Zu Fabrizio De Andrés Lied Inverno (Winter) / On Fabrizio De André’s Song Inverno (Winter)
Musikalischer Adventskalender 2021, 9. Türchen / Musical Advent Calendar 2021, 9th Door
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Weihnachten ist die Verheißung, dass gerade in der tiefsten Finsternis neues Leben keimt. Andererseits: Auch das neue Leben wird irgendwann wieder eine Beute der Finsternis werden. Um diesen Zwiespalt kreist das heutige Lied des italienischen Cantautore Fabrizio De André.
Winter
Ein weißer Nebelschleier auf den Wiesen …
Wie eine Zypresse auf dem Friedhof,
ein Glockenturm im Traumgewand,
so trennt die Erde er vom Himmel.
Aber du, der du gehst – bleib doch!
Schon morgen wird der Nebel weichen,
totgeglaubtes Glück wird neu erblühen
im Sommeratem eines neuen Tages.
Selbst das Licht scheint abzusterben
in dem ungewissen Schatten eines Wandels.
Sogar der Morgen färbt sich abendlich,
wächsern schimmern die Gesichter.
Aber du, der du gehst – bleib doch!
Schon morgen wird zum See der Schnee,
und das Floß der Liebe wird dich tragen
in den Blütenrausch des Weißdorns.
Schweigend webt die greise Erde
ihre Sommerträume unter dem Eis.
Der Winter drückt sie nieder
mit einer tausend Jahre alten Müdigkeit.
Aber du, der du verweilst – warum bleibst du?
Schon morgen wird das Licht erbleichen,
und Schnee wird tröstend auf die Felder
und die verwaisten Friedhöfe fallen.
Fabrizio De André: Inverno; aus: Tutti morimmo a stento (1968). Musik von Gianpiero Reverberi und Fabrizio De André
Winterliche Wiederauerstehungshoffnungen
Die dunkle Seite der ewigen Wiederkehr des Lebens
Austritt aus dem Kreislauf der Wiedergeburten
Fabrizio De Andrés Konzeptalben
Das Lied Inverno als Teil eines Konzeptalbums
Politisches Engagement De Andrés
Winterliche Wiederauerstehungshoffnungen
Als tröstendes Gegengift gegen den Winter-Blues wird oft angeführt, dass der Winter in Wahrheit ja nur eine Ruhephase des Lebens sei und die scheinbare Abwesenheit des Lebendigen gerade die Voraussetzung für dessen umso kraftvollere Wiederauferstehung darstelle.
Die Hoffnungslosigkeit, die ein grauer Wintertag ausstrahlt, diese durch nichts aufgehellte Tristesse, wäre demnach nur ein Wahrnehmungsfehler, eine trügerische Fixierung auf den Augenblick, die das große Ganze, die ewige Wiederkehr des Lebens, außer Acht lässt.
Eben dies ist auch der ursprüngliche Sinn des Weihnachtsfests. In vorchristlicher Zeit diente es der Feier des Neubeginns, des Kreislaufs des Lebens, das sich immer wieder selbst erneuert. Das Licht, das in der Dunkelheit leuchtet, hatte dabei ursprünglich einen vegetativen Sinn: Es deutete auf das Samenkorn hin, das sich in der Dunkelheit der Erde auf das Keimen im Frühling vorbereitet. Die Gottheiten, mit denen dieses Mysterium verbunden wurde, hatten folglich – wie unsere „Mutter Erde“ – zunächst einen weiblichen Charakter.
Die dunkle Seite der ewigen Wiederkehr des Lebens
Nun hat allerdings der Gedanke eines ewigen Kreislaufs des Lebens auch eine Kehrseite. Man kann ihn ebenso gut aus der umgekehrten Perspektive betrachten: Auch der Winter kehrt jedes Jahr zurück, die ewige Wiederkehr des Lebens beruht auf der ewigen Wiederkehr des Todes. So gesehen, ist die Erstarrtheit des Lebendigen im Winter eben doch eine absolute – denn jeder Neuanfang mündet notwendigerweise irgendwann in Verfall und Auflösung.
Diesen Widerstreit zwischen dem tröstenden Gedanken an den nächsten Frühling bzw. allgemein an glücklichere Zeiten und der Gewissheit, dass auch diese sich irgendwann wieder eintrüben werden, thematisiert Fabrizio De André in seinem Winterlied (Inverno). Beide Möglichkeiten der Betrachtung des Winters – die auf dessen absolute Geltung bezogene und diejenige, die ihn als Voraussetzung für die Wiedergeburt des Lebendigen ansieht – werden einander dabei in den einzelnen Strophen alternierend gegenübergestellt.
Austritt aus dem Kreislauf der Wiedergeburten
Die letzte Strophe führt beide Aspekte in einem gemeinsamen Gedanken zusammen. Sie dreht die hoffnungsvolle Perspektive der auf den Sommer verweisenden Strophen zunächst um, indem sie auf den trügerischen Charakter des Glücksrauschs im Sommer verweist. Auf der anderen Seite wird hier jedoch auch der tröstende Charakter der Ruhezeit im Winter betont.
