schließ­lich. „Wenn jemand Steuern hinterzogen oder in seiner Firma Gel­der veruntreut hat, muss er den Schaden natür­lich wiedergutmachen. Das ist aber unab­hängig von der Strafe. Die bekommt er dafür auferlegt, dass er sich sozusagen an der Gemeinschaft versündigt hat.“

„Ach so“, missverstand mich Paula. „Dann handelt es sich dabei wohl um eine Art reli­giösen Ritus.“

„Aber nein“, wiegelte ich ab. „Damit hat das überhaupt nichts zu tun. Die Strafe soll viel­mehr eine abschreckende Wirkung entfalten und so einer Wiederholung des Verge­hens vorbeu­gen.“

„Und wie sieht so eine Strafe konkret aus?'“ wollte Paula wis­sen.

„Nun“, erläuterte ich, „bei geringen Verge­hen kommt man oft mit einer Geldstrafe davon. Ansonsten gibt es die An­drohung der Haft – die Haftstrafe auf Bewährung – und die wirkliche Gefängnisstrafe.“

Paula sah mich aus großen Augen an: „Ge­fängnisstrafe?“

Schon etwas genervt von der kleinkindhaf­ten Ausfragerei, erwiderte ich kurz: „Na, die Freiheitsstrafe. Willst du mir etwa weisma­chen, dass es so etwas bei euch nicht gibt?“

Da Paula nur bedauernd den Kopf schüt­telte, ergänzte ich: „Bei einem vorüberge­henden Freiheitsentzug werden Menschen für eine be­grenzte Zeit in eine Zelle einge­sperrt. Der Ausschluss aus der Gemein­schaft, den sie durch ihr Verhalten selbst herbeigeführt haben, wird ihnen dabei ge­wissermaßen konkret erfahrbar ge­macht.“

Paula erhob sich von ihrem Platz und trat näher an den Kamin heran, um sich zu wär­men. Auf die Dauer war es doch nicht ganz so warm in der Hütte, wie ich gehofft hatte.

Nach einer Weile drehte sie sich wieder zu mir um. „Kann man also sagen, dass das Gefängnis eine Art Verbannungsort ist?“ fasste sie ihre kleine Flammenmeditation zusammen.

Ich schüttelte den Kopf: „Nein, das trifft so nicht zu – zumal es ja das erklärte Ziel eines Gefängnisaufenthalts ist, den Häftling wie­der zu einem nützlichen Glied der Gemein­schaft zu ma­chen.“

Paula sah mich irritiert an: „Ihr schließt die Täter aus der Gemeinschaft aus, um sie wie­der an die Gemeinschaft heranzufüh­ren?“

Ich nickte. „Das klingt zwar seltsam, aber manchmal geht es eben nicht anders. Es gibt nun einmal Menschen, die erst wieder mühsam lernen müssen, was eine Gemeinschaft ist, wie man sich darin bewegt und welche Rechte und Pflichten man als Teil davon hat.“

„Dann ist das Gefängnis so etwas wie eine Schule der Gemeinschaft?“ interpretierte Paula meine Worte.

„In gewisser Weise schon“, bestätigte ich – bereute allerdings sogleich meine nachläs­sige Antwort, als Paula nachhakte: „Dann gibt es dort sicher auch spezielle Lehrkräfte, die ei­nem bei der Wiederannäherung an die Gemeinschaft behilf­lich sind?“

„Na ja – das gerade nicht“, musste ich ein­räumen. „Das Ler­nen wird dort eher durch die speziellen Lebensumstände angeregt – den streng geregelten Alltag und die Arbeit, der man nach­geht.“

„Und das funktioniert?“ wollte Paula wissen. Sie wirkte ehr­lich interessiert.

So langsam stieß ich doch an meine Grenzen – den aktuellen Resozialisierungsreport hatte ich natürlich nicht im Kopf. Des­halb erwiderte ich nur kurz: „Offenbar schon. Sonst würde man es ja nicht seit Jahrzehn­ten so machen.“

Leider war Paulas Wissensdurst damit noch immer nicht gestillt. „Aber treibt das die Häftlinge nicht in den Ruin?“ erkundigte sie sich. „Erst müssen sie Wiedergutmachung leisten, zusätzlich vielleicht eine Geldstrafe zahlen, und schließlich wird ihnen auch noch auferlegt, diese Schule der Gemeinschaft, die ihr ‚Gefängnis‘ nennt, zu besuchen – was bestimmt auch nicht ganz billig ist.“

Ich schmunzelte nachsichtig. „Für den Ge­fängnisaufenthalt kommt doch der Staat auf – die Häftlinge müssen dafür nichts zahlen! Allenfalls könnte man sagen, dass sie durch ihre kaum bezahlte Arbeit im Gefängnis indi­rekt zur Finanzierung ihrer Haft beitragen“, stellte ich klar.

