Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
In einem Videotelefonat tauschen Theo und Schorsch sich über ihre Erfahrungen mit dem Sprung durch die Zeit und ihrer Ankunft in der Zukunft aus.
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Donnerstag, 19. März 2521 (79/113), nach dem Videotelefonat
Tatsächlich – das Videotelefonat hat einwandfrei funktioniert! Man muss nur den Bildschirm aktivieren und dann in der Zahlenreihe oben links die Nummernfolge des Appartements antippen, mit dem man verbunden werden möchte – und schon kann das Bildschirmtelefonat beginnen. Möglicherweise findet das System auch selbsttätig die Appartementnummer heraus, wenn der Name des gewünschten Gesprächspartners angegeben wird. Aber das kann natürlich nur dann funktionieren, wenn die Namen in das System eingespeichert sind.
Schorsch grinste über das ganze Gesicht, als ich vor den Bildschirm trat. „Big Schorsch is watching you!“ begrüßte er mich.
Sein Sinn für Humor ist offenbar durch nichts abzutöten. Aufgrund der dreidimensionalen Qualität der Bildwiedergabe kam es mir fast so vor, als säße der leibhaftige Schorsch vor mir. Dennoch war mir unklar, warum er nicht – wie wir es vor dem Eintritt in die Ruhehäuser verabredet hatten – gleich persönlich bei mir vorbeigekommen war.
„Willst du nicht rüberkommen?“ fragte ich ihn daher.
„Klar, gerne – du kannst schon mal das Bier aus dem Kühlschrank holen.“ Schorsch ließ sein polterndes Lachen hören. „Nein, im Ernst“, sagte er dann, „ich würde ja gerne, aber meine Tür lässt sich nicht öffnen. Probier doch mal, ob sich dein Sesam eher vor dir auftut.“
Ich stellte mich vor die Glastür, musste aber feststellen, dass ich ebenso eingeschlossen war wie Schorsch. Bedeutete das etwa, dass wir nun doch aufgeflogen waren?
Mit einem mehr als mulmigen Gefühl setzte ich mich wieder vor den Bildschirm und stieß einen Stoßseufzer aus: „Die haben uns doch tatsächlich eingesperrt! Was sollen wir denn jetzt tun?“
„Ein bisschen quatschen und uns dann von den Schlafdämpfen süße Träume einhauchen lassen“, entgegnete Schorsch ungerührt.
Ich lächelte gequält. „Meinst du nicht, dass die uns statt der Schlafdämpfe ganz anderen Qualm schicken werden?“
„Na-na: Man soll doch nicht von sich auf andere schließen!“ spöttelte Schorsch. „Meiner Meinung nach ist das hier einfach so üblich, dass die Fenstertüren abends geschlossen bleiben. So sieht eben das Hochklappen der Bürgersteige in der Zukunft aus – oder siehst du noch irgendjemanden vor unserer Fensterfront rumdüsen?“
In der Tat war momentan draußen niemand zu sehen. Das hatte aber insofern nicht allzu viel zu bedeuten, als von unseren im Erdgeschoss gelegenen Appartements aus zwar der Platz, nicht aber die Fensterfront der Ruhehäuser überblickt werden konnte.
„Jetzt erzähl doch mal“, forderte ich ihn schließlich auf. „Warum warst du bei unserer missglückten Aktion in dem Bunker so plötzlich verschwunden? Und wie war deine Ankunft hier?“
Schorsch wurde etwas ernster. „Meine Ankunft hier dürfte nicht anders gewesen sein als deine: ein einziges großes Staunen! Nie hätte ich gedacht, dass diese komische Notfalluhr funktioniert. Ich war fest davon überzeugt, dass das wieder eine von Georges überkandidelten Spinnereien war. Als ich dann aber auf der Toilette von diesem Security-Pitbull angefallen wurde, habe ich mir gedacht: Was soll’s, du hast ja nichts zu verlieren! Tja, und kurz darauf bin ich dann durch die Zeit geschleudert worden und hier wieder zu mir gekommen. Aber das wirst du ja selbst auch erlebt haben.“
„Wie bist du eigentlich aufgeflogen?“ fragte ich nach. „Hinter der Toilettentür müsstest du doch in Sicherheit gewesen sein.“
„Für die modernen Radargeräte ist ein solches Türchen doch kein Hindernis!“ erklärte Schorsch achselzuckend. „Ich sage dir: Der Typ hat jede meiner Bewegungen durch die Tür hindurch verfolgt. Und als er gesehen hat, dass ich mit der Fernbedienung hantiere, hat er nicht lange gefackelt und die Tür eingetreten. Ich hatte keine Chance. Du wirst die Aktion dann wohl abgebrochen haben, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. „Dazu war es leider zu spät.“
„Verdammt!“ rief Schorsch aus. „Dann sind Lina und Yvonne ja ins offene Messer gelaufen!“
Unwillkürlich senkte ich die Stimme. „Bei Lina war es wie bei dir: Sie war einfach plötzlich verschwunden. Aber für Yvonne sieht es gar nicht gut aus. Sie hat offenbar eine Kugel abbekommen. Wie schwer sie verletzt ist, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht hat sie sich ja doch noch hierher retten können.“
Schorsch sah mich starr an. Durch die Tiefenwirkung des Bildschirms wirkten seine Augen unnatürlich groß. „So ein Mist!“ fluchte er. „Dabei haben wir doch alles so genau geplant!“
„Meiner Meinung nach wussten die vorher ganz genau, was wir vorhatten“, erklärte ich ihm. „Ich denke, dass Georges blonder Lustknabe ein doppeltes Spiel gespielt hat. Ich habe ihn jedenfalls in der Entourage des Präsidenten gesehen.“
Ein anschwellender Brummton drang aus Schorschs Appartement an mein Ohr. Unnachsichtig verlangte er nach Beachtung.
