Ausflug ins Paradies/5: Nächtliche Heimkehr / A Trip to Paradise/5: Night Walk through the Town

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Nach ihrem Ausflug in den Nonnenkonvent kehren Theo und Albertus in ihr Kloster zurück. Nebel und nächtliche Dunkelheit machen aus dem Heimweg eine Reise durch ein unüberschaubares Labyrinth.

English Version

Text hören

Montag, 28. März 1485

Meine erste Begegnung mit der Stadt … Das heißt: Im Grunde war es gar keine wirkliche Begegnung. Als ich mit Albertus zurück zum Männerkloster ging, umfing uns eine undurchdringliche Finsternis. Dazu herrschte auch noch so dichter Nebel, dass die Häuser nur schemenhaft zu erkennen waren.
Die Handlaternen, die wir vor uns hertrugen, waren der Sicht eher hinderlich. Das darin glimmende Talglicht lenkte die Aufmerksamkeit nur auf den feinen Sprühregen, der es umgab, anstatt den Weg zu beleuchten.
So war es für mich noch schwieriger, auf den unter die Stiefel gebundenen Trippen zu gehen. Der Idee nach sollen diese hölzernen Unterschuhe einen davor bewahren, im Schlamm zu versinken. Da dieser bis auf den Marktplatz überall lauert, ist das zwar eine segensreiche Erfindung. Wer aber nicht daran gewöhnt ist, sich auf diesen kleinen Stelzen fortzubewegen, gleitet auf dem weichen Untergrund nur noch leichter aus und läuft Gefahr, umzuknicken und sich den Knöchel zu verstauchen.
Ich wunderte mich, mit welcher Leichtigkeit Albertus den Weg zurück zu unserem Kloster fand. Natürlich war er in dieser Stadt zu Hause – aber musste nicht selbst für ihn in den nächtlichen Nebelschwaden alles gleich aussehen? Von einer Gasse gingen oder vielmehr wateten wir in die nächste, bogen um Häuserecken und passierten die Tore der Hofeinfahrten, die zu dieser späten Stunde natürlich fest verschlossen waren.
Wann immer ich aufsah, hatte ich das Gefühl, die Häuser würden im nächsten Augenblick über mir zusammenstürzen – so weit ragten die oberen Stockwerke in die Gassen hinein. In dem Nebel wirkten sie wie die Wracks gekenterter Schiffe, die als bizarre Denkmäler der Träume, mit denen ihre Besitzer sie einst beladen hatten, durch das nächtliche Meer glitten.
Der Weg kam mir auch deshalb so weit vor, weil wir, um zum Kloster zurückzugelangen, mehrere Umwege machen mussten. Der Grund dafür ist, dass die Stadt kein einheitliches Gebilde ist, sondern sich in drei – genau genommen sogar vier – voneinander unabhängige Bereiche gliedert: den Bezirk um die bischöfliche Kathedrale, die beiden Klöster sowie den eigentlich städtischen Bereich, der durch Mauern von den geistlichen Bezirken getrennt ist. Da zu diesen nicht nur die Kirchen und die Wohngebäude der Klosterinsassen bzw. der Bediensteten des Bischofs, sondern auch diverse Nebengebäude und Gärten gehören, wirkt die Stadt auf einen Außenstehenden – zumal wenn er sie bei Nacht kennenlernt – wie ein vielfach in sich verschachteltes Labyrinth.
