Die Kegelstadt / The Cone Town

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Theo erfährt etwas über den Aufbau der Stadt, in der er sich befindet. Dies wirft aber auch wieder neue Fragen auf.

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Samstag, 21. März 2521 (80/113), etwas später

Ein seltsames Gefühl – ich habe den Eindruck, einen ganzen Bücherschrank verspeist zu haben. Mein Gehirn hat sich mit neuem Wissen vollgesogen, obwohl ich keinerlei Lernanstrengungen unternommen habe. Sehr praktisch – aber auch irgendwie unheimlich. Es fühlt sich an, als hätte jemand Wissen in mich eingepflanzt, das keinerlei Verbindung zu mir hat.
Trotzdem bin ich natürlich froh, so rasch geschaltet und die Pause in den Beobachtungshäusern so effektiv genutzt zu haben. Dabei wusste ich anfangs ja gar nicht, wie mir geschah, als sich ohne jede Vorankündigung die um meine Arme und Beine geschlungenen Fesseln lösten und die Kabinentür aufschwang.
Mein erster Gedanke war: Endlich Feierabend! Erst der gelangweilt-schlendernde Gang meiner Mitbeobachtenden zeigte mir, dass es sich wohl eher um das Signal für eine längere Pause handelte.
Viele zogen sich nun ihre metallenen Fluganzüge über und begaben sich auf Besuchstour in andere Stockwerke, wo vielleicht Bekannte beschäftigt waren. Möglicherweise gab es dort auch so etwas wie Gemeinschaftsräume oder Kantinen. Letzteres erschien mir allerdings nach der vollautomatischen Fütterung vom vergangenen Abend eher unwahrscheinlich.
Da ich der einzige Schattenlose auf meiner Etage war, wusste ich nicht, welches Verhalten für Leute wie mich während der Pausenzeit üblich war. Jedenfalls war jetzt, nachdem alle anderen zu Ausflügen in andere Stockwerke ausgeschwirrt waren oder Besuche von Beschäftigten aus anderen Etagen empfingen, die Schattenlosigkeit wieder deutlich als Makel zu spüren – denn als Schattenloser hätte ich ja nur über die Außenleiter in ein anderes Stockwerk gelangen können.
Allerdings interessierte es mich in dem Moment auch nicht, ob hier auch Schattenlose einander Besuche abstatteten. Meine Aufmerksamkeit galt vor allem den Pausengesprächen. Vielleicht würden diese mir endlich nähere Aufschlüsse über die Lebensumstände in dieser Welt geben!
Meine Hoffnung wurde jedoch bitter enttäuscht. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte den Inhalt der Gespräche nicht entschlüsseln. Zuerst dachte ich, die Menschen hier könnten sich aufgrund der fehlenden Zähne einfach nicht mehr richtig artikulieren. Leider blieb mir der Sinn der Worte aber auch dann verschlossen, als ich sie besser voneinander unterscheiden konnte. Es war wie beim Hören einer verwandten Sprache, wenn ab und zu ein vertraut klingendes Wort auftaucht, das dann aber doch über unbekannte Nebenbedeutungen zu verfügen scheint und dazu noch mit anderen, unverständlichen Worten verbunden wird.
Hinzu kam, dass die Unterhaltungen nicht gerade sonderlich aufregend wirkten. Auch wenn sie miteinander sprachen, behielten die Menschen hier ihren leeren Blick bei. Es sah gar nicht so aus, als wollten sie einander etwas mitteilen. Eher schienen sie mit den Besuchen eine ähnliche Pflicht zu erfüllen wie mit der Beobachtung der Bilder in den Kabinen.
Heute war das nicht anders als gestern. Alle redeten wieder in demselben einschläfernden Singsang aufeinander ein, fast ohne jede Mimik und Gestik. Gut, vielleicht rührt dieser Eindruck auch daher, dass ich die informellen Gesprächsnormen nicht kenne, die hier gelten. Dennoch wurde ich schon vom Zuschauen müde.
Gelangweilt von der Langeweile der anderen, blickte ich wie schon am Vortag wieder auf das Lernprogramm in der Nachbarkabine. An ihrer Vorderwand flackerten die Bilder noch immer ohne Unterlass vorüber, als wäre es gleichgültig, welche und wie viele von ihnen das Gehirn der Lernenden erreichen.
Vorsichtig sah ich mich nach allen Seiten um: Niemand beachtete mich! Anders als gestern war dieses Mal auch der Schüler nirgends zu sehen. Es war fast wie eine Einladung, die ich nicht ausschlagen konnte. Zwar musste ich befürchten, dass der Adressat des Lernprogramms jeden Augenblick auftauchen und mich möglicherweise unter Inanspruchnahme irgendeines Aufsichtsdienstes aus der Kabine werfen würde. Aber meine Neugier war einfach zu groß, als dass ich mir diese Chance hätte entgehen lassen können. Schließlich wusste ich ja auch nicht, ob und wann sie sich mir noch einmal bieten würde.
Mit klopfendem Herzen huschte ich in die Nachbarkabine und hockte mich vor das Bildermeer. Meine Hände zitterten, als ich nach dem Helm griff, von dem ich annahm, er würde das Lernen unterstützen.
