Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Endlich sieht Theo seine neuen Mitmenschen einmal ohne ihre Fluganzüge. Vieles an ihnen bleibt ihm aber trotzdem ein Rätsel.
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Freitag, 20. März 2521 (79/113), etwas später
Seit ich den Menschen hier ohne die Verkleidung der Fluganzüge begegnet bin, habe ich auch eine genauere Vorstellung von ihrem Aussehen. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass ich ihr Erscheinungsbild auch richtig einordnen kann. Es sind eben immer nur Ausschnitte, die ich sehe. Und wenn ich sie zu deuten versuche, geschieht dies stets vor dem Hintergrund meiner eigenen, ganz anders gearteten Erfahrungswelt.
So war es auch bei den Eindrücken, die ich in den Beobachtungshäusern gesammelt habe. Anfangs konnte ich ohnehin nur meine beiden unmittelbaren Kabinennachbarn näher in Augenschein nehmen. So erkannte ich erst später, dass es sich bei den Besonderheiten, die mir an ihnen auffielen, nicht um individuelle Abweichungen, sondern um das gewöhnliche Erscheinungsbild der hier lebenden Menschen handelt.
Was ich als Erstes bemerkte, war, dass sie keine Haare auf dem Kopf hatten und auch keine Bärte trugen. Für mich und Schorsch bedeutet dies, dass wir die kapuzenartige Fortsetzung, die der Gummianzug an seinem oberen Ende aufweist, nie herunterziehen dürfen, wenn wir nicht sofort als „Außerzeitliche“ erkannt werden wollen. Glücklicherweise wird dies hier ohnehin von vielen so gehandhabt, weshalb wir damit nicht weiter auffallen dürften.
Wie wir die Bärte, die uns ohne Rasierzeug rasch wachsen werden, verstecken sollen, ist mir allerdings noch nicht ganz klar. Zwar sind die Kapuzen wie bei einem Taucheranzug mit dem Nackenansatz verbunden und reichen vorne bis knapp über das Kinn, so dass der Bart teilweise von ihnen verdeckt wird. Auf Dauer wird das aber kaum ausreichen.
Meine beiden Nachbarn hatten ihre Fluganzüge abgelegt und saßen so – nachdem auch ich meine Kutte ausgezogen hatte – in derselben Aufmachung da wie ich selbst. Der Nachbar zu meiner Rechten hatte die Kapuze heruntergezogen und sich stattdessen einen Helm aufgesetzt, der so ähnlich aussah wie die Hirnmaske aus dem Appartement. Er war mindestens genauso groß wie ich, hatte jedoch eher kindlich wirkende Gesichtszüge. Dies fiel mir allerdings nicht gleich auf, da das Gesicht eingefallen war wie bei alten Leuten.
Den Grund dafür erkannte ich erst später: Die Menschen hier haben überhaupt keine Zähne! Warum das so ist, kann ich bislang nur vermuten. Zwar versteht es sich von selbst, dass die Schlauchernährung, die hier üblich zu sein scheint, Zähne überflüssig macht. Da ich mir aber nicht vorstellen kann, dass die Menschen mittlerweile ohne Zähne geboren werden, weiß ich nicht, ob ihnen die Zähne infolge der Fehlernährung ausfallen oder ihnen bei der Geburt gezogen werden.
Ich überlegte lange, wie alt das große Kind neben mir wohl sein mochte, kam aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Außer der Größe irritierte mich auch der für Kinder völlig untypische leere Blick, der sich in nichts von dem meines anderen „Beobachtungskollegen“ unterschied.
Ebenso schwer war die Frage nach dem Geschlecht des Kindes zu entscheiden. Immer wenn ich glaubte, in dem Gesicht etwas Knabenhaftes zu erkennen, entdeckte ich irgendetwas in der Gesichtsform, das mich an ein Mädchen erinnerte. Ließen mich dagegen die weichen Gesichtszüge auf ein weibliches Geschlecht schließen, fiel mein Blick im nächsten Moment garantiert auf irgendein anderes Detail – wie etwa die auffallend grob geschnittene Nasenpartie –, das mich meine These wieder verwerfen ließ.
Nun ist es natürlich ohnehin schwierig, bei einem Kind ohne Haare, das zudem nur von der Seite zu sehen ist, das Geschlecht zu erraten. Bei dem Nachbarn (der Nachbarin?) links von mir, der/die auf mich schon etwas älter wirkte, fiel mir dies jedoch keineswegs leichter.
Die Bemalung des Schädels ließ mich hier zunächst annehmen, dass es sich um eine Frau handeln müsse. Mittlerweile glaube ich allerdings, dass ich dabei wohl einem Vorurteil aufgesessen bin. Eine ähnliche Schädelbemalung habe ich nämlich später auch bei solchen Menschen gesehen, deren Gesichtsform auf mich eher männlich wirkte. Ich frage mich daher, ob die Schädelbemalung vielleicht gar nicht als Schmuck zu verstehen ist, sondern eher eine soziale Bedeutung hat – also beispielsweise auf einen bestimmten sozialen Rang hindeutet oder eine Auszeichnung für irgendwelche herausragenden Leistungen darstellt.
