Gespräche mit Paula/5
„Wer nicht darüber mitbestimmen darf, was mit seinen Muscheln geschieht, dem kann auch nicht zugemutet werden, etwas von seinen sauer zusammengetragenen Schätzen an die Gemeinschaft abzutreten.“
Wie Paula sich kleidet
Für die Dauer ihres Aufenthalts bei mir schlingt Paula sich immer ein buntes Tuch um den Körper, in dem sie dann wie eine Statue durch die Stadt stolziert. Ich habe sie schon oft gefragt, ob ich ihr nicht mal richtige Kleider besorgen soll, aber das weist sie stets belustigt von sich. Paula ist der Meinung, dass man bei uns ohnehin zu stark auf den Körper fixiert ist. Besonders im Sommer werde dieser durch unsere Kleidung übermäßig betont.
Ich halte dann dagegen, dass die Praxis ihrer eigenen Kultur, völlig nackt zu gehen, die Aufmerksamkeit wohl noch viel stärker auf den Körper lenke – was Paula ebenso entschieden abstreitet. Die ständige Nacktheit entkleide, so behauptet sie, den Körper gerade jener Verheißung, mit der unsere eng anliegenden, viel zu knappen Kleider ihn umgäben.
Aber darüber wollte ich hier eigentlich gar nicht schreiben – zumal Paula sich mir gegenüber schon so oft über unsere Kleidung mokiert hat, dass ich mich mittlerweile selbst frage, ob wir im Sommer nicht besser alle nackt gehen sollten.
Was mir durch den Kopf ging, war vielmehr einer dieser leidigen Steuerskandale, der unsere Republik gerade während eines Besuchs von Paula bei mir erschütterte. Ich erinnere mich nicht mehr genau, welcher honorige Bürger damals gerade in einen Steuerstrudel geraten war und um was für eine Art von Steuerhinterziehung es ging. Aber meistens steckt dahinter ja auch eine bestimmte Art von Inseln, die in finanziellen Fragen eine ähnliche Tarnkappe um sich gebreitet haben, wie sie Paulas Insel im physikalischen Sinn umgibt.
Muscheln und Steuern
Ich weiß noch, dass ich in einem Café, wo ich mit Paula Eis löffelte, auf den Skandal aufmerksam geworden war. Alle ausliegenden Zeitungen posaunten ihn in dicken Lettern heraus.
Als Paula von dem Vorfall hörte, meinte sie mitfühlend: „So etwas ist natürlich ärgerlich. Wahrscheinlich hat der Betreffende auf der Muschelkonferenz ein abweichendes Votum abgegeben und wollte sich dann nicht mit der Mehrheitsentscheidung abfinden.“
„Muschelkonferenz?“ fragte ich verständnislos.
„Kennst du das nicht?“ fragte sie zurück. „Na, wahrscheinlich hat das bei euch einfach einen anderen Namen. – Bei der Muschelkonferenz diskutieren wir darüber, wofür wir den Anteil, den jeder von den selbst gesammelten Muscheln an die Gemeinschaft abtreten muss, verwenden: für Befestigungsarbeiten an den bröckelnden Felsen, Ausbesserungen der Wege, die Sicherung der Plantagen gegen räuberische Vögel …“
„Jetzt verstehe ich, was du meinst“, unterbrach ich sie. „Aber etwas Vergleichbares gibt es bei uns nicht.“
„Wirklich nicht?“ wunderte sich Paula, ihren Eislöffel vor dem Mund balancierend. „Und wie entscheidet ihr dann, was mit dem Gemeinschaftsanteil der gesammelten Muscheln passiert?“
Ich konnte mir ein überlegenes Schmunzeln nicht verkneifen. „Also weißt du, Paula – wir leben hier nun einmal nicht in so einem kleinen, überschaubaren Paradies, wie es deine Insel zu sein scheint! Unsere Lebenszusammenhänge sind viel zu komplex, als dass man über die Finanzierung öffentlicher Projekte in Bürgerversammlungen abstimmen könnte. Über so etwas entscheiden bei uns die Politiker, die wir in demokratischen Wahlen für einen bestimmten Zeitraum in verschiedene Arten von Volksvertretungen entsenden.“
Haben Politiker Ersatzhirne
Paula naschte ein wenig von meinem Pistazieneis. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fand sie wenig Gefallen daran. So wandte sie sich wieder ihrem eigenen, mit bunten Früchten garnierten Eisbecher zu.
„Sagen eure Politiker euch eigentlich im Voraus, wie sie eure Gelder in den nächsten Jahren zu verwenden gedenken?“ fragte sie hinterhältig.
Ich zögerte. „Nun ja – so ungefähr jedenfalls …“
„Aber sie können doch gar nicht wissen, wofür genau sie Geld brauchen werden“, wandte Paula ein. „Eine Sturmflut und die dadurch entstehenden Schäden kann doch niemand vorhersehen!“
„Deshalb sind sie ja auch mit der Vollmacht ausgestattet, die Gelder so zu verwenden, wie es dem Wohl des Volkes am förderlichsten ist“, erklärte ich in staatstragendem Ton.