Und richtig: Ich hatte mich nicht getäuscht! Kaum hatte ich den Helm aufgesetzt, da passte er sich unmerklich meiner Schädelform an, und ich vergaß die Welt um mich her. Er schien auf ähnliche Weise zu funktionieren wie die Hirnmaske in dem Appartement. Zwar fehlte hier die von der Stirnmitte und dem vorderen Teil der Schädeldecke ausgehende Stimulation, doch waren dafür die oberhalb des Nackens und an den Schläfen eingeleiteten Impulse umso stärker.
Mit dem Helm auf meinem Kopf konnte ich die Bilder viel deutlicher erkennen. Außerdem vernahm ich nun eine Stimme, die das Gezeigte offenbar mit kurzen Erklärungen versah. Erläuterung und Bild waren anscheinend im Sinne größtmöglicher Lernökonomie aufeinander abgestimmt. Da ich aber die Worte nicht verstand, konnte ich die Botschaft der Bilder dennoch nur unzureichend entschlüsseln. Hinterher war ich freilich überrascht, wie wenig ich davon vergessen hatte und wie viele Zusammenhänge ich auf einmal – ohne bewusste Anstrengung meines Geistes – durchschaute.
Seit dieser Unterrichtsstunde im Zeitraffertempo weiß ich zumindest über den Aufbau der Siedlung, in die ich hineingeraten bin, einigermaßen Bescheid. Das Bild, das sich mir hiervon eingebrannt hat, zeigt ein Gebilde in der Art eines riesenhaften Kegels. An dessen Innenwände sind kreisförmig die Hochhäuser angebaut, die man vom Platz aus sieht. Der Eindruck, dass sie sich mit den Spitzen berühren, beruht also nur zum Teil auf einer optischen Täuschung – durch die Anpassung an die Kegelwände weisen sie in der Tat in den oberen Stockwerken eine nach innen gebogene Form auf.
An seinem oberen Ende mündet der Kegel in ein großes Loch, das mit einem Filter versehen ist und so nur die für den Menschen unschädlichen Bestandteile der Luft in die „Kegelatmosphäre“ eindringen lässt. Gleichzeitig sind dort große Sonnenkollektoren angebracht, die offenbar leistungsstark genug sind, um den Platz zwischen den Hochhäusern rund um die Uhr mit Flutlicht zu bestrahlen.
Jeder, der in das Innere des Kegels hineingelangen will, muss die Filteranlage passieren. Dies könnte auch erklären, warum Schorsch und mir keine große Beachtung geschenkt wird. Allem Anschein nach ist die Ausgangsschleuse so gut bewacht, dass das unerkannte Eindringen in den Kegel für unmöglich gehalten wird.
Auch die Zahlenfolge am unteren Rand des Beobachtungsbildes (80/113) kann ich nun besser einordnen. Ich nehme an, dass es sich dabei um eine Datumsangabe handelt, die auf einer neuen Zeitrechnung basiert. Möglicherweise bezieht sie sich auf den Tag der Fertigstellung des Kegels – der damit als bedeutende Zäsur in der Geschichte gelten muss. Dies deutet auf irgendein einschneidendes Ereignis hin, über dessen Art ich allerdings nur spekulieren kann.
Mit dem Lernhelm ging es mir wie mit der Hirnmaske – ich verlor darunter jegliches Zeitgefühl. Als plötzlich jemand meinen Arm berührte und mich verwundert ansah, muss ich wohl ebenso verwundert zurückgestarrt haben: Ich hatte den Eindruck, mitten aus einem spannenden Traum gerissen zu werden.
Neben mir stand der Schüler, der offenbar seine Pause beendet hatte. Irritiert stellte er fest, dass jemand anders – und noch dazu ein Schattenloser! – seine Kabine besetzt hatte.
Wie sollte ich mein Verhalten erklären? Was für eine Ausrede konnte es dafür geben? Aber selbst wenn mir auf die Schnelle eine eingefallen wäre – wie hätte ich mich in der fremden Sprache verständlich machen sollen?
Ohnehin hatte ich nicht den Eindruck, dass mein Nachbar mir irgendwelche Vorwürfe machen wollte. Er sah eher belustigt aus, wie ein Kind, das seinen Vater dabei ertappt, wie dieser sich mit seinen Spielsachen vergnügt. In der Tat musste er ja auch davon ausgehen, dass die Inhalte des Lernprogramms für mich nichts Neues wären – zumal der Lernhelm die Vergessensrate mit Sicherheit minimiert.
Es war das erste Mal, dass ich bei einem Menschen hier ein Anzeichen von Erheiterung bzw. überhaupt eine Gefühlsäußerung bemerkte. Gerade dies aber ließ mich zutiefst erschrecken. In dem zahnlosen Mund wirkte das spöttisch-nachsichtige Lächeln seltsam deplatziert. Es verzerrte die kindlichen Gesichtszüge zu einer an Schrumpfköpfe erinnernden Fratze.
Ich bemühte mich, mit Gestik und Mimik eine Entschuldigung zum Ausdruck zu bringen. Dann begab ich mich zurück in meine Kabine. Wie ein stummer Vorwurf schwang die Tür hinter mir zu: Die Pause war längst vorbei!
Als ich mich setzte, legten sich auch die Gurte umgehend wieder um meine Arme und Beine. Erst jetzt spürte ich den Druck auf meiner Blase und bereute, mich nicht rechtzeitig nach einer Nasskabine umgesehen zu haben. Nun musste ich mich bis zum Abend – der für die gerade in den Ruhehäusern Befindlichen der Morgen sein würde – in Geduld üben.

