Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Der Tagesablauf in Theos neuer Zeit ist durch das Pendeln zwischen Ruhe- und Beobachtungshäusern geprägt. Ereignislos ist es hier wie dort.
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Freitag, 20. März 2521 (79/113)
So langsam wird mir der Alltag hier vertraut. Das ist allerdings auch nicht weiter verwunderlich. Ein Tag ist wie der andere – wer einen Tag kennt, kennt alle Tage.
Das Entscheidende ist: Wo es keine Sonne gibt, gibt es auch keinen absoluten Morgen und Abend. Wann für einen selbst Morgen ist und wann Abend, bestimmt sich stattdessen nach dem Tageszyklus, dem man zugeteilt ist.
Auf diese Weise werden „Morgen“ und „Abend“ nicht mehr zeitlich, sondern räumlich bestimmt. Die Ruhehäuser, wo ich mich jetzt wieder befinde, sind für Entspannung, Essen und Schlaf zuständig – also für lauter Dinge, die ich in meiner Heimat-Zeit mit dem Feierabend in Verbindung bringen würde. In den Häusern am gegenüberliegenden Ende des Platzes gehen die Menschen dagegen einer Beschäftigung nach, die in irgendeiner Weise im Dienst der Gemeinschaft steht. Wer sich dort aufhält, für den ist es nach den Maßstäben meines früheren Lebens also „Tag“.
So läuft das Leben der Menschen hier in Bahnen ab, die sich nicht berühren. Wenn es für die einen Tag ist, ist es für die anderen Nacht, und umgekehrt.
Streng genommen, dürfte ich also gar nicht mehr von „Tag“ oder „Nacht“ sprechen – und ebenso wenig von „Arbeit“. Die Aktivitäten, denen man hier „tagsüber“ nachgeht, lassen sich allenfalls als Beschäftigungstherapie ansehen. Um Beschäftigung im Sinne einer Arbeitstätigkeit handelt es sich dabei nicht.
Das war mir schon gestern aufgefallen. Schorsch – der ja schon einen Tag vor mir in der Zukunft angekommen war – hatte mich zwar schon auf dies und das vorbereiten können. Aber erstens blieb uns bis zu unserer Ankunft an den Tageshäusern nicht mehr allzu viel Zeit – und zweitens bleibt das allzu Fremde eben auch dann noch fremd, wenn jemand anderes es einem schildert. So musste ich auch die hiesigen Tagesabläufe erst am eigenen Leib erleben, um eine Vorstellung von dem Leben hier zu bekommen.
Gemeinsam mit Schorsch hatte ich mich zu dem Einlass-System auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes begeben. Es war dasselbe wie auf der Seite der Ruhehäuser. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Riesensonden einem dieses Mal kein Appartement, sondern einen Platz in einem der Beobachtungsräume – so lassen sie sie sich wohl am treffendsten charakterisieren – zuwiesen.
Als Schattenlose mussten wir eine der außen an dem Hochhaus angebrachten Treppen emporsteigen, bis wir die Glastür mit der passenden Nummer erreicht hatten. Schorsch und ich wurden unterschiedlichen Beobachtungsräumen zugeteilt – ich musste in den neunten Stock, er ein Stockwerk höher klettern. Anscheinend werden niemals zwei Schattenlose in denselben Beobachtungsraum geschickt – was nicht gerade zu meiner Beruhigung beigetragen hat.
Bei den Beobachtungsräumen handelt es sich um etwa drei Meter hohe Säle, in denen in regelmäßigen Abständen Kabinen aufgestellt sind. Diese erinnern entfernt an die Nasszellen in den Ruhehäusern.
Unwillkürlich verlangsamte ich meinen Schritt, als ich den Raum betrat: Sollte ich hier etwa einer automatischen Desinfektion unterzogen werden? War dies eine Ergänzung zu den in der Tat recht erbärmlichen Waschmöglichkeiten in den Nasszellen, in denen man einfach von einem mit Hochdruck eingeleiteten Wasserschwall abgesprüht wird?
Die Schwingtür zu meiner Kabine stand offen. Als ich eintrat, schloss sie sich hinter mir mit einem kaum hörbaren Surren. Drinnen befand sich nicht die von mir erwartete Dusche, sondern ein stuhlförmiges Gebilde, das auf mich reagierte wie ein Magnet auf einen eisenhaltigen Gegenstand. Sobald ich Anstalten machte, mich darauf niederzulassen, schnellte es mir entgegen. Mit den Armlehnen, aus denen wie bei einer Schlingpflanze Schlaufen herauswucherten, die sich fest um meine Arme legten, zog es mich nach unten. Das Gleiche geschah mit den Unterschenkeln, die ebenfalls bis zu den Knien herauf angegurtet wurden.
