Der Lernhelm / The Teaching Helmet

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

In der Zukunft scheint das Lernen viel einfacher zu sein als in der Welt, aus der Theo kommt – ob auch er selbst davon profitieren kann?

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Samstag, 21. März 2521 (80/113)

Diese verdammte Schreibsucht – jetzt habe ich sogar schon angefangen, zwischen den Druckzeilen des Rätselheftes zu schreiben, weil der übrige Platz längst vollgekritzelt ist. Außerdem musste ich mich zum Schreiben auf den Boden setzen, da ich bei dem pseudo-intelligenten Gewackel meines Sessels laufend über die Zwischenräume zwischen den Druckzeilen hinausgeraten bin. Und anspitzen muss ich den Bleistift mit den Fingernägeln, weil es hier überhaupt keine spitzen Gegenstände gibt!
Wahrscheinlich kann ich das alles später – was auch immer das in meinem Fall bedeuten mag – gar nicht mehr entziffern! Andererseits hat es auch einen gewissen morbiden Reiz, in dieser vollautomatisierten Welt wie ein mittelalterlicher Mönch zu leben, dem das Papier ausgegangen ist.
Vielleicht ist eine solche Art des Schreibens in dieser Umgebung fast schon eine Form von Widerstand. Schließlich sind hier selbst die intimsten Körperfunktionen einem automatisierten Tagesrhythmus unterworfen.
In den Beobachtungsräumen etwa wird der Körper alle zwei Stunden automatisch durchgerüttelt. Als mir das gestern das erste Mal widerfahren ist, habe ich zuerst gedacht, es müsse sich um eine Störung handeln. Ohne Vorwarnung versetzte sich der herrische Beobachtungsstuhl, an den ich gekettet war, in heftige Schwingungen. Angeschnallt, wie ich war, war ich den Bewegungen hilflos ausgeliefert.
Einige Sekunden lang rüttelte mich das Sitzgerät scheinbar wahllos durch. Da meine beiden Nachbarn in ähnlicher Weise durchgeschüttelt wurden wie ich, nahm ich zunächst an, der Lenkmechanismus für den Beobachtungsraum habe einen Wackelkontakt. Allerdings erwies sich das Ganzkörperrütteln nur als Auftakt zu gezielten Körperübungen, denen wir kurz darauf alle mit Hilfe der uns angelegten weichen Fesseln unterzogen wurden. Etwa fünf Minuten lang wurden abwechselnd beide Arme gebeugt und gestreckt, gehoben und gesenkt. Dann wiederholte sich derselbe Vorgang noch einmal mit den Beinen.
Es braucht keine besondere Kombinationsgabe, um zu verstehen, wozu diese Unterbrechung der Beobachtungsmonotonie gut sein soll: Wer sich nur mit Hilfe von Flugdüsen fortbewegt und ansonsten regungslos auf langweilige Bilder starrt, muss offenbar künstlich aktiviert werden, um nicht einzuschlafen und seine Muskelkraft nicht vollständig einzubüßen.
Bald war ich mir sicher, dass von mir keine besonderen Leistungen erwartet wurden. Die mir und den meisten anderen zugewiesenen Beobachtungsaufgaben waren wohl eher mildtätig gemeint. Wer sich keine Gedanken über sie machte, konnte sich in der Illusion wiegen, gebraucht zu werden, irgendeiner nützlichen Tätigkeit nachzugehen. Nachdem ich dies begriffen hatte, fühlte ich mich freier und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die beiden Nachbarkabinen.
Mein besonderes Interesse galt den in die Kabine des Kindes projizierten Bildern. Dabei handelte es sich offenbar um eine Art Unterrichtsprogramm. Ich nehme an, dass es hier keine speziellen Schulräume gibt, sondern lediglich computergesteuerte Lernprogramme, die jeweils in den Kabinen der Kinder und Jugendlichen aktiviert werden.
Anfangs deutete ich die an den Augen des Kindes vorbeirauschende Bilderflut zwar als Computerspiel. Dann verfiel ich jedoch auf den Gedanken, dass der Helm auf dem Kopf des Lernenden die Funktion haben könnte, die Aufnahmekapazität des Gehirns durch eine Art von Elektrostimulation zu fördern. So konnte das Gehirn hier unter Umständen in kurzer Zeit viel mehr verarbeiten, als nach den Maßstäben „meiner“ Welt möglich erschien.
Die große Geschwindigkeit, mit der die Bilder vorbeiflackerten, hatte allerdings zur Folge, dass diese für mich kaum zu entschlüsseln waren. Selbst wenn es mir gelang, einzelne Bilder zu erkennen – was selten genug der Fall war –, blieben diese doch ohne Bedeutung für mich. Als mein Gehirn gerade im Begriff war, dem Chaos Gestalt zu verleihen, wurden sie schon wieder durch neue Bilder abgelöst. Diese Informationsquelle würde mir also, dachte ich bedauernd, verschlossen bleiben – was sich allerdings glücklicherweise als Irrtum erweisen sollte.