English Version

The Cone Town

Theo learns something about the structure of the town he has landed in. But this also raises new questions.

Saturday, March 21, 2521 (80/113), a bit later

A strange feeling – I have the impression of having devoured an entire bookcase. My brain has become soaked with new knowledge, even though I haven’t made any effort to learn. Very convenient – but at the same time somehow eerie. It feels like someone has implanted knowledge in me that has no relation to me at all.
Nevertheless, I am of course glad to have reacted so quickly and to have used the break in the observation houses so effectively. At first, I didn’t know what was happening to me when the shackles wrapped around my arms and legs suddenly loosened and the cabin door swung open.
My first thought was: Closing time, at last! Only the bored, strolling gait of my fellow observers showed me that it was more likely the signal for a longer break.
Many now put on their metal flight suits and set off to other floors, perhaps to meet acquaintances. Possibly they also headed for something like common rooms or canteens. The latter, however, seemed rather unlikely to me after the fully automatic feeding I had experienced the previous evening.
Since I was the only shadowless one on my floor, I didn’t know what kind of behaviour was customary for people like me during break time. In any case, now that everyone else had buzzed off to other floors for excursions or received visits from colleagues working elsewhere, I clearly felt my shadowlessness as a stigma again – because as a shadowless person, I could only have got to another floor via the outside ladder.
However, at that moment I was not really interested in whether shadowless people were also visiting each other here. My attention was mainly focused on the conversations. Maybe they would finally provide me with more information about the living conditions in this world!
My hope was bitterly disappointed, though. No matter how hard I tried, I could not decipher the content of the conversations. At first I thought that the people here simply could no longer articulate properly because of their missing teeth. But unfortunately, the meaning of the words remained hidden from me even when I was able to distinguish them better from each other. It was like listening to a related language, when every now and then a familiar-sounding word appears, which, however, seems to have unknown secondary meanings and is combined with other, incomprehensible words.
Besides, the conversations didn’t seem particularly exciting. Even when they spoke to each other, the people here kept their blank stares. It didn’t look like they wanted to exchange substantial information. Rather, they seemed to be fulfilling a similar duty with the visits as they were with the observation of the pictures in the cubicles.
Today this was no different from yesterday. Everyone was talking to each other again in the same soporific chant, almost without any facial expressions or gestures. Admittedly, this impression may also be due to the fact that I don’t know the informal norms of conversation prevailing here. Nevertheless, I was getting tired just watching.
Bored by the boredom of the others, I looked again at the learning programme in the neighbouring cabin, as I had done the day before. On its front wall, the images still flickered by without stopping, as if it didn’t matter which and how many of them reached the learners‘ brains.
Cautiously I looked around: No one paid attention to me! Unlike yesterday, this time the pupil was nowhere to be seen either. It was almost like an invitation that I could not refuse. True, I had to expect the addressee of the learning programme to show up at any moment and possibly throw me out of the cubicle, maybe with the help of some supervisory service. But my curiosity was simply too great to let this opportunity pass me by. After all, I didn’t know if and when it would arise again.
My heart pounding, I scurried into the neighbouring cabin and squatted in front of the sea of images. My hands trembled as I reached for the helmet that I assumed would aid learning.
