Ausflug ins Paradies/4: Bitterer als der Tod / A Trip to Paradise/4: More Bitter than Death

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Theos Zusammensein mit Mechildis gipfelt in einer mystischen Erfahrung – die freilich auch körperlich nicht unangenehm ist.

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Sonntag, 27. März 1485, nachts

War es ein Fehler von mir, Mechildis zu trösten? Hätte ich sie nicht in den Arm nehmen dürfen, als sie so bitterlich geweint hat? War das ein Grenzübertritt, den ich mir nicht hätte erlauben dürfen?
Aber letztlich sind das alles theoretische Fragen. Sie haben nichts zu tun mit der Realität einer in Tränen aufgelösten Frau, der ich nur um den Preis unmenschlicher Hartherzigkeit eine Schulter zum Anlehnen hätte verweigern können.
Vor allem aber habe ich den Eindruck, mit diesen kleinkrämerischen Selbstzweifeln die Erinnerung an das himmlische Feuer zu beschmutzen, in das ich mit Mechildis eingetaucht bin.

  1. Bitterer als der Tod

Nach kurzem Zögern bin ich schließlich zu Mechildis herübergegangen und habe mich zu ihr aufs Bett gesetzt. Als ich den Arm um sie legte, schmiegte sie sich leicht an meine Schulter. Ich spürte, wie ihr Körper unter den Weinkrämpfen zuckte und ihre warmen Tränen in den Stoff meines Mönchsgewands einsickerten.
Mehrere Minuten vergingen, ehe Mechildis sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Immer noch schluchzend, berichtete sie mir dann von dem Grund für ihre Trauer: Eine der Beginen, mit der sie sehr eng befreundet war, war im letzten Jahr von Bruder Heinrich als Ketzerin angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.
Jetzt konnte ich natürlich den Schmerz, der sie beim bloßen Gedanken an diesen Prediger erfüllte, nur allzu gut nachvollziehen. Ich drückte sie noch fester an mich. Dabei murmelte ich inhaltslose Beschwichtigungsworte vor mich hin, wie man sie Kindern ins Ohr flüstert, wenn sie nachts aus einem Alptraum hochschrecken.
Eine Zeit lang saßen wir regungslos da, ein jeder versunken in den Atem des anderen. Allmählich vereinten sich die Flammen unserer beiden Körper, bis sie uns wie eine unsichtbare Decke umschlossen. Als schließlich meine Hände über die purpurnen Saiten ihres Haares strichen, spielte sich das Lied, in das wir uns hineingewiegt hatten, wie von selbst weiter. Und obwohl unsere Bewegungen von da an rein von unseren Instinkten bestimmt waren, erscheint mir unser traumwandlerischer Tanz in meiner Erinnerung doch eher wie eine sehr intensive Meditation, bei welcher die Meditierenden ganz in dem Objekt ihrer Meditation aufgehen.
Aus Mechildis‘ Mund strömte mir ein Duft wie von warmen Äpfeln entgegen, der sich angenehm mit dem Nachgeschmack des getrunkenen Weins vermischte. Als unsere Zungen ihr wortloses Zwiegespräch aufnahmen, hatte ich so den Eindruck, einen süßen Likör zu trinken, der mich allein dadurch berauschte, dass er meine Lippen und Zähne benetzte.
Wir entkleideten einander mit vorsichtigen Bewegungen, als wären unsere Körper kostbare Vasen, die wir durch eine unbedachte Berührung zerbrechen könnten. Meine Hände tasteten sich an Mechildis‘ Hals, der im Schein der Kerzen wie Elfenbein schimmerte, zu ihren Brüsten herab. Mit der Anschmiegsamkeit kleiner Kätzchen kuschelten sie sich in meine Hände. Dann umfasste ich das Geschmeide ihrer Hüften, das sich im nächsten Augenblick in weichen, unendlich zarten Bewegungen um meinen Schoß ergoss.
Ihre Augen und Lippen hielt Mechildis fast die ganze Zeit über geschlossen. Nur wenn sie mich küsste, öffnete sie sie. Dann war es mir, als wären ihre Augen zwei dunkelgrüne Teiche, in denen ich versank in einem unbegreiflichen und unaussprechlichen Einswerden, in dem nicht nur alles Unterscheiden, sondern überhaupt alles Wissen von Unterschieden sich in Nichts auflöste.
