Alltag im Kloster: 1. Gotteslob als Selbstgeißelung / Everyday Life in the Monastery: 1. The Praise of God as Self-Flagellation

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Obwohl er sich nun in einer ganz anderen Zeit befindet, fühlt Theo sich doch von manchen Aspekten des Klosterlebens an seinen Aufenthalt in der Kegelstadt erinnert.

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Dienstag, 22. März 1485

Seit ich den Alltag mit den Mönchen hier teile, fühle ich mich ständig übermüdet. Das liegt natürlich vor allem an dem frühen Aufstehen. Was sie in diesem Kloster „Matutin“ nennen, ist in Wahrheit eine Nachtandacht, keine Morgenandacht.
Die Folge: Alle schlurfen mit geröteten, von dunklen Ringen umschatteten Augen in die Kirche und lassen die Andacht mehr über sich ergehen, als dass sie sie zelebrieren. Bei Vaterunser und Glaubensbekenntnis gelingt es den meisten ja noch, sich an dem mutlosen Murmelchor zu beteiligen. Spätestens wenn Lobgesänge und Psalmen an der Reihe sind, verlässt jedoch den Großteil die Kraft. Das hört sich, aus dem Kirchenlatein übersetzt, dann so an:
„Antworte mir auf mein Rufen, barmherziger Gott!“ – Lautes Gähnen.
„In der Bedrängnis hast du mir Luft verschafft. Sei mir gnädig und erhöre mein Gebet!“ – Kehliges Knacken, erste Schnarchgeräusche.
„Wie habt ihr das Nichtige so lieb und die Lüge so gern! Wie lange noch soll mein Ansehen geschändet werden?“ – Köpfe sinken auf Nachbarschultern, vereinzeltes Räuspern.
„Selbstlos sollt ihr mir dienen, tapfer und ohne Sünde! Erwägt dies in eurem Herzen in stiller Einkehr! Denn wer mir treu ist, den werde ich erhören in seiner Not.“ – Vereinigung der Schnarcher zu einem Schnarch-Chor.
„Frieden füllt mein Herz, wenn ich mich auf mein Lager begebe. In deiner Hand ruhend, kann ich sorglos die Augen schließen.“ – Gleichmäßig weht der Atem der Schlafenden durch das Kirchenschiff.
So wird aus dem Lobpreis Gottes eine beständige Selbstgeißelung. Anstatt Gott in seiner Gnade zu erleben, als Anker im aufgewühlten Meer des Lebens, erscheint er als ewig rachsüchtiger Vater, der kleinliche Regeln aufstellt und die geringste Verfehlung unnachgiebig bestraft.
Mehr noch: Da die Regeln jedes menschliche Maß übersteigen, ist der Alltag von vornherein als eine einzige große Strafe gestaltet, als prophylaktische Kasteiung derjenigen, die den Ansprüchen des Höchsten nicht genügen können. Der Glaube verliert so jede erlösende Kraft und wird nur noch als beständiges Leid erlebt.
Dem entsprechen auch die Mahlzeiten. Auch sie kommen einer beständigen Bestrafung sehr nahe: Morgens gibt es irgendeinen undefinierbaren Brei, abends ein Gebräu aus heißem Wasser und Grüneinlage, das entfernt an eine Suppe erinnert.
Dass dazu aus der Bibel vorgelesen wird, erscheint mir geradezu als ein Akt der Häresie. Entweder wird dadurch das karge Mahl mit dem Wort Gottes assoziiert, oder man degradiert dieses zu einem Mittel der Ablenkung von der faden Nahrungspampe. Wäre dagegen das Essen besser, so würden die heiligen Worte wohl als bloßes Hintergrundgeräusch wahrgenommen werden, wie das Klaviergeklimper in den feinen Restaurants meiner ehemaligen Gegenwart.
Damit wird das Außergewöhnliche zum schmückenden Beiwerk degradiert, zu Kulisse und Alltagsschmuck, wie in meiner Ex-Gegenwart die Reproduktion eines Gemäldes auf einer Kaffeetasse. Was einen einst im Innersten berührt hat, wird so zu einem x-beliebigen Element der alltäglichen Umgebung, dem ebenso wenig Beachtung geschenkt wird wie dem Tisch, an dem man seine Mahlzeiten einnimmt.

