Krankheitsbekämpfung / Disease Control

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Als Theos Beobachtungsbild einen Notfall anzeigt, drückt er spontan den Erste-Hilfe-Knopf. Das Ergebnis entspricht allerdings ganz und gar nicht dem, was er erwartet hatte.

English Version

Text hören

Montag, 23. März 2521 (82/113)

Etwas Ungeheuerliches ist geschehen – und ich bin schuld daran! Offenbar ist es doch fahrlässig, sich ohne Vorkenntnisse durch eine fremde Zeit zu bewegen. So etwas beschwört das Unglück ja geradezu herauf!

Heute zeigte mein Beobachtungsbild wieder ein Segment des Platzes zwischen Ruhe- und Beobachtungshäusern. So richtete ich mich darauf ein, erneut einen ereignislosen, gähnend langweiligen Tag zu verbringen. Da fiel mein Blick plötzlich auf eine Gestalt, die mit vornübergebeugtem Oberkörper vorwärts schwankte.
Die Mühe, die ihr die bloße Fortbewegung bereitete, war der Person deutlich anzumerken. Mit ihren vor den Bauch gepressten Armen schien sie unter starken Schmerzen zu leiden. Sie stolperte noch ein paar Schritte weiter, dann fiel sie zu Boden und blieb dort mit schmerzverzerrtem, zur Seite geneigtem Gesicht liegen.
Erst jetzt erkannte ich, um wen es sich bei der Gestalt handelte: Es war der Schüler, der die letzten beiden Tage mein Kabinennachbar gewesen war! In seiner Dreidimensionalität wirkte das Beobachtungsbild so real, dass ich im ersten Augenblick nach vorne springen und dem Gestürzten zu Hilfe eilen wollte. Aber meine unbeholfenen Zuckungen führten natürlich zu nichts. Die Schlaufen um meine Knöchel und Unterarme erinnerten mich unmissverständlich an die Realität, in der ich gefangen war.
Im gleichen Augenblick leuchtete in der rechten unteren Ecke meines Beobachtungsbildes ein Alarmsignal auf. Offensichtlich stand es in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geschehen. Auf einmal gaben die Fesseln meine Arme frei. Froh, irgendetwas tun zu können, berührte ich ohne zu zögern die Stelle mit dem Alarmsignal. Instinktiv ging ich davon aus, dass ich dadurch so etwas wie die Erste Hilfe aktivieren könnte.
Es dauerte nur wenige Sekunden, da landeten auch schon zwei Flugsanitäter neben dem Schüler, der sich noch immer vor Schmerzen krümmte. Sie trugen beide eine Art Schutzkleidung, die sich deutlich von den sonstigen grau-metallischen Fluganzügen unterschied. Sie war dicker und heller als diese und zudem fest mit einem den ganzen Kopf umschließenden Helm verbunden, in den vorne ein Atmungsfilter eingefügt war.
Geschäftig beugten sich die vermummten Gestalten über meinen ehemaligen Kabinennachbarn. Einer hielt ihn fest, während der andere etwas aus seiner Anzugtasche nestelte, das aussah wie eine Spritze. Nachdem er den Ärmel des Gummianzugs hochgeschoben und den Arm des Schülers in den Streckgriff genommen hatte, drückte er das spritzenähnliche Gerät in die Vene des Kranken.
Der Junge zappelte die ganze Zeit über heftig. Ob dies von seinen Krämpfen herrührte oder ob er sich gegen die Behandlung wehrte, konnte ich nicht erkennen. Allerdings ließ seine Gegenwehr unter der Wirkung der Spritze rasch nach.
