Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
So träge der Strom des Lebens in der Kegelstadt auch dahinfließt – unter der Oberfläche scheint es doch gefährlich zu brodeln.
Text hören
Sonntag, 22. März 2521 (81/113), „nachts“
Jetzt musste ich mich schon wieder vor den Schlafdämpfen in die Nasszelle flüchten! Diese herrische Kontrollwut, die peinlich genau kalkulierte Zuteilung von Lebens-, „Arbeits-“ und Schlafenszeit, die totale Fremdbestimmung des Lebens – das alles geht mir mehr und mehr auf die Nerven!
Die Kriegsvorbereitungen, auf die Schorsch mich gestern aufmerksam gemacht hat, haben meine Einstellung zu dieser Zeit natürlich auch nicht gerade verbessert – zumal ich für das Säbelrasseln keinerlei Gründe entdecken kann. Mittlerweile konnte ich nämlich feststellen, dass zumindest die Kegelstadt, in der ich mich befinde, bei der Nahrungsbeschaffung offenbar völlig autark ist. Dies schließe ich jedenfalls aus dem Beobachtungsbild, das mir heute zugeteilt war.
Wie es scheint, werden einem die Beobachtungsbilder nach dem Zufallsprinzip zugewiesen. Meines zeigte heute einen Ausschnitt aus einem der Gewächshäuser, die irgendwo in den Hochhäusern verborgen sein müssen.
Der gelblich-weißen Pampe nach zu urteilen, die hier als Nahrung dient, handelt es sich bei den angebauten Pflanzen wohl hauptsächlich um Sojabohnen. Daraus beziehen die Menschen hier demnach den Großteil ihrer Nährstoffe. Ob die nötigen Vitamine künstlich erzeugt und der Pampe hinterher zugesetzt werden oder es noch weitere Gewächshäuser für den Anbau von Früchten gibt, habe ich noch nicht herausfinden können.
Wenn hier Kriege geführt werden, so scheint es dabei also nicht um Nahrungsmittel zu gehen. Auch Rohstoffe zur Energieerzeugung können nicht der Grund dafür sein. Offenbar ist die Gewinnung von Solarenergie so weit vervollkommnet worden, dass auch auf diesem Gebiet Autarkie herrscht.
Ebenso wenig glaube ich, dass etwa der Sauerstoff knapp geworden sein könnte. Selbst wenn in der Atmosphäre außerhalb des Kegels nicht mehr genug Sauerstoff vorhanden sein sollte, werden die Filter wohl in der Lage sein, die in der Luft enthaltenen chemischen Verbindungen aufzuspalten und auf diese Weise Sauerstoff für die Kegelstadt zu erzeugen.
Am ehesten könnte ich mir noch vorstellen, dass hier Kriege um Wasser geführt werden. Aber auch in diesem Punkt halte ich es für wahrscheinlicher, dass die Kegelstädte über geschlossene Systeme verfügen, die den Wasserhaushalt regulieren und im Gleichgewicht halten.
Bei den Kriegen scheint es folglich in erster Linie um Macht und Vorherrschaft zu gehen. So gesehen, gibt es für meine Bedrohungsgefühle durchaus eine reale Grundlage. Wenn nämlich bereits andere Kegelstädte allein deshalb als bedrohlich angesehen werden, weil sie sich außerhalb des eigenen Machtbereichs befinden – wie wird hier dann erst mit jemandem umgegangen, der aus einer anderen Zeit stammt?
Oder unterscheiden sich die einzelnen Kegelstädte doch weit stärker voneinander, als ich annehme? Gibt es vielleicht auch Stadtstaaten, die beispielsweise mit der menschlichen Sexualität anders umgehen oder in denen der Tag-Nacht-Rhythmus anders geregelt ist – und die wegen solcher „Anomalien“ von der Kegelstadt, in der ich gelandet bin, bekämpft werden?
Aber wahrscheinlich beruhen solche Mutmaßungen nur wieder auf meinem Gebundensein an die Gedanken und Gefühle der Welt, aus der ich komme.
Eine andere Schlussfolgerung aus dem Kriegsgeplänkel liegt allerdings auf der Hand: Wenn die Herrschenden hier sogar andere Staaten wegen abweichender Gewohnheiten bekämpfen – werden sie dann nicht auch im Innern gnadenlos gegen Normabweichungen vorgehen? Und heißt das nicht, dass Schorsch und ich uns hier eben doch in ernster Gefahr befinden?