Buddhistisch gesprochen, vermittelt diese Ruhezeit eine Ahnung von der Herauslösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten und damit von einem absoluten, nicht mehr von diesem Kreislauf abhängigen inneren Frieden. Trost wird dann nicht mehr aus der Vergänglichkeit des Winters gezogen, sondern aus der Überwindung der Dynamik, die zu seiner Wiederkehr führt.
Fabrizio De Andrés Konzeptalben
Fabrizio De André (1940 – 1999) studierte an der Universität Genua einige Semester Literatur, Medizin und Jura, ehe er sich ganz dem Schreiben von Liedern widmete. Seine Texte wiesen von Anfang an eine hohe literarische Qualität auf und stehen, wie auch bei anderen Cantautori, gleichberechtigt neben der Musik.
Bei seinen Alben zeigt De André eine Vorliebe für Projekte, die sich an bestimmten Themen ausrichten. Dies drückte sich in der Veröffentlichung mehrerer Konzeptalben aus. So greift das 1970 erschienene Album La Buona Novella (Frohe Botschaft) nicht kanonisierte Schriften aus der Frühzeit des Christentums auf (so genannte „Apokryphen“). In Non al denaro non all’amore né al cielo (Weder für Geld, noch für die Liebe oder den Himmel; 1971) adaptiert De André Gedichte aus der Spoon River Anthology des US-amerikanischen Schriftstellers Edward Lee Maters.
Das Lied Inverno als Teil eines Konzeptalbums
Um ein Konzeptalbum handelt es sich auch bei Tutti morimmo a stento (Wir hatten alle einen schweren Tod), aus dem das Lied Inverno stammt. Es kreist um Motive aus Werken des spätmittelalterlichen Dichters François Villon (1431 – 1463).
So könnte Inverno etwa an Villons berühmte Ballade des dames du temps jadis (Ballade von den Frauen aus vergangener Zeit) anknüpfen, deren Strophen alle mit der Frage enden: „Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?“
Der Bezug zu diesem Gedicht liegt auch deshalb nahe, weil es von Georges Brassens vertont worden ist, einem Chansonnier, von dem De André einige Lieder ins Italienische übertragen hat. Diese finden sich auf dem Album Canzoni (1974), das außerdem italienische Versionen von Werken Leonard Cohens und Bob Dylans enthält.
Politisches Engagement De Andrés
De André war darüber hinaus auch für sein politisches Engagement bekannt. So thematisierte er etwa in einem weiteren Konzeptalbum, Storia di un impiegato (Geschichte eines Angestellten, 1973) die Studentenbewegung sowie den gewalttätigen Weg, den Teile von ihr einschlugen – mit dem Terror der Roten Brigaden als extremster Ausprägung.
Bemerkenswert ist auch die Art, wie er mit der viermonatigen Entführung umgegangen ist, die er 1979 mit seiner Freundin und späteren Ehefrau Dori Ghezzi auf Sardinien durchleben musste. De André verarbeitete die Erfahrung ebenfalls in einem Konzeptalbum (L’indiano, 1981), in dem er sich mit dem Selbstbestimmungsrecht des sardischen Volkes auseinandersetzte.
Am entschiedensten war allerdings De Andrés Engagement gegen den Krieg. Seine pazifistischen Lieder – La guerra di Piero (Pieros Krieg), Girotondo (Karussell) oder La ballata dell’eroe (Die Ballade vom Helden) – wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sind heute ein lebendiger Bestandteil der Antikriegsbewegung.
Tipp: Die Antikriegslieder von Fabrizio De André sind zusammengestellt auf ildialogo.org: Le canzoni di Fabrizio De André contro la guerra.
Mehr Winterlieder: Der Winter: Untergang oder Utopie? Eine Wintermeditation mit Liedern aus Russland, Italien, Frankreich, Deutschland, Kalifornien, Schweden und Island.
English Version
The Eternal Return of Light – and of Darkness
On Fabrizio De André’s Song Inverno (Winter)
Christmas represents the promise that it is precisely in the deepest darkness that new life germinates. On the other hand, even the new life will become a prey to darkness in the end. It is around this ambivalence that today’s song by the Italian cantautore Fabrizio De André revolves.
Winter
A white veil of mist on the meadows …
Like a cypress in a cemetery,
a bell tower in a dream robe,
it separates the earth from the sky.
But you who are leaving – stay!
Tomorrow the fog will dissolve,
faded happiness will blossom anew
in the summer breath of a new day.
Even the light seems to perish
in the uncertain shadow of a change.
Even the morning turns dusky,
the faces take on a waxy shade.
But you who are leaving – stay!
Tomorrow the snow will become a lake,
and the raft of love will carry you
into the blossom rush of the hawthorn.
Silently the immemorial earth
weaves her summer dreams under the ice.
The winter presses it down
with a thousand-year-old weariness.
But you who linger – why do you stay?
Tomorrow the light will fade
and snow will fall comfortingly
on the fields and the deserted cemeteries.
