Die Sprache der Natur

Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Kaiserhorst

Die vielfältige Formensprache, mit der die Natur im Kleinen wie im Großen ihre spielerische Schaffenskraft bezeugt, ist in den Bergen besonders ausgeprägt.

Türkenbundlilie, Frauenschuh, getüpfeltes Knabenkraut … All diese tastenden Versuche, die bizarre Formensprache der Pflanzenwelt in die Welt der menschlichen Worte und Bilder zu übertragen …
Es ist nicht anders als bei der Bergwelt, wo ja auch einzelne besonders markante Gesteinsformationen mit dem Zuckerguss menschlicher Bilder übergossen und so herausgelöst werden aus der erstarrten Felsenwelle, in der sie verwurzelt sind. So tritt an die Stelle der fremdartigen Gebilde, wie bei den Sternbildern, ein Märchenpanorama aus vermeintlich vertrauten Formen, die in einem in sich selbst geschlossenen Kreislauf auf lauter Sagen, Legenden und sinnerfüllte Figuren verweisen.
Warum sperren wir uns nur so gegen die Sprache der Natur? Was treibt uns dazu, in ihr lediglich einen Spiegel unserer selbst zu sehen?
Dabei spricht die Natur nirgends so vernehmlich zu uns wie hier, in den Bergen. Nirgendwo sonst äußert sie sich in so vielfältigen Formen, an keinem anderen Ort ist ihre Zeichensprache so reichhaltig. Und das gilt nicht nur für die überwältigende Ausdruckskraft der Berge. Auch das Kleine, vermeintlich Unbedeutende spricht hier mit derselben Eindrücklichkeit zu denen, die bereit sind, zuzuhören.
Wer den Wald der Moose, den Dschungel der Flechten oder das Dickicht der Baumpilze durch das Mikroskop betrachtet, wird darin dieselbe spielerische Metamorphose von Formen entdecken, die, wenn auch in einem ungleich gewaltigeren Akt, einst auch die Berge hervorgebracht hat.
Und wer in der einzigartigen Orchidee, die wir „Frauenschuh“ nennen, nicht das sieht, was die Bezeichnung nahe legt, wird in dieser einen Pflanze das ganze Geheimnis der Natur entdecken können: diese bis in die kleinste Synkope hinein durchkomponierte Sinfonie aus Mineralien, winzigen Lebewesen und Pilzsporen, das vielfältige, wenn auch für das bloße Auge unsichtbare Geschehen tief im Innern der Erde, das aus ihrem Schoß das Wunder des Lebens emporsprießen lässt.

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Buch (Hardcover) erscheint im Frühjahr 2024

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Bild: Spialia: Frauenschuh im Naturschutzgebiet Riedholz und Grettstätter Wiesen, Landkreis Schweinfurt, Bayern (Wikimedia commons)

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