Lange Zeit hatte ich den Eindruck, wir würden uns im Kreis bewegen. Dann aber gelangten wir an einen schmalen, die Stadt der Länge nach durchschneidenden Fluss, an dem wir uns auf einem engen Pfad entlangtasteten. Da Albertus voranschritt, musste ich ständig aufpassen, dass mir die von ihm zur Seite gebogenen Zweige nicht ins Gesicht schlugen. Stellenweise war das Ästegewirr so dicht, dass wir uns unseren Weg nur mit Mühe bahnen konnten. Erschwerend kam hinzu, dass der Pfad die ganze Zeit über leicht anstieg. Dadurch bildete sich zu unserer Rechten eine immer steiler ansteigende Böschung, der wir mehrmals gefährlich nahe kamen.
Es kam mir vor, als würden wir uns eine halbe Ewigkeit durch den nächtlichen Dschungel kämpfen. In Wirklichkeit waren es aber wohl nur wenige Minuten – die Stadt ist ja nicht sehr groß.
Endlich ragte vor uns eine dunkle Mauer aus dem Nebel auf. Erst jetzt erinnerte ich mich daran, dass das Kloster auf einer Anhöhe über der Stadt lag. Albertus hatte den Klosterbezirk offenbar seitlich umrundet, so dass wir ihn auf der von der Stadt abgewandten Seite erreichten.
Zu meiner Überraschung standen wir kurz darauf vor einer hinter Sträuchern versteckten Tür in der Mauer. Dahinter erstreckte sich ein abschüssiger Gang, der wohl einmal angelegt worden war, um den Mönchen im Falle eines feindlichen Angriffs eine unbemerkte Flucht aus dem Kloster zu ermöglichen.
Von Anfang an kam mir der Gang irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich eine Folge der Gemeinsamkeiten, die alle derartigen Gänge aufweisen, sagte ich mir – und vergaß den Eindruck im selben Augenblick wieder. Es war auch nicht die Zeit, über derartige Dinge nachzudenken. Ich war vollauf damit beschäftigt, mit der einen Hand die Laterne vor mich hinzuhalten und mich mit der anderen an der Wand entlangzutasten.
Albertus hatte diesen Weg augenscheinlich schon des Öfteren genommen. Er ging so schnell voran, dass ich kaum nachkam. Der Boden war feucht, es roch nach Pilz und Moder. Mehrmals rutschte ich auf den in den Stein gehauenen Stufen aus, konnte mich aber stets rechtzeitig an der Wand abstützen.
Nach einiger Zeit fiel der Gang nicht mehr so steil ab und ging schließlich ganz in die Horizontale über. Kurz darauf passierten wir eine Holztür, die ebenfalls unbestimmte Erinnerungen in mir wachrief. Im Flüsterton erzählte mir Albertus, dass sie zu einem Verlies führte. Dort hätte man früher, als Bruder Eberhart noch nicht zum Prior ernannt worden war, unbotmäßige Mönche eingesperrt.
Während er noch redete, senkte der Gang sich wieder ab und wurde schließlich so steil und so eng, dass wir den restlichen Weg nur auf den Knien rutschend zurücklegen konnten. Am Ende gelangten wir an ein Loch, das auf der anderen Seite von einem Vorhang verdeckt wurde. Durch dieses Loch mussten wir etwa einen Meter tief hinabspringen.
Ich sprang – und auf einmal wusste ich wieder, woran Gang und Holztür mich erinnerten. Mir war, als stürzte ich durch das Loch in meine ehemalige Gegenwart zurück – in jene Zeit, als ich in eben dem Gewölbe, in dem ich mich nun wiederfand, im Kreis der Dunkelmänner meditiert hatte. Und in diesem Gewölbe – bei dem es sich offenbar um die Krypta der Klosterkirche handelte – wurde mir auch schlagartig klar, an wen mich der Prior erinnerte. Im Nachhinein erscheint mir diese Assoziation allerdings so lächerlich, dass ich es nicht für lohnend halte, ihr weiter nachzugehen. Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf kommen konnte!