Zwar waren die Gurte elastisch und übertrugen eine angenehme Vibration auf meinen Gummianzug, doch hatte ich trotzdem den Eindruck, gefesselt zu sein. Dies kam mir umso unsinniger vor, als Beginn und Ende des Aufenthalts in den Beobachtungsräumen scheinbar in keiner Weise kontrolliert wurden. Jedenfalls habe ich nirgends so etwas wie eine Stechuhr gesehen. Denkbar wäre allenfalls, dass die An- und Abwesenheit in den Kabinen über die Wärmeabstrahlung des Körpers gemessen wird.
Die Kabinen bestehen aus einer Art Plexiglas und sind hinten sowie an den Seiten durchsichtig. Die Vorderseite ist etwa einen Meter von dem Sitzplatz entfernt. Sie dient in ihrer ganzen Länge und Breite der Projektion von Aufzeichnungen, die eine Kamera direkt dorthin überträgt.
Durch die dreidimensionale Bildwiedergabe fühlte ich mich als unmittelbarer Teil des Geschehens auf dem wandgroßen Monitor. Anfangs hatte ich daher den Eindruck, den Aufstieg in die Beobachtungsräume nur geträumt zu haben. Das Bild, das sich mir darbot, zeigte nämlich genau jene Stelle vor den Platzanweisersonden, auf der ich zuletzt mit Schorsch gestanden hatte. Anscheinend war es meine Aufgabe, diesen Teil des Platzes zu überwachen.
Nicht lange, und der zähflüssige Strom der Langeweile nahm mich in sich auf. Schon nach wenigen Minuten war es mir kaum noch möglich, den Blick weiter auf das gezeigte Bild zu richten, zumal sich darauf nicht das Geringste tat.
Hatte derjenige, der am Tag meiner Ankunft die Sonden vor den Ruhehäusern überwacht hatte, vielleicht einen ähnlichen Überdruss empfunden? Waren Schorsch und ich deshalb nicht entdeckt worden? Oder erscheint das Eindringen von Fremden hier als so unwahrscheinlich, dass selbst deutliche Anzeichen hierfür keine entsprechenden Gegenmaßnahmen auslösen?
Die mir zugewiesene Aufgabe warf allerdings auch die Frage auf, warum ich dafür überhaupt den Standort hatte wechseln müssen. Technisch wäre es doch zweifellos ebenso gut möglich, die Überwachungsaufgaben in den Appartements der Ruhehäuser wahrzunehmen. Dass dies nicht geschieht, liegt wohl einzig an dem Bedürfnis nach einer Rhythmisierung des Tagesablaufs.
Außerdem lässt sich die Sinnlosigkeit der Beobachtungsaufgaben auf diese Weise wohl auch besser kaschieren. Wahrscheinlich leiten die Kameras ja ohnehin alle aufgezeichneten Daten unmittelbar an einen Zentralrechner weiter, der sie ohne Zutun des Kabinenbeobachters verarbeitet.
Allerdings kann ich auch nicht ausschließen, dass in den höheren Stockwerken die Beobachtungsaufgaben komplexer sind und gewisse analytische Fähigkeiten verlangen. Und dann muss es ja irgendwo auch eine Abteilung geben, die mit der Programmierung und Wartung des Zentralrechners betraut ist.
Oder ist dafür ein anderer Zentralrechner zuständig, der seinerseits wieder von einem Computer-Kompagnon überwacht wird? Ist das menschliche Element hier vollständig zugunsten eines Systems wechselseitiger Rechnerkontrolle getilgt?

English Version
The Observation Houses
The daily routine in Theo’s new time is characterised by commuting between relaxation and observation houses. At both locations, strictly regulated procedures prevail.
Friday, March 20, 2521 (79/113)
Gradually, everyday life here is becoming familiar to me. That’s not surprising, though. One day is like another – if you know one day, you know all days.
The crucial thing is: without sunshine, there are no absolute mornings and evenings. Instead, when it is morning and when it is evening is determined by the daily cycle to which you are assigned.
In this way, „morning“ and „evening“ are no longer defined in terms of time, but in terms of space. The relaxation houses, where I now find myself again, allow for leisure, eating and sleeping – in other words, for all the things that I would associate with free time in my former environment. In the houses at the opposite end of the square, by contrast, people are engaged in activities that somehow serve the community. So for those who are there, it is „day“ according to the standards of my home time.