In dem grundlosen Abgrund, in dem wir uns miteinander in einer ebenso grundlosen Seligkeit verloren, war Mechildis mir Erinnerung und Verheißung zugleich. Es war, als ginge ich durch einen langen Flur, dessen Anfang und Ende nicht abzusehen waren und aus dem mir die Liebesklagen aller Frauen, die ich je berührt hatte und noch berühren würde, entgegenhallten. Gleichzeitig schien es mir, als handelte es sich bei all den Frauen stets um ein und dieselbe, die nur in immer anderen Gestalten vor mich hintrat.
„Liebe mich so, dass es weh tut!“ Wie aus einem tiefen Brunnen drang Mechildis‘ Stimme an mein Ohr. Es war das Einzige, was sie während unserer Umarmungen zu mir sagte. Umso fester brannten sich diese Worte in mein Gedächtnis ein. Während sie sie mir ins Ohr flüsterte, presste sie ihren Körper eng an das Kreuz auf meiner Brust, das Albertus mir geschenkt hatte.
Als wir später nebeneinander lagen – mein linker Arm diente ihr als Kissen, während mein rechter Arm sie unterhalb ihrer Brüste umfing – fragte ich sie, was sie mit ihren Worten gemeint hatte. Daraufhin richtete sie sich halb auf und stützte ihren Kopf auf die rechte Hand.
Gedankenverloren fuhr sie mit den Fingern der linken Hand an meinem Brustbein auf und ab, als wollte sie ihre Antwort meinem Körper einschreiben. „Kennst du auch die Stelle in der Bibel, wo es heißt, das Weib sei bitterer als der Tod?“ fragte sie schließlich zurück.
Nein, ich kannte die Stelle nicht. Aber sie erschien mir in dem Moment als das Widersinnigste, was ich je gehört hatte. Mein Blick ruhte auf diesem weichen Körper, der mir noch immer in den geschmeidigen Bewegungen zu fließen schien, mit denen er mich eben noch umfangen hatte. Nichts lag mir ferner, als diesen Anblick mit Bitternis zu assoziieren.
Mechildis lächelte mich zärtlich an – wahrscheinlich ahnte sie, was ich empfand. Dennoch setzte sie unbeirrt zu einer Auslegung der von ihr zitierten Bibelstelle an: „Ich verstehe das so, dass der Mann durch das Weib zwar zu einer Ahnung der ewigen Seligkeit gelangt, dass er sich aber – weil diese Ahnung selbst ja vergänglich ist – eben dadurch nur umso deutlicher seiner Verlorenheit bewusst wird. Deshalb ist das Weib für ihn bitterer als der Tod. Denn der Tod setzt ja der Empfindung der Verlorenheit gerade ein Ende und bringt uns der Einheit mit Gott näher.“
Sie beugte sich kurz zu mir herab und küsste mich wie zum Trost. Für einen kurzen Augenblick versank ich noch einmal in dem rotblonden Strom ihrer Haare.
Dann setzte sie, meinen Einwand vorwegnehmend, hinzu: „Wenn es in der Bibel auch weibliche Prophetinnen, Predigerinnen oder Evangelistinnen gäbe, würden sie wohl dasselbe über den Mann sagen. Die Empfindungen nämlich sind hier wie dort dieselben. Letztlich können wir uns doch nur so lange im anderen verlieren und damit ganz in der Liebe sein, wie das Verlangen in uns brennt. Sobald es gesättigt ist, werden wir uns wieder bewusst, dass auf dieser Welt kein Verlangen je ganz zu stillen ist. Deshalb wünschte ich, dass das Verlangen ewig währte, und bejahe den Schmerz, den es mir verursacht: Weil wir nur in der Sehnsucht wahrhaft zu Hause sind, fühle ich mich umso reiner, je näher meine Liebe dem Schmerz kommt.“
Bald darauf klopfte es an der Tür. Es war Albertus, der mich für den Rückweg zu unserem Kloster abholte. Er war taktvoll genug, vor der Tür zu warten und mir so Zeit zu geben, mich anzukleiden und mich von Mechildis zu verabschieden.
Auf dem Gang erwartete mich außer Albertus auch Margaretha. Als ehemalige Pförtnerin wusste sie bestens über den Aufbewahrungsort des Schlüssels für die Klosterpforte Bescheid. Darüber hinaus kamen uns auch ihre mehrfach erprobten Techniken einer geräuscharmen Öffnung des Tores zugute.
Zwar mussten wir dennoch darauf achten, die jetzige Schwester Pförtnerin, die in einer unweit des Klostereingangs gelegenen Kammer untergebracht war, nicht zu wecken. Sie schlief indes den Schlaf der Gerechten und war selbst durch das dissonanteste Quietschen und Knarren des Tores nicht zu wecken. So gelangten wir unbehelligt nach draußen.
„Bitterer als der Tod …“, hallte es in mir nach, als uns die Leere der nächtlichen Gassen in sich aufnahm.