Fabrizio De André: Inverno; from: Tutti morimmo a stento (1968). Music by Gianpiero Reverberi and Fabrizio De André
CONTENT
The Dark Side of the Eternal Return of Life
Detachment from the Cycle of Rebirths
Fabrizio De André’s Concept Albums
The Song Inverno as Part of a Concept Album
Political Commitment of De André
Resurrection Hopes in Winter
As a comforting antidote to the winter blues, it is often said that winter is actually only a resting period of life and that the apparent absence of life is the prerequisite for its all the more powerful resurrection in spring.
The hopelessness that a grey winter’s day radiates, this dreariness that nothing brightens up, would thus be only an error of perception, a deceptive fixation on the present moment that ignores the big picture, the eternal return of life.
This is precisely the original meaning of Christmas. In pre-Christian times, the festivities around the winter solstice served to celebrate the new beginning, the cycle of life, which renews itself again and again. The light that shines in the darkness therefore initially had a vegetative meaning: it pointed to the seed that prepares itself in the darkness of the earth for germination in spring. The deities with whom this mystery was associated consequently had – like our „Mother Earth“ – at first a feminine character.
The Dark Side of the Eternal Return of Life
However, the idea of an eternal cycle of life also has a downside. It can just as well be viewed from the opposite perspective: Winter also returns every year, the eternal return of life is based on the eternal return of death. Seen in this way, the torpor of life in winter is an absolute one after all – because every new beginning necessarily leads to decay and dissolution at some point.
In his Winter Song (Inverno), Fabrizio De André addresses this conflict between the comforting thought of the next spring, or of happier times in general, and the certainty that these, too, will someday fade away. Both ways of looking at winter – the one that refers to its absolute validity and the one that sees it as a prerequisite for the rebirth of life – are alternately juxtaposed in the individual stanzas.
Detachment from the Cycle of Rebirths
The last stanza brings both aspects together in a single idea. First, it turns the hopeful perspective of the stanzas referring to summer around by pointing to the deceptive character of the rush of happiness in summer. At the same time, however, it emphasizes the comforting character of the resting period in winter.
Buddhistically speaking, this resting period conveys a sense of detachment from the cycle of rebirths and thus of an absolute inner peace that is independent of this cycle. Comfort is then no longer drawn from the transience of winter, but from overcoming the dynamics that lead to its return.
Fabrizio De André’s Concept Albums
Fabrizio De André (1940 – 1999) studied literature, medicine and law for a few semesters at the University of Genoa before devoting himself entirely to writing songs. From the beginning, his texts had a high literary quality. As with other cantautori, they stand on equal footing with the music.
In his albums, De André shows a preference for projects that are inspired by certain topics. This manifested itself in the release of several concept albums. For example, the album La Buona Novella (Glad Tidings), released in 1970, takes up non-canonized writings from the early days of Christianity (the so-called „Apocrypha“). In Non al denaro non all’amore né al cielo (Neither for money, nor for love, nor for heaven; 1971) De André adapts poems from the Spoon River Anthology by U.S. writer Edward Lee Maters.
The Song Inverno as Part of a Concept Album
Tutti morimmo a stento (We all had a hard death), which includes the song Inverno, is also a concept album. It revolves around motifs from works by the late medieval poet François Villon (1431 – 1463).
Thus, Inverno could be linked to Villon’s famous Ballade des dames du temps jadis (Ballad of the Ladies of Ancient Times), whose stanzas all end with the question: „Where has last year’s snow gone?“
The reference to this poem also appears logical because it was set to music by Georges Brassens, a chansonnier from whom De André translated some songs into Italian. These can be found on the album Canzoni (1974), which also contains Italian versions of works by Leonard Cohen and Bob Dylan.
Political Commitment of De André
De André was also known for his political commitment. For example, in another concept album, Storia di un impiegato (Story of an Employee, 1973), he addressed the student movement as well as the violent path that parts of it took – with the terror of the Brigate Rosse (Red Brigades) as its most extreme manifestation.
Another remarkable point is the way De André dealt with the four-month kidnapping he underwent in Sardinia with his girlfriend and later wife Dori Ghezzi in 1979. De André likewise processed the experience in a concept album (L’Indiano, 1981), in which he reflected the Sardinian people’s right to self-determination.
De André’s most resolute commitment, however, was directed against war. His pacifist songs – La guerra di Piero (Piero’s War), Girotondo (Carousel) or La ballata dell’eroe (The Ballad of the Hero) – have been translated into numerous languages and are today a vital part of the anti-war movement.
Tip: The anti-war songs of Fabrizio De André are compiled on ildialogo.org: Le canzoni di Fabrizio De André contro la guerra.
More winter songs: Musical Winter Journey. The Winter: Doom or Utopia? A Winter Meditation with Songs from Russia, Italy, France, Germany, California, Sweden and Iceland.
Bild /Image: Caspar David Friedrich (1774 – 1840): Winterlandschaft mit Kirche (1811); Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Wikimedia commons); Caspar David Friedrich (1774 – 1840): Winter landscape with church (1811); Dortmund, Museum for Art and Cultural History (Wikimedia commons)
Eva
Vielen Dank für den feinen Musiktipp und den interessanten Beitrag dazu. Ein wirklich wunderschönes Lied.
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