And indeed, I was not mistaken! No sooner had I put on the helmet than it imperceptibly adapted to the shape of my skull and I forgot the world around me. It seemed to work in a similar way as the brain mask in the apartment. This time, the stimulation emanating from the center of the forehead and the front of the skull was missing, but in return, the impulses introduced above the neck and at the temples were all the stronger.
With the helmet on my head, I could perceive the images much more clearly. In addition, I now heard a voice that apparently provided short explanations of what was being shown. Explanation and illustration were obviously coordinated to achieve the greatest possible learning efficiency. But since I did not understand the words, I could only insufficiently decipher the message of the pictures. Afterwards, however, I was surprised at how little I had forgotten and how many correlations I could suddenly recognise – all without any conscious effort of my mind.
Since this lesson in time-lapse speed, I have at least a vague idea of how the settlement I got into is constructed. The image that has burnt itself into my mind shows a structure in the shape of a giant cone. The skyscrapers that can be seen from the square are attached to its inner walls in a circle. The impression that the tops of the skyscrapers merge into each other is therefore only partly based on an optical illusion. Due to the adaptation to the walls of the cone, the upper floors of the skyscrapers actually have a curved shape.
At its upper end, the cone opens into a large hole that is equipped with a filter and thus only allows the harmless components of the air to enter the „cone atmosphere“. At the same time, large solar panels are mounted there that are apparently powerful enough to floodlight the square between the skyscrapers around the clock.
Anyone who wants to get inside the cone has to pass through the filter system. This could explain why Shorsh and I are not paid much attention. Apparently, the exit sluice is guarded so well that undetected entry into the cone is considered impossible.
The sequence of numbers at the bottom of the observation image (80/113) also makes sense to me now. Obviously the date is based on a new chronology. Possibly it refers to the day of the completion of the cone – which must therefore be considered a significant turning point in history. I assume that there was some decisive event at that time, the nature of which, however, I can only speculate about.
With the teaching helmet it was just like with the brain mask – I lost all sense of time under it. So when suddenly someone touched my arm and looked at me in astonishment, I must have stared back in equal astonishment: I had the impression of being torn out of the middle of an exciting dream.
Next to me stood the pupil who had obviously finished his break. Irritated, he noticed that someone else – and a shadowless one at that! – had occupied his cubicle.
How could I explain my behaviour? What excuse could be found for it? But even if I had thought of one in a hurry – how could I have made myself understood in the foreign language?
However, I didn’t get the impression that my neighbour wanted to reproach me in any way. He looked rather amused, like a child who finds his father having fun with his toys. In fact, he had to assume that the contents of the learning programme were nothing new to me – especially since the teaching helmet certainly minimises the forgetting rate.
It was the first time I noticed an expression of emotion in a person here. This was rather a frightening experience for me, though. In the toothless mouth, the smile, mocking and indulgent at the same time, seemed strangely out of place. It distorted the childlike features into a grimace reminiscent of shrunken heads.
I tried to apologise with gestures and mimics. Then I went back to my cabin. The door swung shut behind me like a silent rebuke: the break was long over!
As I sat down, the straps immediately tightened around my arms and legs again. Only now did I feel the pressure on my bladder, and I regretted not having looked around for a wet room in time. Now I had to be patient until evening – which would be morning for those currently staying in the relaxation houses.

Bilder: Gerd Altmann: Netzwerk / Web (Pixabay); Gerd Altmann: KI / Brain (Pixabay)

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