Der Zauberstab der Dichtung

Ein Gedicht von Adam Ziemianin

Neuer Schwerpunkt am Poetry Day: Moderne polnische Gedichte

Ein Gedicht kann uns einen anderen Blick auf die Welt schenken. Dieser andere Blick hat die Kraft, die Welt und uns selbst zu verändern. – Ein Gedicht des polnischen Lyrikers Adam Ziemianin, als Auftakt zu einer Reihe über moderne polnische Gedichte.

Das Auge eines Fisches

Das Auge eines Fisches ist das Gedicht,
das Echo eines Schmetterlingsflugs,
die duftende Spur einer Schlange.
Willst du nicht seine Sprache lernen?

Ein Gedicht kann ein Feuer entfachen
mitten in der Leere eines Zimmers,
die Gardinen zum Tanzen bringen
im Windhauch der Flammen.

Ein blinder Passagier ist der Dichter.
In den Augen der anderen sucht er
nach ungeschriebenen Gedichten
in einer trostlosen Straßenbahn.

Aus dem stummen Alphabet der Falten
und des Lächelns, aus dem Aderwerk,
das pochend spricht unter der Haut
der Sprache, baut er seine Welt.

Das Auge eines Fisches ist das Gedicht,
die Sehnsucht eines Vogelschwarms
und heilendes Johanniskraut.
Willst du nicht seine Sprache lernen?

Adam Ziemianin: Jest rybim okiem (Es ist das Auge eines Fisches) aus: List do zielonej ścieżki (Brief an den grünen Pfad; 1993)

Vertonung durch den 1971 geborenen Singer-Songwriter Marek Andrzejewski (aus dem Album Elektryczny Sweter, 2012; Live in Lublin):

Über Adam Ziemianin

Der 1948 im südpolnischen Muszyna geborene Adam Ziemianin veröffentlichte zunächst einzelne Gedichte in Zeitschriften, ehe 1975 sein erster Gedichtband erschien. Auf diesen sind seitdem zahlreiche weitere Gedichtsammlungen gefolgt. Seine Gedichte sind von verschiedenen Künstlern vertont und auch in andere Sprachen übertragen worden. Ziemianin hat auch Prosatexte geschrieben, vor allem Kurzgeschichten.

Nach seinem Studium an der Pädagogischen Hochschule Krakau arbeitete er zunächst eine Zeit lang als Lehrer und studierte dann einige Semester Polnische Philologie an der Krakauer Jagiellonen-Universität. Anschließend nahm er eine Tätigkeit als Journalist auf, arbeitete zeitweilig aber auch als Holzflößer, Lagerist und Segelflieger.

Bereits in einer frühen Rezension zu Ziemianins Gedichten hob Krzysztof Lisowski das Nebeneinander einer augenzwinkernden Thematisierung der „letzten Dinge“ und einer besonderen „Ernsthaftigkeit“ des Ausdrucks hervor. (vgl. Magazyn Kulturalny 2/78). Ähnlich stellte später Bronisław Maj in der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny die Kombination aus „Humor und reiner Lyrik“ als wesentliches Charakteristikum von Ziemianins Lyrik heraus. Er sah dessen Dichtung darüber hinaus auch durch ein besonderes „Gespür für das Alltägliche“ bestimmt (vgl. Tygodnik Powszechny 1981).

Zitate und Informationen zu Adam Ziemianin entnommen von der Website des Dichters auf poezja-polska.pl: Biografia

Podcast zu Adam Ziemianin

Bilder: Larisa Koshkina: Schmetterlinge (Pixabay); Zbigniew Kresowaty: Porträt von Adam Ziemianin, 2012 (Wikimedia Commons)

2 Antworten auf „Der Zauberstab der Dichtung

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