English Version

A Trip to Paradise/5: Night Walk through the Town

After their excursion to the nunnery, Theo and Albertus return to their convent. Fog and nocturnal darkness turn their way home into a journey through an impenetrable labyrinth.

Monday, March 28, 1485

My first encounter with the town – which actually wasn’t a real encounter … When I went back to the men’s monastery with Albertus, we were enveloped in impenetrable darkness. In addition, there was such a dense fog that the houses were only vaguely visible.
The hand lanterns we carried in front of us rather hindered our vision. The tallow light glowing in them only drew attention to the fine drizzle that surrounded it instead of illuminating the path.
So it was even more difficult for me to walk on the wooden clogs tied under my boots. They actually serve a very good purpose – to keep you from sinking into the mud. Since mud lurks everywhere except in the marketplace, this is indeed a beneficial invention. But if you are not used to walking on these little stilts, you will slip even more easily on the soft ground and run the risk of twisting your ankle.
Amazed, I saw how easily Albertus found his way back to our monastery. Of course he was at home in this town – but didn’t everything have to look the same even to him in the dark fog? From one alley we walked, or rather waded, into the next, turned several corners and passed the gates of courtyard entrances, which were of course firmly locked at this late hour.
Whenever I looked up, I felt as if the houses would collapse on me the next moment: the upper floors protruded menacingly into the alleys. In the fog, they looked like the wrecks of capsized ships, gliding through the night sea as bizarre monuments to the dreams their owners had once loaded them with.
Another reason why the way seemed so long to me was that we had to make several detours to get back to the monastery. This was due to the fact that the town is not a uniform entity, but is divided into three – strictly speaking even four – independent areas: the district around the episcopal cathedral, the two monasteries and the actual urban area, which is separated from the spiritual districts by walls. Since the latter include not only the churches and the residential buildings of the monastery residents and the bishop’s servants, but also various outbuildings and gardens, the city appears to an outsider – especially if he gets to know it at night – like an intricate labyrinth.
At first I actually had the impression that we were going around in circles. But then we came to a narrow river that cut the length of the city, along which we felt our way on a narrow path. As Albertus led the way, I had to constantly watch out that the branches he bent to the side didn’t hit me in the face. Here and there, the tangle of branches was so dense that we hardly managed to clear our way. To make matters worse, the path was ascending slightly all the time. This created an increasingly steep slope on our right, which we came scarily close to several times.
It felt like we were fighting our way through the jungle at night for half an eternity. In reality, however, it probably only took a few minutes to get home – the town is not very big.
Finally, a dark wall rose out of the mist in front of us. Only now did I remember that the monastery was situated on a hill above the city. The path had obviously led us past the front of the monastery, so that we reached it on the side averted from the town.
To my surprise, we were soon standing in front of a door hidden behind bushes in the wall. Behind it was a sloping corridor that had probably once served the monks to escape from the monastery unnoticed in the case of an enemy attack.
From the beginning, the corridor seemed somehow familiar to me. But probably all such corridors look similar, I said to myself – and forgot the impression in an instant. It was not the time for such idle thoughts. I was fully occupied with holding the lantern out in front of me with one hand and feeling my way along the wall with the other.
Albertus had obviously taken this path many times before. He went so fast that I could hardly keep up. The ground was damp, it smelled of fungus and mould. Several times I slipped on the steps carved into the stone and barely managed to hold onto the wall in time.
After a while, the passage no longer dropped quite so steeply and finally became completely horizontal. Shortly afterwards, we passed a wooden door that again evoked vague memories in me. Albertus told me in a whisper that it led to a dungeon. In the past, when Brother Eberhart had not yet been appointed Prior, unruly monks were locked up there.
Shortly afterwards, the corridor descended again and finally became so steep and so narrow that we could only make the rest of the way by sliding on our knees. At the end we reached a hole that was covered by a curtain on the other side. Through this hole we had to jump down about one meter.
I jumped – and suddenly I realised what the corridor and the wooden door reminded me of. It felt as if I were plunging through the hole back into my former present – into the time when I had meditated among the Disciples of Darkness in the very vault in which I now had landed again. And in this vault – which was obviously the crypt of the monastery church – I suddenly realised who the Prior reminded me of. In retrospect, however, this association seems so ridiculous to me that I don’t think it’s worth pursuing it further. I myself don’t understand how I could have come up with it!

Bilder / Images: Elias Schäferle: Silhouette einer Burg bei Nacht / Silhouette of a castle at night (Pixabay); Ben Paul: Mystische Nacht (Pixabay) / Mystic Night


Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..