Ein Gedicht über den Käfig des eigenen Lebens
Paul Verlaine persönlich kennenzulernen, wäre wahrscheinlich nicht sehr reizvoll gewesen. Nach allem, was wir über ihn wissen, war er ein äußerst launischer, impulsiver Mensch, der immer wieder bis zum Exzess soff und unter Alkoholeinfluss zudem ausgesprochen gewalttätig wurde.
Seine Gedichte freilich sprechen eine andere Sprache. Sie zeichnen das Bild einer sensiblen, zerbrechlichen Seele, eines Menschen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als mit sich selbst und seiner Umwelt im Einklang zu leben. Wie sind diese Widersprüche zu erklären?
Paul Verlaine persönlich kennenzulernen, wäre wahrscheinlich nicht sehr reizvoll gewesen. Nach allem, was wir über ihn wissen, war er ein äußerst launischer, impulsiver Mensch, der immer wieder bis zum Exzess soff und unter Alkoholeinfluss zudem ausgesprochen gewalttätig wurde.
Seine Gedichte freilich sprechen eine andere Sprache. Sie zeichnen das Bild einer sensiblen, zerbrechlichen Seele, eines Menschen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als mit sich selbst und seiner Umwelt im Einklang zu leben. Wie sind diese Widersprüche zu erklären?
Le ciel est, par-dessus le toit,
Si bleu, si calme !
Un arbre, par-dessus le toit
Berce sa palme.
La cloche dans le ciel qu’on voit
Doucement tinte.
Un oiseau sur l’arbre qu’on voit
Chante sa plainte.
Mon Dieu, mon Dieu, la vie est là,
Simple et tranquille.
Cette paisible rumeur-là
Vient de la ville.
— Qu’as-tu fait, ô toi que voilà
Pleurant sans cesse,
Dis, qu’as-tu fait, toi que voilà,
De ta jeunesse ?
(aus: Sagesse, 1880)
Nachdichtung:
Der Himmel über dem Haus –
wie ist er so still, so fern aller Hast!
Der Baum, wie schwingt in das Blau hinaus
er selbstgenügsam den Ast!
In unerschütterlicher Sanftmut bebt
herüber des Kirchturms Klang;
und im Gebüsch erinn’rungsschwer webt
ein Vogel klagenden Sang.
Ach, das Leben, das Leben – wie leicht!
Träumend sonnen sich Ähren satt,
indessen die Luft besänftigend streicht
durch das Geraune der Stadt.
Du aber siehst in dem lachenden Tag
traurig sich spiegeln ein andres Gesicht,
ein anderes Land, das im Dunkeln längst lag,
siehst deiner Jugend ungeschriebnes Gedicht.
Inhalt
Paul Verlaine: ein gewalttätiger Feingeist
Ein psychoanalytischer Blick auf Verlaine
Kaspar Hauser als Spiegelbild Verlaines
Wir sind alle „Kaspar Hauser“
Links
Paul Verlaine: ein gewalttätiger Feingeist
Paul Verlaine persönlich kennenzulernen, wäre wahrscheinlich nicht sehr reizvoll gewesen. Nach allem, was wir über ihn wissen, war er ein äußerst launischer, impulsiver Mensch, der immer wieder bis zum Exzess soff und unter Alkoholeinfluss zudem ausgesprochen gewalttätig wurde.
Seine Gedichte freilich sprechen eine andere Sprache. Sie zeichnen das Bild einer sensiblen, zerbrechlichen Seele, eines Menschen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als mit sich selbst und seiner Umwelt im Einklang zu leben.
Ein Leben in Widersprüchen … Ich kann mir diesen Riss, der sich durch Verlaines Leben zog, dieses unverbundene Nebeneinander von rohem Alltagsleben und feinfühliger Dichtung, nicht anders erklären als unter Zuhilfenahme der Psychoanalyse.