English Version

The Teaching Helmet

In the future, learning seems to be much easier than in the world Theo comes from – will he himself also be able to benefit from this?

Saturday, March 21, 2521 (80/113)

This damned writing addiction – now I’ve even started writing between the printed lines of the puzzle booklet! The rest of the space has long since been scribbled all over. To make matters worse, I had to sit down on the floor to write, because the pseudo-intelligent wiggling of my chair constantly caused me to miss the gaps between the printed lines. And on top of that, I have to sharpen the pencil with my fingernails, because there are no sharp objects here at all!
Probably I won’t be able to decipher all this later – whatever „later“ may mean in my case! On the other hand, it also has a certain morbid appeal to live in this fully automated world like a medieval monk who has run out of paper.
Perhaps such a way of writing is almost a form of resistance in this environment – in a place where even the most intimate bodily functions are subjected to an automated daily rhythm.
In the observation rooms, for example, the body is automatically shaken every two hours. When this happened to me for the first time yesterday, I initially thought it must be a malfunction. Without warning, the imperious observation chair to which I was chained began to vibrate violently. Strapped in as I was, I was helplessly at the mercy of the vibrations.
For a few seconds, the seat device jolted me seemingly at random. As my two neighbours were shaken in a similar way, I first assumed that the steering mechanism for the observation room had a loose contact. However, the full-body shaking proved to be only a prelude to targeted physical exercises, which we were all subjected to shortly afterwards with the help of the soft shackles put on us. For about five minutes, both arms were alternately bent and stretched, raised and lowered. Then the same process was repeated with the legs.
It doesn’t take any special power of deduction to understand what this interruption of the monotony of observation is supposed to be good for: Those who only move with the help of flight suits and otherwise stare motionlessly at boring images obviously have to be artificially activated in order not to fall asleep and completely lose their muscular strength.
The longer I stayed in my seat, the more I realised that no special achievements were expected of me. The observation tasks assigned to me and most of the others probably rather had a charitable meaning. Those who did not care about the pointlessness of their duties could lull themselves into the illusion of being needed, of being engaged in some useful activity. Having understood this, I breathed a sigh of relief and focused my attention on the two neighbouring cabins.
What interested me most were the images projected into the child’s cabin. Obviously, they belonged to some kind of teaching programme. I assume that there are no special classrooms here, but only computer-controlled learning programmes that are activated in the children’s cubicles.
At first I interpreted the flood of images rushing past the child’s eyes as a computer game. But then it occurred to me that the helmet on the learner’s head could have the function of stimulating the brain’s receptive capacity through a kind of electrical stimulation. In this way, the brain could possibly process much more here in a short time than seemed possible by the standards of „my“ world.
However, the great speed with which the images flickered by made it almost impossible for me to decipher them. Even when I managed to recognise individual images – which happened seldom enough – I could not make sense of them. Just as my brain was about to give shape to the chaos, they were already replaced by new images. Thus, I thought regretfully, this source of information would remain inaccessible to me – but fortunately this turned out to be wrong.

Bilder / Images: Gerd Altmann (Pixabay)

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