Kurz darauf ließen die beiden Flugmenschen von dem Schüler ab. Sie warteten einen Moment, bis er sich nicht mehr rührte. Dann holte einer von ihnen aus einer Tasche, die seitlich an dem Schutzanzug angebracht war, einen der Länge nach mit einem Reißverschluss versehenen Kunststoffsack heraus. Darin verstauten die beiden den Jungen und flogen dann mit ihm fort aus dem Segment des Platzes, das ich auf dem Beobachtungsbild einsehen konnte.
Minutenlang saß ich wie versteinert da. Totgespritzt, dachte es in mir, sie haben ihn totgespritzt! Gleichzeitig wehrte sich alles in mir gegen diese Deutung. Denn ich selbst war es ja, der durch die Berührung des Alarmsignals das todbringende Erste-Hilfe-Kommando herbeigerufen hatte.
War es nicht möglich, dass der Schüler nur betäubt worden war? Bestand der Kunststoffsack, in den die Flugsanitäter ihn gesteckt hatten, vielleicht aus einem atmungsaktiven Material, das Sauerstoff in den Sack hineinließ? War das Ganze womöglich nur die hiesige Form der Quarantäne? Immerhin stand zu befürchten, dass der Junge von Krankheitserregern befallen war. Und dass deren Ausbreitung in dieser engen Welt unter allen Umständen verhindert werden musste, war doch nur allzu verständlich!
Ich erwog auch, ob es sich vielleicht nur um einen vorgetäuschten Notfall gehandelt haben könnte. Sollte damit am Ende nur die Reaktionsgeschwindigkeit desjenigen, dem das betreffende Platzsegment zur Beobachtung zugeteilt worden war, getestet werden? War das Beobachtungsbild dazu gedacht, mir eine Falle zu stellen? Hatte jemand Verdacht geschöpft und wollte nun prüfen, wie ich auf das Gezeigte reagieren würde?
Vorsichtig sah ich zu meinem linken, dann zu meinem rechten Nachbarn herüber. Aber beide ließen sich, sofern sie irgendjemand auf mich angesetzt haben sollte, zumindest äußerlich nichts anmerken. Sie blickten weiter starr auf das Beobachtungsbild an der Frontseite ihrer Kabine.
Dann wieder versuchte ich mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass die Sanitätersoldaten sich wohl auch dann über den Schüler hergemacht hätten, wenn ich das Alarmsignal nicht betätigt hätte. Schließlich bedeutete ja das Aufleuchten des Signals, dass irgendwo irgendjemand (oder irgendetwas) ohne mein Zutun auf das Geschehen reagiert hatte.
Aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte: An der Tatsache, dass ich durch die Berührung des Alarmsignals zumindest mitverantwortlich war für das Schicksal des Schülers, kam ich nicht vorbei.
Auch jetzt noch fühle ich mich wie nach einem furchtbaren Verbrechen, in das ich durch Unachtsamkeit verwickelt worden bin. Schorsch meint zwar, mein „Mea-culpa-Gejammere“ bringe uns auch nicht weiter. Aber seine Art, die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen, erscheint mir ebenfalls nicht gerade als geeignete Herangehensweise an das Problem.
Mein Haarausfall nimmt auch immer mehr zu. Was für ein elendes Leben! Vielleicht sollte ich doch noch einmal die Hirnmaske aufsetzen. Der Zustand sanfter Gleichgültigkeit, in den die Hirnmassage einen versetzt, würde mir jetzt wahrscheinlich guttun. Aber Einschlafprobleme werde ich ja angesichts der zuverlässigen Wirkung der Schlafdämpfe, die sicher gleich wieder von der Decke herabströmen werden, ohnehin nicht haben.