Thus, the lives of the people here follow paths that do not touch each other. When it is day for one half of the inhabitants, it is night for the other half, and vice versa.
Strictly speaking, I should no longer use the terms „day“ and „night“ at all. Equally misleading is the term „work“. The activities that are carried out here during the „day“ can at best be regarded as occupational therapy. They are not employment in the sense of a work activity.
This had already struck me yesterday. Fortunately, Shorsh – who had arrived in the future one day before me – had already prepared me for some things. But firstly, there wasn’t much time left until we arrived at the houses of activity – and secondly, something that is extremely alien to you remains alien even when someone else describes it to you. So I had to experience the daily routines here first hand to get an idea of this life.
Together with Shorsh, I had gone to the entry system on the opposite side of the square. It was the same as on the side of the rest houses. The only difference was that this time the giant probes did not assign you a room to relax in, but a place in one of the „observation rooms“ – which is probably the best way to characterise them.
As shadowless people, we had to climb one of the staircases attached to the outside of the skyscraper until we reached the glass door with the matching number. Shorsh and I were assigned to different observation rooms – I had to climb to the ninth floor, he had to climb one floor higher. Apparently, two shadowless people are never sent to the same observation room – which didn’t exactly help to reassure me.
The observation rooms are halls about three meters high, in which cabins are installed at regular intervals. These are distantly reminiscent of the wet rooms in the relaxation houses.
Involuntarily, I slowed my step as I entered the room: was I to be subjected to automatic disinfection here? Was this meant as a complement to the indeed quite miserable washing facilities in the wet cells, where you are simply sprayed by a high-pressure stream of water?
The swinging door to my cabin was open. As I stepped in, it closed behind me with a barely audible whirring sound. Inside, I was not welcomed by the expected shower, but by a chair-shaped structure that reacted to me like a magnet to a ferrous object. As soon as I made an effort to sit down on it, it moved towards me. With the armrests, from which loops grew out like a creeper and wrapped themselves tightly around my arms, it irresistibly pulled me downwards. The same happened with my legs, which were also strapped up to my knees.
Although the straps were elastic and transmitted a pleasant vibration to my rubber suit, I still had the impression of being shackled. This appeared all the more nonsensical to me as the beginning and end of the stay in the observation rooms did not seem to be controlled in any way. At any rate, I did not see anything like a time clock anywhere. At most, it would be conceivable that presence and absence in the cubicles are measured by the body’s heat radiation.
The cabins are made of a kind of plexiglass and are transparent at the back and sides. The front is about one meter from the seat. Its entire length and width is used to project recordings that a camera transmits directly to it.
The three-dimensional image reproduction made me feel like an immediate part of the action on the wall-sized monitor. At first, therefore, I had the impression that I had only dreamed of ascending to the observation rooms: The image displayed to me showed exactly the spot in front of the place-assigning probes where I had stood with Shorsh a few minutes ago. Apparently it was my job to monitor this part of the square.
It wasn’t long before the viscous stream of boredom fully absorbed me. After only a few minutes, it was hardly possible for me to continue looking at the screen, especially since there was not the slightest thing happening on it.
Had the person monitoring the probes in front of the relaxation houses on the day of my arrival perhaps felt a similar weariness? Is that why Shorsh and I had not been discovered? Or does the intrusion of strangers here seem so unlikely that even clear signs of it do not trigger appropriate countermeasures?
The task assigned to me, however, also raised the question of why I had to change location for it. Technically, it would undoubtedly be just as possible to carry out the monitoring tasks in the relaxation houses. The only reason for not doing so is obviously the need to create a regular rhythm in the daily routine.
Furthermore, the pointlessness of the surveillance tasks can presumably be better concealed in this way. The cameras probably forward all the recorded data directly to a central computer anyway, which processes it without the cabin observer’s intervention.
However, I cannot rule out the possibility that on the higher floors the observation tasks are more complex and require certain analytical skills. And then there must also be a department somewhere that is entrusted with the programming and maintenance of the central computer.
Or is a second central computer responsible for this, which itself is again supervised by another fellow computer? Has the human element here been completely eradicated in favour of a system of mutual computer control?
Bilder / Images: Amy (FreeFunArt): Kontrollraum in einem Raumschiff / Control room in a spaceship (Pixabay); Mark Yeomans: Bildschirmwand / Monitor wall (Wikimedia Commons)