Paula schüttelte unwillig den Kopf. „Und gegen Entscheidungen, die sie treffen, kann man gar nichts unternehmen?“
„Nun ja“, räumte ich ein, „nicht allzu viel jedenfalls …“
„Wenn das so ist, könnt ihr auch von niemandem verlangen, Muscheln an die Gemeinschaft abzutreten“, befand Paula, ihren Löffel entschlossen in eine Himbeereiskugel stoßend. „Wer nicht darüber mitbestimmen darf, was mit seinen Muscheln geschieht, dem kann auch nicht zugemutet werden, etwas von seinen sauer zusammengetragenen Schätzen abzugeben.“
„Aber er darf doch darüber mitbestimmen!“ rief ich aus. „Er kann ja die Politiker wählen, die dann über die Verwendung der Gelder entscheiden.“
„Das ist nicht dasselbe“, entgegnete Paula streng. „Ich kann doch gar nicht wissen, wie sich der betreffende Politiker in bestimmten Situationen und im Zusammenspiel mit anderen entscheiden wird! Nein, echte Mitbestimmung sieht anders aus! Da müsste man die Menschen schon direkt zu den einzelnen Vorhaben befragen.“
„Und wie stellst du dir das vor?“ fragte ich herausfordernd. „Wir sind ein Volk von über 80 Millionen Menschen. Wenn du die alle vor jeder finanziellen Entscheidung befragst, wirst du doch nie fertig!“
„Nun, ihr könntet doch wenigstens Befragungen dazu einführen, für welche Bereiche welche Prozentsätze der eingesammelten Muscheln verwendet werden sollen“, schlug Paula vor. „Außerdem könnte man zumindest bei solchen Projekten, deren Kosten eine bestimmte Höhe überschreiten, zusätzliche Versammlungen einberufen, auf denen die Muschelgeber selbst über das Vorhaben entscheiden könnten.“
„Aber gerade die kostspieligsten Projekte sind doch auch die komplexesten!“ wehrte ich den Vorschlag ab. „Ein einfacher Bürger kann diese Zusammenhänge gar nicht durchschauen. Dafür ist das, was man dafür wissen muss, einfach viel zu kompliziert.“
Paula lächelte süffisant. „Ihr misstraut also der Entscheidungsfähigkeit eurer Bürger – und nennt euch trotzdem Demokratie? Und außerdem: Wieso vertraut ihr eigentlich darauf, dass diejenigen, die ihr in eure Volksvertretungen wählt, diese angeblich so furchtbar komplizierten Zusammenhänge besser verstehen als ihr selbst? Ist das etwa eine andere Sorte von Menschen? Kommen sie von einem anderen Stern, wo man noch zwei Ersatzhirne hat, für den Fall, dass das Hauptgehirn für die Verarbeitung des nötigen Wissens nicht ausreicht?“
Der Mehrwert kaputter Dächer
Ach, Paula! dachte ich. Wie schön muss es sein, wenn die Welt so übersichtlich und so einfach strukturiert ist wie auf deiner Insel! Ich beschloss, besser nichts mehr zu erwidern, da wir offenbar von zu unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen aus argumentierten.
So wühlten wir eine Zeitlang schweigend in unseren Eisbechern herum. Dann fragte Paula unvermittelt: „Wie viele Muscheln müsst ihr eigentlich, auf hundert Stück gerechnet, an die Gemeinschaft abtreten?“
Es ärgerte mich ein wenig, dass sie immer von „Muscheln“ sprach – sie wusste doch ganz genau, dass wir ein anderes Zahlungsmittel hatten. Ich atmete tief durch und erklärte in ruhigem Ton: „Das kann man so allgemein nicht sagen. Es hängt ganz davon ab, wie viel du pro Monat verdienst, welcher Art die Einnahmequellen sind, wie viele Menschen von dem Einkommen leben – und natürlich auch davon, was du für Ausgaben hast.“
„Soll das heißen, dass ich meine Muscheln auch einfach für mich selbst verwenden kann, anstatt der Gemeinschaft einen Anteil davon zu überlassen?“ fragte Paula nach.
„Schön wär’s!“ lachte ich. „Irgendwelche Steuern musst du in der Regel immer zahlen, wenn du etwas verdient hast – egal, wie hoch deine Ausgaben sind. Außerdem verdient der Staat ja auch an dem Geld, das du ausgibst.“
„Du meinst, dass die Ausgaben das Gemeinschaftsleben stärken, indem etwa der Handel untereinander gefördert wird?“ deutete Paula meine Erläuterungen.
„Ich dachte eigentlich eher an etwas anderes“, präzisierte ich. „Nämlich daran, dass der Staat auch die Ausgaben besteuert, die ich tätige. Wenn ich mir etwa ein neues Dach aufs Haus bauen lasse, schlägt der Staat auf das Geld, das ich dem Handwerker zahlen muss, noch ordentlich was drauf.“
Paula sah mich ungläubig an. „Der Staat verdient daran, dass dein Dach kaputt ist?“
„Schwarzarbeit“- Was ist das?