Anmerkungen:

Duft wie von warmen Äpfeln: Die Beschreibung von Mechildis‘ Körper lehnt sich an das Hohelied Salomos an (vgl. Hld 7, 2 – 10)

In einem unbegreiflichen und unaussprechlichen Einswerden: Die Passage bezieht sich auf Ausführungen des spätmittelalterlichen Mystikers Johannes Tauler über das Versinken des Geistes im „Abgrund“ der göttlichen „Einsheit“, in der „alles Unterscheiden“ sich auflöse (zit. nach Huizinga, S. 317).

Liebe mich so, dass es weh tut: Zitat aus der ab 1250 entstandenen Schrift Das fließende Licht der Gottheit der Mystikerin Mechthild von Magdeburg. Das Zwiegespräch zwischen Seele und Gott wird darin u.a. in folgende Worte gefasst: „Ja, Herr, liebe mich so, dass es weh tut. Liebe mich oft, und liebe mich lange! Denn je näher deine Liebe dem Schmerz kommt, um so reiner werde ich; je häufiger du mich liebst, um so schöner werde ich; je länger du mich liebst, um so heiliger werde ich hier auf Erden.“ (zit. nach Störmer-Caysa, Uta: Entrückte Welten. Einführung in die mittelalterliche Mystik, S. 143. Leipzig 1998: Reclam).

Das Weib sei bitterer als der Tod: bezieht sich auf das Buch Kohelet (Koh / Prediger 7, 26)

English Version

A Trip to Paradise/4: More Bitter than Death

Theo’s encounter with Mechildis culminates in a mystical experience – which is not unpleasant physically either.

Sunday, March 27, 1485, at night

Was it a mistake to comfort Mechildis? Should I not have taken her in my arms when she cried so bitterly? Was that a border crossing I should not have allowed myself?
But in the end, these are all theoretical questions. They have nothing to do with the reality of a woman in tears, whom I could only have refused a shoulder to lean on at the price of inhuman callousness.
Above all, however, I have the impression of tainting the memory of the heavenly fire in which I was immersed with Mechildis with such petty rumination.