English Version

Disease Control

When Theo’s observation picture indicates an emergency, he spontaneously presses the first aid button. The result, however, is not at all what he had expected.

Monday, March 23, 2521 (82/113)

Something outrageous has happened – and I am to blame! Obviously it is all too negligent to move through a foreign time without prior knowledge. Such a behaviour virtually conjures up misfortune!

Today, my observation picture again showed a segment of the square between the recreation and observation houses. So I prepared myself to spend another uneventful, yawningly boring day. But then my eyes suddenly fell on a figure staggering forward with its upper body bent over.
The effort of just moving was clearly visible on the person’s face. With both arms pressed in front of the stomach, the somehow familiar looking figure seemed to be suffering from severe cramps. Stumbling a few more steps, the groggy body fell to the ground and remained there, the face contorted in pain.
Only now did I realise who the figure was: it was the pupil who had been my cabin neighbour for the last two days! In its three-dimensionality, the observation image seemed so real that at first I wanted to jump forward and rush to the aid of the fallen person. But of course my awkward twitches were to no avail. The loops around my ankles and forearms reminded me unmistakably of the reality in which I was trapped.
At the same moment, an alarm signal lit up in the lower right corner of my observation picture. Obviously it was directly related to what was happening.
All of a sudden, the shackles released my arms. Glad to be able to do something, I touched the spot with the alarm signal without hesitation. Instinctively, I assumed that this would activate something like first aid.
It took only a few seconds before two flying paramedics landed next to the pupil, who was still writhing in pain. They were both wearing some kind of protective clothing that differed markedly from the other grey-metallic flight suits. It was thicker and lighter than these and firmly connected to a helmet that enclosed the entire head and had a breathing filter inserted in the front.
Busily, the hooded figures bent over my former cabin neighbour. One held him down while the other nested something from his suit pocket that looked like a syringe. After pushing up the sleeve of the rubber suit and stretching the pupil’s arm, he pressed the syringe-like device into the boy’s vein.
My former cabin neighbour was fidgeting violently the whole time. I could not tell whether this was due to his cramps or whether he was defending himself against the treatment. However, his resistance quickly weakened under the effect of the injection.
Shortly afterwards, the two flying paramedics let go of the pupil. They waited a moment until he stopped moving. Then one of them took out a plastic bag zipped lengthwise from a pocket attached to the side of the protective suit. The two of them stowed the boy in it and then flew away with him from the segment of the square that I could see in the observation picture.
For a while I sat there frozen. Injected to death, I thought, they have injected him to death! At the same time, everything in me resisted this interpretation. For it was I myself who had summoned the lethal first aid squad by touching the alarm button.
Wasn’t it possible that the pupil had only been anaesthetised? Was the plastic bag the flying paramedics had put him in perhaps made of a breathable material that let oxygen in? Was the whole thing possibly just the local form of quarantine? After all, it was to be feared that the boy was infected with pathogens. And that the spread of germs in this narrow world had to be prevented at all costs was all too understandable!
I also considered whether it might have just been a feigned emergency. Was this in the end only meant to test the reaction speed of the person who had been assigned the corresponding seat segment for observation? Was the observation picture meant to set a trap for me? Had someone become suspicious and now wanted to check my reliability?
Cautiously, I looked over to my left neighbour, then to my right. But both of them, if anyone had charged them with my surveillance, did not show any signs, at least not on the outside. They just kept looking fixedly at the observation picture on the front of their cabin.
Then again I tried to calm myself with the thought that the paramedics would probably have subjected the pupil to this special treatment even if I had not activated the alarm signal. After all, the flashing of the signal clearly indicated that someone (or something) had reacted to what was happening without my intervention.
But I could put it any way I wanted: I could not ignore the fact that by touching the alarm signal I had become complicit in the pupil’s fate.
Even now I still feel as if I have been involved in a terrible crime through carelessness. Unsurprisingly, Shorsh says that my „mea culpa whining“ is not very helpful. But his way of taking everything lightly doesn’t exactly strike me as a suitable approach to the problem either.
My hair loss is also increasing. What a miserable life! Maybe I should put on the brain mask again after all. The state of gentle indifference that the brain massage induces would probably do me good now. However, I won’t have any problems falling asleep anyway, given the reliable effect of the sleep vapours which will surely start pouring down from the ceiling again in a moment.

Bilder / Images: PublicDomainPictures: Bakterien/Bacteria (Pixabay); Herbert Aust: Schutzanzug mit Gasmaske / Protective suit with gas mask (Pixabay; modifizierter Ausschnitt / detail, modified)

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..