Paula stutzte. „Dann nutzt ihr also das Geld, das ihr aus den Strafzahlungen der Verurteil­ten einnehmt, für die Finanzie­rung einer Isolation, die eine Integration bewirken soll?“

An dieser Stelle gab ich auf – ich hatte Paula doch bereits er­klärt, warum die vorüberge­hende Trennung von der Ge­mein­schaft nach unserem Rechtsverständnis eine notwen­dige Voraussetzung für die spätere Wiedereingliederung der Delinquenten darstellt! Leider hatte sie manchmal eine etwas provo­kante Art, einen mit ihren Fragen zu umzingeln, und ich war nicht gewillt, mich darauf einzulassen. Schließlich wollte ich mir nicht sämtliche Aussichten auf einen zwei­ten, stärker an meinen Sommersehnsüchten ausgerichteten Teil des Abends verbauen.

Anstatt zu antworten, ging ich daher so sachte wie möglich zum Gegenangriff über. „So etwas Ähnliches muss es bei euch doch auch geben“, mutmaßte ich. „Oder lasst ihr die Verbrecher etwa ganz unbehelligt ihrem Handwerk nachgehen?“

„Nein“, stellte Paula klar, „natürlich nicht. Auch bei uns machst du dir keine Freunde, wenn du deine Notdurft vor der Tür deines Nachbarn verrichtest oder immer wieder in den Gemeinschaftsgärten wilderst. Wenn es sich nicht gerade um Kleinig­keiten handelt, die die Beteiligten allein aus der Welt schaffen können, wird dann ein Versöh­nungsgespräch anberaumt. Daran können außer den Betroffenen und den drei Frie­densrichtern, die jeweils auf ein Jahr ge­wählt werden, auch alle Interessierten teil­nehmen.“

„Und wie läuft so ein Gespräch ab?“ erkun­digte ich mich.

„Grundlage des Ge­sprächs ist zunächst ein­mal die Unterscheidung zwischen dem Schaden-für-mich und dem Schaden-für-alle, den die jeweilige Tat bewirkt hat“, erläuterte Paula. „Der Scha­den-für-mich wird im Wesentlichen durch Wiedergutmachung zu heilen versucht …“

„Aber euer so genannter ‚Schaden-für-alle‘ impliziert doch wohl auch eine Strafe für die Versündigung an der Gemein­schaft – wie bei uns!“ triumphierte ich.

„Nicht ganz“, korrigierte mich Paula. „Beim Schaden-für-alle geht es um die Frage, in­wiefern durch das Vergehen eine Beschädigung der Gemeinschaft offenbar wird und wel­cher Art diese ist. Wenn jemand bei­spielsweise regelmäßig nachts in die Ge­meinschaftsgärten eindringt, um seinen An­teil an der Ernte aufzubessern, kann man sich fra­gen, ob er sich vielleicht zurückgesetzt fühlt – ob er sich also symbolisch jenen größeren Anteil am Gemeinschaftsleben zu­sammen­stiehlt, den er sich wünscht. Dann dient das Ver­söhnungsge­spräch in diesem Punkt der Klärung der Frage, ob und wie der Betreffende eine bedeutendere Rolle im Gemeinschaftsleben erhalten kann.“

Ich er­hob mich und stellte mich neben Paula an den Kamin. Das Knis­tern des Feuers über­tönte ihre weiche Stimme, so dass ich Mühe hatte, sie zu verstehen. Außerdem wollte ich nicht die ganze Zeit wie ein Schuljunge zu ihr aufschauen.

Meine Hände dem Feuer entgegenstre­ckend, wandte ich dann ein: „Bei Kleinigkei­ten wie Mundraub oder Sachbeschädigung mag euer System ja funktionieren. Aber bei Gewaltverbrechen oder gar Mord ist das wohl kaum die richtige Herangehensweise. Wie soll denn da die Wiedergutmachung aussehen? Außerdem muss in einem sol­chen Fall doch der Schutz der Gemeinschaft vor dem Täter im Vordergrund stehen!“

Paula sah mich ernst an. „Du hast Recht“, bekräftigte sie. „Gewaltverbrechen stellen die Gemeinschaft natürlich vor viel grö­ßere Probleme als Eigentumsdelikte. Einen Mord habe ich allerdings bei uns noch nie erlebt.“

Sie dachte kurz nach, dann ergänzte sie: „Den letzten der­artigen Fall, den es auf un­serer Insel gegeben hat, kenne ich nur aus den Erzählungen meiner Mutter. Bei dem Täter handelte es sich um einen jungen Mann, der aus heiterem Himmel seinen bes­ten Freund umgebracht hatte. Beim Ver­söh­nungsgespräch kam heraus, dass er, der seine Eltern schon früh verloren hatte, durch den Mord unbewusst eine Lücke hatte schaffen wollen, die er dann selbst hätte füllen können.“

