Charles Baudelaire: Der romantische Sonnenuntergang

Gedichte von Charles Baudelaire, 4

Als an einem Scharnier der Zeiten lebender Dichter war Charles Baudelaire besonders empfänglich für den „ennui romantique“ – einen Weltschmerz, der auf einem Gefühl der Unbehaustheit in der Welt bei gleichzeitigem Heimweh nach etwas unwiederbringlich Verlorenem beruhte.

Aufflammend malt die Morgensonne
den Mut des Tages in die Welt.
Erglühend reifen Liebesschwüre
im Feuer ihres Untergangs.

Wie oft schon hat ihr Blick – ein Herz, das zuckt –,
die Welt verwandelt und erwachen lassen!
Komm, wir fliehn zum Horizont! Schnell, es ist spät,
lass einen schrägen Strahl noch wenigstens uns fangen!

Doch niemand fängt den Gott, der sich entzieht.
Schaudernd steh ich vor dem Thron der Nacht,
die kalt und modrig über meinen Rücken kriecht.

Ein Grabeshauch erfüllt die Luft,
durch Moore stolpernd irrt mein Schritt
um weiches, lauerndes Gewürm.

Charles Baudelaire: Le coucher du soleil romantique aus: Les Fleurs du mal (Die Blumen des Bösen; 1857), S. 235. Paris 1868: Michel Lévy Frères (Œuvres complètes, Bd. 1)

Hintergrundinformationen zu dem Gedicht finden sich im Podcast zur Baudelaire-Reihe (Episode 6) sowie in Ebook und PDF zu den Fleurs du mal (Kapitel 7)

Vertonung von Georges Chelon (aus: Georges Chelon chante Les fleurs du mal, Vol. 3):

Bild: Edvard Munch (1863 – 1944): Melancholie (1894); Wikimedia commons

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