Sei still, mein Magen – nicht knurren! Ich verstehe ja, dass niemand von den Speisen hier satt werden kann – aber ich kann dir leider auch nicht helfen!
Mag sein, dass der ständige Büßer-Fraß auch mit der Fastenzeit zusammenhängt. Dennoch provoziert die erzwungene Diät geradezu das, was der Verzicht auf Gaumengenüsse eigentlich verhindern soll: die heimliche Schlemmerei.
Alle meine Mitbrüder verdrücken in unbeobachteten Momenten noch so manches andere. Auch ich selbst habe ja schon sehr von Albertus‘ stiller Fressreserve profitiert. Und ehrt man den Schöpfer durch die Freude am Essen nicht auch weit eher als durch den Verzicht darauf? Ist es nicht eine Beleidigung Göttes, wenn man den Genuss verschmäht, den einem das von ihm Geschaffene ermöglicht?
Fast erinnert mich das an die Kegelstadt. Auch dort war das Essen ja schlicht ein Akt der Nahrungsaufnahme und Energiezufuhr und hatte mit Lust und Freude nicht das Geringste zu tun. Allerdings haben die Mahlzeiten mich dort wenigstens satt gemacht.
Trotzdem – manches ist hier gar nicht so viel anders als im Jahr 2521. So bleibt etwa auch den Mönchen dieses Klosters der private Besitz von Kleidern verwehrt. Stattdessen werden ihnen – sofern es sich nicht gerade um Bruder Albertus handelt – die Gewänder nach dem Zufallsprinzip durch den Vestiar zugeteilt. Der einzige Unterschied zur Kegelstadt ist, dass die Kleider hier mehr nach der menschlichen Natur als nach chemischen Reinigungsmitteln riechen.
So ganz unerheblich ist dieser Unterschied freilich auch wieder nicht. Er hängt eng zusammen mit dem fehlenden Klopapier, nach dem ich trotz allem jedes Mal mechanisch suche, wenn ich mich zum Abort begeben muss – und natürlich mit dem nicht vorhandenen fließenden Wasser, das die Körperpflege zu einer Luxusbeschäftigung werden lässt.
Entsprechend streng sind die Gerüche, die einen beim Kontakt mit den lieben Mitmenschen umwehen. Es wirkt irgendwie schamlos auf mich, wie die Menschen hier ihren Raubtiergeruch verströmen. Aber vielleicht wären einem Menschen aus der Vergangenheit bei einer Reise in meine ehemalige Gegenwart die Wolken von Deodorant, mit denen die Menschen dort ihre Natur verschleiern, ähnlich unangenehm wie mir die hiesige Naturnähe des Geruchs.
Die Tonsur scheint mir vor diesem Hintergrund in erster Linie die Funktion zu haben, die Mönche vor Läusen und ähnlichem Ungeziefer zu schützen. Auch ich musste mich ihr gleich am ersten Tag unterziehen. Dabei kam mir zugute, dass ich wegen des Haarausfalls, den ich in der Kegelstadt erlitten hatte, ohnehin schon eine halbe Tonsur aufwies. Dies fügte sich auch hervorragend in meine Geschichte von der Flucht vor den Türken ein: Ich konnte einfach behaupten, die Haare seien mir während meiner langen Wanderschaft wieder ein wenig nachgewachsen.
Letztlich unterscheidet sich sogar der Tagesablauf im Kloster nur graduell von dem in der Kegelstadt. Ob ich nun vor einem langweiligen Beobachtungsbild eindöse oder mich von dem immer gleichen Singsang meiner Mitbrüder einschläfern lasse, läuft doch letzten Endes auf dasselbe hinaus. Beides hält mich auf ähnliche Weise von mir selbst ab, weil es mein Denken in den immer gleichen Alltagsritualen ertränkt.
Natürlich gibt die strenge Regulierung des Tagesablaufs dem Einzelnen auch inneren Halt. Aber wäre der Verzicht auf all die Hilfskonstruktionen, die einem im Alltag diesen Halt vermitteln, nicht gerade ein Beleg für das Vertrauen auf Gott?

Die Gebete und Fürbitten der Mönche sind formuliert in Anlehnung an einen Psalm König Davids (Psalm 4).

English Version

Everyday Life in the Monastery: 1. The Praise of God as Self-Flagellation

Although he is now living in a completely different time, some aspects of monastic life remind Theo of his stay in the Cone Town.