„Und?“ drängte ich Paula. „Was habt ihr mit diesen Er­kenntnis­sen angefangen? So etwas kann doch die Tat weder rechtferti­gen noch die Trauer der Eltern um ihren getöteten Sohn lin­dern!“

„Nein“, stimmte sie mir zu, „das natürlich nicht. Die Eltern haben damals auch nicht selbst an dem Versöhnungsge­spräch teilgenommen, sondern nur einen Vertreter ge­schickt. Und es versteht sich von selbst, dass eine solche Tat weder entschuldbar noch wie­dergutzumachen ist. Ein Mensch lässt sich nun einmal nicht ersetzen. Allerdings wurde mit dem jungen Mann vereinbart, dass er die Unterstützung, die die Eltern im Alter von ihrem Sohn erhalten hätten, überneh­men müsste – natürlich nicht selbst, son­dern in Gestalt an­derer Helfer, die er dafür bei ih­rer sonsti­gen Arbeit zu entlasten hatte. Er selbst wurde in einen Familienverband in einem anderen Teil der Insel eingegliedert, in dem es einen Mangel an Söhnen gab.“

„Dann habt ihr den Mörder doch quasi für seine Tat be­lohnt!“ empörte ich mich.

„Es kommt ganz auf die Perspektive an“, wi­dersprach mir Paula. „Wenn jemand ein Verbrechen begeht, kannst du fragen, wel­che Beweggründe ihn zu seiner Tat veran­lasst haben. Du kannst aber auch fragen, welche Fehlentwicklun­gen in der Ge­mein­schaft dazu geführt haben, dass sich sol­che Beweggründe herausbilden konnten. Wenn du die zweite Perspektive ein­nimmst, sind zwangsläufig auch alle gemein­sam dafür verant­wortlich, die Wunden, die die Tat hin­ter­lässt, zu behandeln und ihr Wieder-Auf­brechen zu verhin­dern. Dazu gehört dann auch, dass man jemanden, der be­reits au­ßerhalb der Gemeinschaft steht und dieses Stigma durch seine Tat vor aller Augen be­zeugt hat, nicht noch zu­sätzlich isoliert, son­dern ihm eine Brücke für die Rückkehr in die Gemeinschaft baut.“

Ach – glückliche Paula! dachte ich. Wie sor­genfrei musste doch ein solches Leben in einem kleinräumigen Inselidyll sein, in dem die Gemeinschaft noch nicht in eine Vielzahl miteinander konkurrierender Untergemein­schaften aufgespalten war, in dem es weder Parteien noch Interessenver­bände noch Lobbygrup­pen und erst recht keine mafiö­sen Strukturen gab, die der Gemeinschaft ihre eigenen Normen entgegenstellten!

Wie weit entfernt waren wir doch bei uns von ei­nem solchen vorzivilisatorischen Inselpara­dies, in dem das Individuum sich noch unter die warme Decke des Kollektivs verkriechen konnte! Wie lustvoll konnte dort jeder zum Kleinkind regredieren und alle Verant­wor­tung für sein Tun auf die große Gemein­schaftsmama ab­wälzen!

Andererseits: Wie schmerzlich musste ein solches Leben für denjenigen sein, der nicht im Meer des Kollektivs ertrinken, sondern sich darin als Einzelner behaupten wollte! Würde so jemand nicht sogar die Strafe der verständnisinnigen Umar­mung durch das Kollektiv vorziehen? War die Strafe nicht viel­leicht die notwendige Kehrseite einer veränderten Sicht des Menschen, die diesen eben nicht in erster Linie durch das Kol­lektiv, sondern durch sein eigenes Denken und Han­deln be­stimmt sah?

So betrachtet, hätte es noch einiges gege­ben, was ich auf Paulas Plädoyer für einen versöhnlichen Umgang mit Straftätern hätte erwidern können. Auch an die psychologi­schen Gutachten und die mildernden Um­stände, die ja auch ein fester Bestandteil unse­res Strafrechtssystems sind, hatte ich dabei denken müssen. Ich sagte jedoch nichts – schließlich wollte ich nicht auch noch den Rest der Nacht mit unserem rechts­philosophischen Kolloquium zubrin­gen.

Da auch Paula nun schwieg, war nichts mehr zu hören als das gleichmäßige Prasseln des Kaminfeuers. Nach einer Weile warf ich Paula einen verstohlenen Blick zu. Und da endlich schenkte sie mir jenes sommerliche Lächeln, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte.

Bild: Paul Gauguin (1848 – 1903): Der Markt (Ta matete, 1892); Kunstmuseum Basel (Wiki­media commons)

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