So oder so werde ich das Gefühl nicht los, unter Beobachtung zu stehen. Nehmen wir zum Beispiel die Tatsache, dass in der Kabine rechts neben mir heute wieder derselbe Schüler wie gestern saß. Kann das Zufall sein? Oder ist es nicht doch ein Hinweis darauf, dass ich längst heimlich überwacht werde? Handelt es sich bei meinem Kabinennachbarn am Ende gar nicht um einen Schüler, sondern um einen auf mich angesetzten Spitzel?
Wer weiß, vielleicht altern die Menschen in der Zukunft ja viel langsamer. Womöglich ist das vermeintliche Kind neben mir in Wahrheit längst „erwachsen“ – was immer das hier bedeutet –, und das Lernprogramm dient nur der Tarnung seiner wahren Tätigkeit.
Andererseits ist es kaum vorstellbar, dass in dieser vollautomatisierten Welt die Überwachung eines potenziellen Feindes allein dem unsicheren Faktor Mensch überlassen wird. Wird also der Beobachter selbst auch wieder beobachtet – vielleicht, um seine Zuverlässigkeit zu testen?
Das Verhalten meines Nachbarn selbst lässt allerdings nicht auf feindliche Absichten schließen. Als er mich sah, hat er mich – wohl weil er sich an meinen kleinen „Einbruch“ in seine Kabine vom Vortag erinnert hat – sogar angelächelt. Sein Lächeln wirkte dabei auf mich keineswegs ironisch. Ganz im Gegenteil: Ich hatte sogar den Eindruck, ihm sympathisch zu sein!
Natürlich kann es sich dabei auch um ein gezieltes Täuschungsmanöver handeln. Unangenehm war mir aber eher mein anderer Kabinennachbar, der – wie ich deutlich zu spüren meinte – die ganze Zeit über verstohlen zu mir herüberlinste. Ein Glück nur, dass mein Bartwuchs noch nicht das befürchtete verräterische Ausmaß erreicht hat. Stattdessen leide ich unter massivem Haarausfall – möglicherweise eine Auswirkung der Schlauchernährung.
Kurz vor Ende des Arbeits- bzw. Beobachtungstages wurde mein Schüler-Nachbar auf einmal ganz weiß im Gesicht und hielt sich die Arme vor den Bauch, als litte er unter schmerzhaften Krämpfen. Einmal sah er sogar Hilfe suchend zu mir herüber, blickte dann aber gleich wieder auf sein Lernprogramm.
Eine unangenehme Situation! Denn wie hätte ich ihm helfen sollen? Ich habe ja überhaupt keine Ahnung von den hiesigen Behandlungsmethoden! Und wie hätte ich als Strandgut in einer fremden Zeit einen Arzt rufen sollen? Glücklicherweise hatten wir kurz darauf „Schicht“ und durften uns wieder zu den Ruhehäusern begeben.
Seltsam … Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Krankheitserreger gegen die umfangreichen Desinfektionsmaßnahmen in den Appartements und die ausgeklügelten Luftfilterungssysteme keine Chance hätten. Oder sollte die Ernährung hier doch nicht so perfekt auf die Bedürfnisse des menschlichen Körpers abgestimmt sein, wie ich bislang angenommen habe?
English Version
Feelings of Threat
As sluggishly as the stream of life flows in the cone town – beneath the surface, a volcano seems to be rumbling.
Sunday, March 22, 2521 (81/113), at „night“
Once again I had to flee from the sleeping fumes into the wet cell! This bossy control frenzy, the meticulously calculated allocation of living, „working“ and sleeping time, the total heteronomy of life – all this is increasingly getting on my nerves!
The preparations for war Shorsh drew my attention to yesterday have not exactly improved my attitude to this time either, of course – especially since I cannot discover any reasons for this sabre-rattling.
In the meantime, I found out that the cone town I am staying in is apparently completely self-sufficient in terms of food procurement. At least, this is what I conclude from the observation picture that was assigned to me today.
As it seems, the observation pictures are randomly distributed among the viewers. My picture today showed a section of one of the greenhouses, probably hidden somewhere in the high-rise buildings.