Auf mein Nicken hin verfiel Paula zunächst in ein kurzes Grübeln. Dann zog sie wieder einen Vergleich zum Alltag in ihrer eigenen Kultur.
„Seltsam“, sinnierte sie, „bei uns ist das genau umgekehrt. Wenn jemand etwas an seiner Strohhütte ausbessern muss, muss er weniger Muscheln an die Gemeinschaft abtreten. Wenn die Schäden ganz schlimm sind, kann ihm die Abgabe sogar ganz erlassen werden, und er erhält noch zusätzlich Unterstützung durch die Gemeinschaft – meist in Form von helfenden Händen, die bei der Reparatur mit anpacken.“
„So etwas ginge bei uns nicht – das wäre Schwarzarbeit“, belehrte ich sie.
Paula sah mich verständnislos an. „Schwarzarbeit?“ fragte sie, die Reste ihres mittlerweile geschmolzenen Eises auflöffelnd. „Was ist das denn nun wieder?“
„Schwarzarbeit bedeutet, dass man für jemanden eine Arbeitsleistung erbringt, ohne dass der Staat etwas davon erfährt“, erklärte ich.
Paula zuckte mit den Schultern. „Na und? Was geht es denn den Staat an, wenn ich meinem Nachbarn bei einer Reparatur unter die Arme greife? Und was hat das mit den Abgaben zu tun, die ich an die Gemeinschaft abführen muss?“
Verstand sie das wirklich nicht? Oder tat sie nur so, um mich aus der Reserve zu locken? „Der Staat geht davon aus, dass es unbezahlte Hilfeleistungen nicht gibt“, erläuterte ich. „Also enthält derjenige, der durch eine nicht angezeigte Arbeitsleistung für jemand anderen einen Mehrwert erwirtschaftet – der ja nicht unbedingt finanzieller Natur sein muss –, dem Staat den ihm zustehenden Anteil daran vor.“
Paula schüttelte erneut den Kopf. „Was für ein armer Staat muss das sein, der nicht an die Existenz von Nachbarschaftshilfe glaubt …“, murmelte sie halblaut.
„Aber es gibt auch Ausgaben, mit denen du deine Steuerlast ordentlich drücken kannst“, erklärte ich weiter, ohne auf ihre provokante Bemerkung einzugehen. „Du kannst zum Beispiel bei der Bank einen Kredit aufnehmen, dir damit ein Ferienhaus kaufen und dieses dann vermieten. Da alle Aufwendungen für das Ferienhaus dann steuerlich absetzbar sind, kannst du so praktisch von den Steuerersparnissen den Kredit abbezahlen.“
„Das verstehe ich nicht“, seufzte Paula. „Wenn du einen Schaden an deinem Haus hast, erlegt dir der Staat eine Strafgebühr auf. Erwirbst du aber ein neues Haus, in dem du gar nicht wohnen willst, gibt der Staat dir noch Geld dazu?“
„Wir Freibeuterei bei Euch staatlich gefördert?“
Ehrlich gesagt: Ich verstand das selbst nicht ganz. Ein Freund, dem dieses Steuersparmodell von seinem Bankberater empfohlen worden war, hatte kürzlich mir gegenüber damit geprahlt. Also wählte ich lieber ein anderes Beispiel: „Am meisten Steuern sparen kannst du natürlich als Unternehmer“, führte ich aus. „Dann kannst du den Gewinn zum Beispiel in deinem Heimatland erwirtschaften, ihn aber in einem anderen Land mit einer niedrigeren Abgabenlast versteuern, indem du den Hauptsitz deines Unternehmens dorthin verlegst.“
„Dann kann ich also die Einrichtungen in eurem Land nutzen, um Gewinne zu machen, aber einen anderen Staat davon profitieren lassen?“ – Ich nickte. – „Wird bei euch demzufolge auch Freibeuterei staatlich gefördert?“ fragte Paula spöttisch, wobei sie ihre Südseemähne mit einem koketten Schwung zurückwarf.
Ich verstand nicht gleich, was sie damit sagen wollte, bemühte mich aber auch nicht darum. Ohnehin war ich des Diskutierens müde – ich hatte mir von dem Besuch meiner Südseefreundin etwas anderes versprochen als einen gelehrten Disput über unser Steuersystem.
Also rief ich nach der Bedienung und ließ mir die Rechnung bringen. „Gesamtbetrag: 15.30 Euro“, las ich – und: „In diesem Betrag sind 2.91 Euro Mehrwertsteuer enthalten.“
Ich wollte den Kassenbon galant verschwinden lassen, aber Paula hatte das entscheidende Wort schon entdeckt. Und leider stellte sie auch genau die Frage, die ich befürchtet hatte: „Was ist Mehrwertsteuer?“
Ich seufzte. Es war, als würde der Finanzminister mit am Tisch sitzen und uns mit säuerlicher Miene für unser Sommervergnügen zur Kasse bitten.
Bild: Paolo Porpora (1617 – ca. 1673): Stillleben mit Muscheln (Wikimedia commons)