Ein psychoanalytischer Blick auf Verlaine
Verlaine litt in seiner Kindheit unter einem autoritären Vater, der als Offizier alles daransetzte, seinen Sohn in das Korsett eines bürgerlichen Lebens zu zwängen. Wohl als eine Art Schutzreflex hiergegen entwickelte Verlaine eine sehr enge Beziehung zu seiner Mutter. Dies erschwerte es ihm später, seine Libido anderen Frauen zuzuwenden: Verlaine war offensichtlich homosexuell. Dies zeigt nicht nur seine leidenschaftliche Dichterfreundschaft mit Arthur Rimbaud, sondern auch die spätere Beziehung zu Lucien Létinois, einem Schüler, den Verlaine als Lehrer an einer englischen Schule kennengelernt hatte.
Heutzutage wäre eine solche homoerotische Neigung nicht weiter problematisch. Zu Verlaines Zeiten war es – zumal mit dem internalisierten Über-Ich eines pflichtversessenen Vaters – hingegen kaum möglich, sich hierzu zu bekennen. So gelang es Verlaine nicht, sich selbst als denjenigen anzunehmen, der er war.
Anstatt Halt in einer stabilen homoerotischen Beziehung zu suchen, bemühte Verlaine sich daher, den Anschein eines bürgerlichen Lebens aufrechtzuerhalten. Er ging sogar eine Ehe ein – bezeichnenderweise mit einer Frau, die noch ein Kind war, als er sie kennenlernte. Da er sich selbst und seine Homosexualität ablehnte, ja sich noch nicht einmal bewusst eingestehen konnte, die gleichgeschlechtliche Liebe zu bevorzugen, nahm er das, was er an sich selbst zurückwies, als Projektion auf anderen wahr. Anstatt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, attackierte er all jene, in denen sich sein innerer Zwiespalt widerspiegelte: Er schlug seine Frau, schoss mehrfach auf Rimbaud und griff seine Mutter tätlich an.
Für die Schüsse auf Rimbaud wurde Verlaine sogar zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haft entwickelte er durch Gespräche mit dem Gefängnispfarrer eine innige Beziehung zum christlichen Glauben. Dabei ist allerdings nicht davon auszugehen, dass aus dem Quartalssäufer auf einmal ein frommer Betbruder geworden wäre. Eher war das Christentum für Verlaine während seiner Haftzeit ein Mittel, inneren Halt zu finden und sein Leben aus einer distanzierteren Perspektive zu betrachten.
Kaspar Hauser als Spiegelbild Verlaines
Die in diesem Zusammenhang entstandenen Gedichte fasste Verlaine 1880 in dem Band Sagesse („Weisheit“) zusammen. Darunter befinden sich auch die Kaspar Hauser in den Mund gelegten Verse (Gaspard Hauser chante – „Kaspar Hauser singt“), die durch die schöne Vertonung Georges Moustakis zusätzliche Berühmtheit erlangt haben.
Für Verlaine war die Geschichte des Jugendlichen, der nach einem Leben in der Dunkelheit eines Kellerverlieses mit 16 Jahren in die Zivilisation hinausgeworfen wurde, zum einen ein Bild seines gefühlten inneren Erwachens aus der Finsternis seines bisherigen Lebens. Wie Kaspar Hauser, das „stille Waisenkind“, dessen ganzer ‚Reichtum‘ aus dem Staunen seiner „ruhigen Augen“ besteht, möchte auch er die Welt noch einmal mit neuen Augen sehen.
Zum anderen dient ihm die Geschichte, gerade umgekehrt, aber auch dazu, den seiner Existenz zugrunde liegenden inneren Konflikt dichterisch darzustellen – den Konflikt eines Menschen, der in seiner inneren Zerrissenheit nicht weiß, wo sein Platz ist auf der Welt:
„Bin ich zu früh oder zu spät geboren?
Was soll ich tun auf dieser Welt?