Judging by the yellowish-white mush that serves as food here, the plants cultivated are presumably mainly soybeans. Obviously, this is what provides most of the nutrients for the people here. I have not yet been able to find out whether the necessary vitamins are produced artificially and added to the mush afterwards, or whether there are other greenhouses for growing fruit.
So if wars are being waged here, they do not seem to be about food. Raw materials for energy production cannot be the reason either. Apparently, the production of solar energy has been perfected to such an extent that there is self-sufficiency in this area as well.
Nor do I believe that oxygen, for example, could have become scarce. Even if there is no longer enough oxygen in the atmosphere outside the cone, the filters will probably be able to split the chemical compounds contained in the air and in this way produce oxygen for the cone town.
At most, wars could be fought here for reasons of water supply. But here, too, I think it is more likely that the cone towns have closed systems for regulating the water balance.
Consequently, the wars seem to be primarily about power and domination. Seen in this light, there is a very real basis for my feelings of threat. After all, if other cone towns are seen as threatening simply because they are outside one’s own sphere of power, how then will someone from another time be treated here?
Or are the individual cone towns much more different from each other than I assume? Are there perhaps also city states that deal differently with human sexuality, for example, or in which the day-night rhythm is regulated otherwise – and which are attacked because of such „anomalies“ by the cone town where I happen to be?
But probably such speculations are only based again on my attachment to the thoughts and feelings of the world I come from.
However, another conclusion from the war skirmish is obvious: If the rulers here even fight other states because of deviant habits – won’t they be all the more merciless against deviations from the norm at home? And doesn’t that mean that Shorsh and I are in serious danger in this world?
Either way, I can’t shake the feeling of being under observation. Let’s take, for example, the fact that the same pupil as yesterday was sitting in the cubicle to my right again today. Can that be a coincidence? Or does it indicate that I have long been under secret surveillance? Is the person sitting next to me in the cubicle ultimately not a pupil at all, but an informer who is supposed to spy on me?
Who knows, maybe people will age much more slowly in the future. Perhaps the supposed child next to me has in fact long since „grown up“ – whatever that means here –, and the learning programme only serves as a camouflage for his true activity.
On the other hand, it is hard to imagine that in this fully automated world, the surveillance of a potential enemy is left solely to the uncertain human factor. So is the observer himself also being observed – perhaps to test his reliability?
However, my neighbour’s behaviour itself does not suggest hostile intentions. When he saw me, he even smiled at me – probably because he remembered my little „break-in“ in his cabin from the day before. His smile did not seem ironic to me at all. Quite the opposite: I even had the impression that he found me likeable!
Of course, this could also be a case of deliberate deception. But I was more uncomfortable with my neighbour on the other side, who – as I clearly sensed – was secretly looking over at me the whole time. Fortunately, my beard growth has not yet reached treacherous proportions. Instead, I suffer from massive hair loss – possibly an effect of the hose feeding.
Shortly before the end of the working/observation day, my pupil-neighbour suddenly turned completely pale. At the same time, he held his arms in front of his stomach as if he were suffering from painful cramps. He even briefly looked over at me for help, but immediately returned his attention to his learning programme.
An unpleasant situation! How could I have helped him? After all, I have absolutely no idea about the local treatment methods! And how could I, as a flotsam in a foreign time, have called a doctor? Fortunately, it was „closing time“ soon afterwards, and we were allowed to go back to the relaxation houses.
Strange … I had actually assumed that pathogens would not stand a chance against the sophisticated air filtration systems and the extensive disinfection measures in the apartments. Or should the nutrition here not be as perfectly adapted to the needs of the human body as I had assumed so far?
Bilder / Images: Stefan Keller: Psychedelisches Fraktal / Psychedelic Fractal (Pixabay; Ausschnitt / detail); Kalhh: Gehirn / Brain (Pixabay)
Xeniana
das scheint ja ein krasses
LikeLike
rotherbaron
… Buch zu sein? – Es ist ein phantastischer Roman, der 2008 in zweiter Auflage als „Der Schattenhändler“ erschienen ist. Nun wurde er noch einmal überarbeitet und wird in drei Teilen herausgebracht. Die ersten beiden sind schon als analoges und eBook erschienen. Der dritte Teil erscheint nun zunächst als Fortsetzungsgeschichte und ist als Buch in Vorbereitung.
LikeGefällt 1 Person
Xeniana
ja Buch zu sein:), irgendwie war die 2. Hälfte des Satzes weg:)
LikeLike