Allerdings kommen mir die Begriffe „männlich“ und „weiblich“ hier ohnehin zunehmend unbrauchbar vor. Die Vorstellungen, die ich damit verbinde, sind offenbar nicht ohne weiteres auf die Menschen in dieser Welt übertragbar.
Erschwerend kommt natürlich hinzu, dass ich sie immer nur als „Flugmenschen“, in Kutten oder in Gummianzügen sehe, in Aufmachungen also, die alle auf ihre Weise die Geschlechtsunterschiede verdecken. Dennoch ist auffallend, dass sich selbst unter den Gummianzügen – obwohl diese doch eng am Körper anliegen – bei niemandem Brüste oder andere Geschlechtsmerkmale abzeichnen. Und ob die – ohnehin nur minimalen – Unterschiede, die sich bei den Gesichtsformen feststellen lassen, geschlechtsspezifischer Natur sind, ließe sich allenfalls dann zweifelsfrei beurteilen, wenn ich meine „Mitbeobachter“ einmal nackt sehen könnte.
English Version
What the People of the Future Look Like
Finally, Theo gets to see his new fellow human beings without their flight suits. However, much about them still remains a mystery to him.
Friday, March 20, 2521 (79/113), a bit later
Meeting the people here without the disguise of the flight suits has given me a more accurate idea of what they look like. However, this does not mean that I can correctly assess their appearance. The problem is that I only ever see fragments. And any attempt to interpret them is always tied to my own very different experiences.
This was also the case with the impressions I gathered in the observation houses. At first, I could only take a closer look at my two immediate cabin neighbours. That’s why I only realised later that the peculiarities I perceived in them were not individual deviations, but the usual appearance of the people living here.
The first thing I noticed was that they didn’t have any hair on their heads and didn’t wear beards either. For me and Shorsh, this means that we must never pull down the hood-like extension of our rubber suits if we don’t want to be immediately recognised as „out-of-timers“. Fortunately, this is common practice here anyway, so we probably won’t attract attention with this.
How we are to hide the beards, which will grow quickly without shaving equipment, is not quite clear to me yet, though. It is true that the hoods are connected to the base of the neck like a diving suit and reach just above the chin at the front, so that the beard is partially covered by them. In the long run, however, that will hardly be enough.
My two neighbours had taken off their flight suits and were thus sitting there – after I had also taken off my robe – in the same outfit as myself. The neighbour to my right had pulled down his hood and put on a helmet instead, which looked a bit like the brain mask from the flat. He was at least as tall as me, but had rather childish-looking features. I didn’t notice this right away, though, because his face was sunken in like that of old people.
Only later did I find out the reason for this: the people here have no teeth at all! So far, I can only guess at why this is so. It goes without saying that feeding through hoses, which seems to be the norm here, makes teeth superfluous. But since I can’t imagine that people are born without teeth in the future, I can’t say whether their teeth fall out as a result of malnutrition or whether they are pulled out at birth.
I pondered for a long time how old the tall child next to me might be, but came to no satisfactory conclusion. Apart from the size, I was also irritated by the blank look, which was completely untypical for children and which did not differ in any way from that of my other „observation colleague“.
The question of the child’s sex was equally difficult to decide. Whenever I thought I recognised something boyish in the face, I discovered something in the shape of the face that reminded me of a girl. When, on the other hand, the soft facial features suggested a female sex, my attention was immediately drawn to some other detail – such as the conspicuously coarse nose – which made me reject my hypothesis.
Of course, it is difficult to guess the sex of a child without hair anyway, especially if you can only see it from the side. But it was by no means easier for me to guess the sex of the neighbour to my left, who was apparently much older.
The painting on the skull made me assume at first that it must be a woman. In the meantime, however, I believe this was only due to my prejudices as someone coming from a different time. After all, I have seen a similar skull painting later on people whose face shape seemed rather male to me. I therefore wonder whether the skull painting is perhaps not to be understood as an adornment at all, but rather has a social meaning – for example, indicating a certain social rank or representing an award for some outstanding achievement.
However, the terms „male“ and „female“ seem increasingly useless to me here anyway. The ideas I associate with them are obviously not straightforwardly transferable to the people in this world.
Of course, things are further complicated by the fact that I only ever see them as „flying people“, in cowls or in rubber suits, in other words, in outfits that all conceal the differences between the sexes. Nevertheless, it is striking that even under the rubber suits – although they fit tightly to the body – I can’t notice any breasts or other sexual characteristics on anyone. And whether the minimal differences that can be detected in the facial forms are of a sex-specific nature could at best be judged beyond doubt if I could see my „fellow observers“ naked for once.
Bilder / Images: Pete Linforth (TheDigitalArtist): 1. Metaversum / Metaverse (Pixabay, Ausschnitt/detail); 2. Metaversum / Metaverse (Pixabay)