  1. More Bitter than Death

After a moment’s hesitation, I finally went over to Mechildis and sat down on the bed with her. As I put my arm around her, she nestled gently against my shoulder. I could feel her body twitching under the spasms of crying and her warm tears seeping into the fabric of my monk’s garb.
Several minutes passed before Mechildis regained control of herself. Still sobbing, she then told me the reason for her grief: one of the Beguines, with whom she was very close friends, had been accused of being a heretic by Brother Henry last year and burned at the stake.
Now, of course, I could understand all too well the pain that filled her at the mere thought of this preacher, and held her even tighter. As I did so, I murmured meaningless words of reassurance, like the lullabies whispered in children’s ears when they wake up from a nightmare.
For a while we sat motionless, each absorbed in the other’s breath. Gradually, the flames of our two bodies joined until they enclosed us like an invisible veil. Finally, as my hands stroked the crimson strings of her hair, the song we had lulled ourselves into played on as if by itself. And although our movements from then on were purely determined by our instincts, I remember our somnambulistic dance more like a very intense meditation in which the meditators are completely absorbed in the object of their meditation.
From Mechildis‘ mouth a scent of warm apples flowed towards me, a fragrance that mingled pleasantly with the aftertaste of the wine I had drunk. When our tongues took up their wordless dialogue, I therefore felt like drinking a sweet liqueur that inebriated me merely by moistening my lips and teeth.
We undressed each other with careful movements, as if our bodies were precious chalices that might break at any careless touch. My hands felt their way down Mechildis‘ neck, which shimmered like ivory in the glow of the candles, to her breasts. They nestled in my hands with the suppleness of little kittens. Then I embraced the jewellery of her hips, which in the next moment poured around my lap in soft, graceful movements.
Mechildis kept her eyes and lips closed almost all the time. Only when she kissed me did she open them. Then it was as if her eyes were two dark green ponds in which I sank into an incomprehensible and inexpressible oneness, in which not only all differentiation but even all knowledge of differences dissolved.
In the groundless abyss, in which we lost ourselves in an equally groundless bliss, Mechildis was both memory and promise to me. It was as if I were walking through a long corridor, whose beginning and end could not be foreseen, and from which the love laments of all the women I had ever touched and would still touch echoed back to me. At the same time, it seemed to me as if all these women were one and the same, albeit always in different guises.
„Love me so that it hurts!“ As if from a deep well, Mechildis‘ voice reached my ears. It was the only thing she said to me during our embraces. All the more these words burned themselves into my memory. While she whispered them in my ear, she pressed her body tightly against the cross on my chest that Albertus had given me.
Later, as we lay side by side – my left arm serving as a pillow for her while my right arm embraced her below her breasts – I asked her what she had meant by her words. In response, she half straightened up and rested her head on her right hand.
Lost in thought, she ran the fingers of her left hand up and down my breastbone as if to inscribe her answer into my body. „Do you know the passage in the Bible where it says that the woman is more bitter than death?
No, I didn’t know the passage. But at that moment, it seemed to me the most absurd thing I had ever heard. My gaze rested on that delicate body, which I saw still flowing in the supple movements with which it had embraced me a moment ago. Nothing was further from my mind than to associate this sight with bitterness.
Mechildis smiled tenderly at me – probably she guessed what I was feeling. Nevertheless, she unflinchingly started to interpret the passage from the Bible she had quoted: „As I understand it, this means that a woman can provide a man with an inkling of eternal bliss. But because this inkling itself is ephemeral, it only makes him all the more aware of his forlornness. That is why the woman is more painful to him than death – because death puts an end to the feeling of being lost and brings us closer to being one with God.“
She bent down to me briefly and kissed me as if to comfort me. For a brief moment I sank once more into the reddish-blonde stream of her hair.
Then, anticipating my objection, she added: „If there were also female prophets, preachers or evangelists in the Bible, they would probably say the same about the man. The sentiments are identical for both sexes. Ultimately, we can only lose ourselves in the other and thus be completely absorbed in love as long as the desire burns within us. As soon as it is satisfied, we become aware again that no desire can ever be completely satisfied in this world. That’s why I wished the longing would last forever, and affirm the pain it causes me. Since longing is the only way for us to be truly at home, I feel all the more pure the closer my love comes to pain.“
Soon after, there was a knock at the door. It was Albertus, who came to fetch me for the way back to our monastery. He was tactful enough to wait outside the door, giving me time to get dressed and to embrace Mechildis one last time.
In the corridor, besides Albertus, Margaretha was waiting for me. As a former gatekeeper, she knew where the key to the monastery gate was kept. Furthermore, we benefited from her repeatedly tested techniques for opening the gate quietly.
Nevertheless, we had to be careful not to wake the current gatekeeper nun, who was accommodated in a chamber not far from the entrance to the monastery. She slept the sleep of the righteous, though, and was not to be awakened even by the most dissonant squeaking and creaking of the gate. So we got outside unmolested.
„More bitter than death …“, it echoed in me as the emptiness of the nightly alleys absorbed us.

Annotations:

Scent of warm apples: The description of Mechildis‘ body is based on King Solomon’s Song of Songs (cf. Song of Solomon 7:2-10).

I sank into an incomprehensible and inexpressible oneness: The passage refers to remarks by the late medieval mystic Johannes Tauler about the sinking of the spirit into the „abyss“ of the divine „oneness“ in which „all differentiation“ dissolves (quoted in Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters [Autumn of the Middle Ages] (Dutch 1919, German 1924), p. 317. Stuttgart 1975: Kröner).

Love me so that it hurts: Quote from the work Das fließende Licht der Gottheit [The Flowing Light of the Godhead] by the mystic Mechthild of Magdeburg, written from 1250 onwards. The dialogue between soul and God is expressed here in the following words: „Yes, Lord, love me so that it hurts. Love me often, and love me for a long time! For the closer your love comes to pain, the purer I shall become; the more often you love me, the more beautiful I shall become; the longer you love me, the holier I shall become here on earth.“ (quoted from Störmer-Caysa, Uta: Entrückte Welten. Einführung in die mittelalterliche Mystik / Raptured Worlds. Introduction to Medieval Mysticism, p. 143. Leipzig 1998: Reclam).

The woman is more bitter than death: refers to the Book of Ecclesiastes (Ecclesiastes 7:26).

Bilder / Images: Gustave Moreau (1826 – 1898): Cantique des Cantiques (Das Lied der Lieder / Hohelied Salomos, 1893); Ohara Museum of Arts, Kurashiki/Japan (Wikimedia commons); Unbekannter Maler: Miniatur zu Giovanni Boccaccios Decamerone (Dekameron), 15. Jahrhundert (Wikimedia commons; Ausschnitt) /Unknown painter: Miniature for Giovanni Boccaccio’s Decamerone, 15th century (Wikimedia Commons; detail)

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