O betet, betet alle für den armen,
leidgeplagten Kaspar!“
Im unmittelbaren Umfeld dieses Gedichts befinden sich die eingangs zitierten Verse. Auch sie sind erkennbar von der Kaspar-Hauser-Thematik gefärbt. Sie zeichnen das Porträt eines Menschen, der in den Käfig seines eigenen Lebens eingesperrt ist: Draußen, jenseits der Gitterstäbe, sieht er die Schönheit des Lebens, die Leichtigkeit, mit der andere sich daran freuen, den Halt des Kirchturms (sei er nun als direkter Hinweis auf den christlichen Glauben gemeint oder allgemein auf den „Leuchtturm“ fester innerer Überzeugungen bezogen). Er aber bleibt eingesperrt in sich selbst, die andere Welt bleibt unerreichbar für ihn.
Wir sind alle „Kaspar Hauser“
So steht Verlaines Kaspar-Hauser-Dichtung sinnbildlich für sein eigenes Scheitern, für seine vergeblichen Versuche, sich mit selbst und der Welt auszusöhnen. Die Dissonanz zwischen dem eigenen, unvollkommenen Leben und der Utopie eines vollständig mit sich selbst im Einklang befindlichen Lebens spiegelt sich dabei auch auf der Ebene des Gedichts wider – nämlich in dem Auseinanderklaffen zwischen der inhaltlichen Ebene und der auf Wohlklang und formale Vollkommenheit abzielenden formalen Gestaltung der Verse.
Daneben weist die Thematisierung dieser Dissonanz aber auch über die biographische Ebene hinaus. Dies gilt zunächst, in einem existenziellen Sinn, für das menschliche Dasein an sich, das in seinem „Zum-Tode-Sein“ strukturell von der absoluten Vollkommenheit abgeschnitten bleibt. Allerdings muss die Kluft zwischen einem als dissonant empfundenen Leben und einer erträumten vollkommenen Harmonie keineswegs in dem einzelnen Menschen begründet sein. Man kann vielmehr auch aus objektiven, soziokulturellen Gründen von einem glücklichen Leben abgeschnitten sein: durch materielle Not etwa, sozialen Ausschluss oder auch Formen eines kulturellen „Unbehaustseins“.
Es ist deshalb vielleicht auch kein Zufall, dass eine der – wie ich finde – gelungensten Vertonungen des Gedichts von einer jüdischen Künstlerin (Catherine Stora) stammt. Schließlich hat kaum ein Volk die eigene Fremdheit in der Welt im Verlauf seiner langen Geschichte so stark erfahren wie das jüdische.
So verstanden, schließt das Gedicht auch an den letzten Post auf diesem Blog an, der die kulturelle Heimatlosigkeit der Kurden thematisiert hat. Darüber hinaus können sich von ihm auch ganz allgemein all jene angesprochen fühlen, denen die Utopie des einfachen, harmonischen Lebens klar vor Augen steht, die sich aber in der sozialen Wirklichkeit in den Käfig eines Lebens gesperrt sehen, das von materieller Gier, sozialer Ausgrenzung und geschäftsmäßig genährtem, berechnend eingesetztem Blutdurst gekennzeichnet ist
Links:
Musikalische Interpretation des Gedichts durch Catherine Stora (Live-Aufnahme aus dem Jerusalemer Khan-Theater, 16. Juni 2016)
Georges Moustaki: Gaspard (aus: Le voyageur – „Der Reisende“, 1969); Vertonung von Verlaines Gedicht Gaspard Hauser chante)
Weitere Nachdichtungen in: RB: Der Anti-Genius. Zum 120. Geburtstag von Paul Verlaine
Elias
Vielen Dank für diesen schönen und profunden Beitrag und die sehr beeindruckende Nachdichtung!!!- Dieses Gedicht trifft tatsächlich den Nerv der Zeit. Ich glaube, die Menschen sollten sich viel mehr über die Poesie mit den Fragen der Existenz auseinandersetzen.
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