Tuesday, March 22, 1485

Since I share the daily routine with the monks here, I feel constantly overtired. Of course, this is mainly due to the compulsion to get up early. What they call „Matins“ in this monastery is actually not a Morning Service, but a Night Service.
The result: the monks shuffle into the church with reddened eyes, shaded by dark rings, and endure the devotion rather than celebrating it. During the Lord’s Prayer and the Creed, most of them still manage to join in the uninspired chorus of murmurs. But when it comes to the hymns and psalms, at the latest, most of them run out of strength. Translated from Church Latin, the prayers and intercessions then sound like this:
„Respond to my call, merciful God!“ – Loud yawning.
„In affliction you have bestowed life-saving breath upon me. Have mercy on me and answer my prayer!“ – Throaty cracking, first snores.
„Verily, you are fond of vanity and lies! How long shall my reputation be dishonoured?“ – Heads sink onto neighbouring shoulders, sporadic clearing of throats.
„Unselfishly you shall serve me, bravely and without sin! Ponder this in your hearts in silent contemplation! For those who are faithful to me I will hear in their distress.“ – The snorers join together in a snoring chorus.
„Peace fills my heart as I lie down to sleep. Resting in your hand, I can close my eyes without worry.“ – Evenly, the breath of the sleepers wafts through the nave.
Thus the praise of God becomes a constant self-flagellation. Instead of experiencing God in his grace, as an anchor in the troubled sea of life, he appears as an eternally vengeful father who sets petty rules and relentlessly punishes the slightest transgression.
What’s more, since the rules exceed any human measure, everyday life is designed from the outset as one big punishment, as prophylactic mortification of those who cannot meet the demands of the Most High. Faith thus loses all redeeming power and is experienced only as constant suffering.
This also applies to the meals. They, too, come very close to a constant punishment. In the morning we have some kind of indefinable mush, in the evening a mixture of hot water and greens that is remotely reminiscent of soup.
The fact that this is accompanied by recitations from the Bible seems to me like an act of heresy. This either associates the meagre meal with the word of God or degrades it to a means of distraction from the bland slop. If, on the other hand, the food were better, the holy words would probably be perceived as mere background noise, like the piano tinkling in the fancy restaurants of my former present.
In this way, the extraordinary is reduced to a decorative accessory, to an everyday ornament, like the reproduction of a painting on a coffee cup in my ex-present. What once touched people in their innermost being thus becomes an arbitrary element of the everyday environment, to which as little attention is paid as to the table at which we have our meals.

Be quiet, my stomach – don’t growl! I understand that no one can get full from the dishes here – but I just can’t help you!
It may be that the constant degradation of eating to an exercise in penance is also connected with Lent. Nevertheless, the enforced diet provokes precisely what the renunciation of culinary pleasures is supposed to prevent: secret gluttony.
In unobserved moments, all my confreres consume a good many other things. I myself have also benefited greatly from Albertus‘ secret reserve of edibles. And doesn’t the conscious enjoyment of food also testify to a far greater appreciation of the Creator than the renunciation of it? Is it not an insult to God to spurn the pleasure afforded by what he has created?
This almost reminds me of the Cone Town. There, too, eating was simply an act of food intake and energy supply and had nothing whatsoever to do with pleasure and joy. However, the meals there at least satisfied me.
Nevertheless, some things here are not all that different from everyday life in the year 2521. For example, the monks of this monastery are also denied private ownership of clothes. Instead – unless you are Brother Albertus – the vestments are assigned to them at random by the monk in charge of the vestiary. The only difference with the Cone Town is that the clothes here smell more of human nature than of chemical cleaning agents.
Of course, this difference is not entirely insignificant. It is closely related to the lack of toilet paper, which I mechanically search for every time I have to go to the privy – and also to the lack of running water, which makes personal hygiene a luxury.
The odours to be smelled when meeting fellow human beings are correspondingly strong. It seems somehow shameless to me how the people here exude their predatory smell. But perhaps a person from the past, travelling to my former present, would find the clouds of deodorant with which the people there disguise their nature as unpleasant as I find the smell close to nature here.
Against this background, the tonsure seems to have the primary function of protecting the monks from lice and similar vermin. I also had to undergo it on the very first day. In this, I benefited from the fact that I already had half a tonsure anyway because of my hair loss in the Cone Town. This also fitted in perfectly with my story of escaping from the Turks: I could simply claim that my hair had grown back a little during my long time on the road.
Ultimately, even the daily routine in the monastery differs only gradually from that in the Cone Town. Whether I doze off in front of a boring observation picture or let myself be lulled to sleep by the ever-same chanting of my confreres, I end up in a similar daze. In both cases, I am kept away from myself in a similar way, because my thinking is drowned in everyday rituals.
Of course, the strict regulation of the daily routine also gives the individual inner support. But wouldn’t the renunciation of all these auxiliary constructions that provide this support in everyday life precisely be evidence of trust in God?

The prayers and intercessions of the monks are formulated in reference to a Psalm of King David (Psalm 4); different versions available on biblehub.com.

Bilder / Images: Miniatur aus einem Maastrichter Stundenbuch, Anfang 14. Jahrhundert (Wikimedia commons; Ausschnitt) / Miniature from a Maastricht Book of Hours, early 14th century (Wikimedia Commons; detail); Kellermeister einer Abtei beim Verkosten und Abfüllen von Wein; Miniatur aus dem Gesundheitsbuch des italienischen Arztes Aldobrandino da Siena, spätes 13. Jahrhundert (Wikimedia commons) / An abbey cellarer tasting wine whilst filling a jug. Miniature from the health book of the Italian physician Aldobrandino da Siena, late 13th century (Wikimedia commons)

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