Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Das Rätselheft, das er bei seinem Ausflug in die Zukunft für seine Aufzeichnungen benutzt hatte, hat Theo mittlerweile vollgeschrieben. Also muss er ein mittelalterliches Buch für seine Notizen zweckentfremden.
Text hören
Montag, 21. März 1485
Mittelalterliche Klöster hatte ich mir immer als Stätten der Bildung und als Hort der Schreibkunst vorgestellt – und jetzt muss ich hier die Buchstaben schon wieder mühsam zwischen irgendwelche Druckzeilen quetschen!
Zwar war meine Vorstellung insofern nicht ganz falsch, als das Kloster in der Tat über eine eigene Schreibstube und eine Bibliothek mit fast 200 von Hand vervielfältigten Kodizes verfügt. Auch einige wenige gedruckte Bücher sind vorhanden – darunter gleich drei verschiedene Ausgaben der Bibel. Allerdings ist die nächste Papiermühle eine Tagesreise von hier entfernt, und das teure Pergament wird nur zu besonderen Anlässen ausgegeben.
So konnte Bruder Albertus mir nur einen einzigen Bogen Papier zur Verfügung stellen. Diesen habe ich weniger beschrieben als mit meinen hilflosen Versuchen, mit der Feder zu schreiben, zugekleckst. Das Papier ist nämlich aus Lumpen gefertigt und hat eine sehr raue Oberfläche. Da ich anfangs mit der Feder zu viel Tinte aufgenommen hatte, hat diese sich in hundert Rinnsalen in die breiten Papierfasern ergossen, ehe ich noch den ersten Buchstaben geschrieben hatte.
Mein Rätselheft habe ich leider schon bei meinem Ausflug in die Zukunft ganz vollgekritzelt. Deshalb habe ich in meiner Schreib-Not auf ein Boccaccio-Büchlein zurückgegriffen, das ich in meiner Kammer unter dem Bett gefunden habe: „ein teutsch Epistel / von der loblichen liebe / treuwe und gehorsamkeit / der frouwen Grisel / czuo irem herren Waltherum mit Figuren schoen ingedruecket“. Dieses Buch dient mir nun als Notizheft.
Natürlich hatte ich bei diesem Missbrauch zuerst ein schlechtes Gewissen. Aus der Perspektive meiner früheren Zeit erscheint mir das Büchlein – als eines der ersten Erzeugnisse deutscher Buchdruckerkunst – äußerst kostbar. Dann habe ich mich jedoch mit dem Gedanken beruhigt, dass ich meine Notizen nach der Rückkehr in meine ehemalige Gegenwart ja wieder ausradieren könne. Glücklicherweise habe ich meinen Bleistift noch immer dabei. Ohne ihn wäre es völlig ausgeschlossen, etwas zwischen die eng stehenden Zeilen zu pressen.
Leider ist das Büchlein recht dünn und wird daher bald vollgeschrieben sein. Auch mein Bleistift wird täglich kleiner – und einen neuen kann ich mir hier natürlich nicht beschaffen. Hinzu kommt, dass mir ständig die Augen wehtun, weil ich so klein schreiben muss, dass ich meine eigene Schrift kaum erkennen kann. Das rußig flackernde Talglicht, bei dem die Zeilen ineinander zu verschwimmen scheinen, erleichtert mir die Sache auch nicht gerade.
Dabei hätte ich eigentlich gar keinen Grund, mich zu beklagen. Schließlich werde ich ja nicht zum Schreiben gezwungen – und außerdem habe ich bei meiner Ankunft hier so viel Glück gehabt, dass der Mangel an Schreibkomfort dagegen kaum ins Gewicht fällt.

English Version
The Boccaccio Palimpsest
The puzzle book he had used for his notes on his trip to the future has now been written all over by Theo. So he has to use a medieval book as a diary.
Monday, March 21, 1485
I had always imagined medieval monasteries as places of erudition and a haven for the art of writing – and now I have to squeeze the words between some printed lines here, too!
Admittedly, I was not entirely wrong in my expectations. The monastery does indeed have its own scriptorium and a library with almost 200 codices copied by hand. Even a few printed books are stored there – including three different editions of the Bible. However, the nearest paper mill is a day’s journey from here, and the expensive parchment is only handed out on special occasions.
So Brother Albertus could only provide me with a single sheet of paper. But that didn’t help me much either. Instead of making notes on it, I blotted it with my helpless attempts to write with a quill. The problem is that the paper is made of rags and has a very rough surface. Since I had taken up too much ink with the quill at the beginning, it poured out in a hundred rivulets into the wide paper fibres before I had even written a single word.
Unfortunately, I have already scribbled all over my puzzle book during my excursion into the future. Therefore, in my writing distress, I have resorted to a Boccaccio booklet that I found in my room under the bed: „an edifying tale / of the praiseworthy love / loyalty and obedience / of a lady to her lord, / beautifully printed with illustrations“. This book now serves me as a notebook.
Of course, I had a guilty conscience at first about this misuse. From the perspective of my former time, the booklet – as one of the first testimonies to the art of printing – appears extremely precious to me. But then I reassured myself with the thought that I could erase my notes after returning to my former present. Fortunately, I still have my pencil with me. Without it, it would be completely impossible to squeeze anything between the closely spaced lines.
Unfortunately, the booklet is quite thin and will therefore soon be full. My pencil is also getting smaller every day – and of course I can’t get a new one here. On top of that, my eyes hurt all the time, because I have to write in such small letters that I can hardly make out my own scribbling. The sooty flickering tallow light, in which the lines seem to blur into one another, doesn’t exactly make things easier for me.
But actually I have no reason to complain. After all, I am not forced to write – and besides, I had so much luck when I arrived here that compared to that, the lack of writing comfort hardly matters.
Bilder / Images: Seiten von Buchausgaben aus dem 15. Jahrhundert von Giovanni Boccaccios Novellensammlung Decamerone, entstanden 1349 – 1353 (Wikimedia commons)/ Pages of 15th century book editions of Giovanni Boccacio’s collection of novellas Decamerone, written between 1349 and 1353 (Wikimedia Commons)
Jakob Münter
Hoffentlich lassen sich die Notizen ausradieren. Schade ansonsten um das alte Buch ;-). Wirklich schräge dieser Roman. Wann kommt das Buch raus?
LikeGefällt 1 Person
nokbew
Schöner Artikel 👍😃
LikeLike