„Oh – Raubtierfütterung!“ witzelte Schorsch. „Da muss ich natürlich hin – der Brei ist einfach unwiderstehlich! Ich melde mich dann später wieder bei dir.“ Offenbar wurde der Fütterungsschlauch nicht in allen Appartements zur selben Zeit aktiviert.
Einen Augenblick später war der Bildschirm wieder ein unauffälliger Teil der Wand. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, alles nur geträumt zu haben – wobei ich mir unsicher war, ob nun das Gespräch mit Schorsch der Traum war oder die Umgebung, in der es stattgefunden hatte. Ich schloss kurz die Augen. Als ich sie wieder öffnete, ließen die gleißenden Lichtfluten keinen Zweifel daran, dass das, was ich sah, die Wirklichkeit war.

English Version
Big Shorsh is watching you!
In a video call, Theo and Shorsh talk about their experiences with their jump through time and their arrival in the future.
Thursday, March 19, 2521 (79/113), after the video call
The video call actually worked perfectly! You only have to activate the screen and then tap the number sequence of the apartment you want to be connected to in the number row at the top left – and the video call can begin. The system may also find out the room number automatically if you enter the name of the person you want to talk to. But of course this can only work if the names are stored in the system.
Shorsh grinned all over his face as I stepped in front of the screen. „Big Shorsh is watching you!“ he greeted me.
Apparently nothing can kill his sense of humour. Due to the three-dimensional quality of the image reproduction, it almost felt as if Shorsh was sitting in front of me in the flesh. Nevertheless, it was unclear to me why he had not – as we had arranged before entering the relaxation houses – simply come over to see me in person.
„Don’t you want to come over?“ I therefore asked him.
„Sure – just go ahead and get the beer from the fridge.“ Shorsh let out his rumbling laugh. „Seriously,“ he then said, „I’d love to, but my door won’t open. Just try it out and see if your palace gate is more likely to obey to you.“
I went to the glass door, but found that I was locked in as well as Shorsh. Did this mean that we were busted after all?
With a more than queasy feeling, I sat down in front of the screen again, sighing: „They’ve actually locked us in! What are we going to do now?
„Let’s just chat a bit and then be lulled into sweet dreams by the sleep vapours,“ Shorsh replied impassively.
I smiled in a pained way. „Don’t you think they’ll send us quite different vapours?“
„Well, well: Don’t judge others by yourself!“ sneered Shorsh. „In my opinion, it’s just common practice here to keep the door windows closed in the evening. That’s what rolling up the sidewalks looks like in the future – or do you see anyone else flying around outside our window front?“
In fact, there was no one to be seen outside at the moment. But that didn’t mean too much because our ground-floor apartments only overlooked the square and not the windows of the relaxation houses.
„Now tell me,“ I finally prompted him. „Why did you disappear so suddenly during our failed operation in the bunker? And how was your arrival here?“
Shorsh became a little more serious. „My arrival here probably wasn’t any different from yours: one big amazement! I couldn’t imagine that this strange emergency watch would work. I was firmly convinced that it was just another one of George’s extravagant fancies. But when I was attacked by this security pit bull in the toilet, I thought: What the hell, you’ve got nothing to lose! Well, and shortly afterwards I was hurled through time and only regained consiousness here. But you’ll have experienced that yourself.“
„How did you actually get busted?“ I asked. „After all, you should have been safe behind the toilet door.“
„For modern radar devices, a tiny door like that is no obstacle!“ Shorsh stated with a shrug. „I’m telling you, that guy was tracking my every move through that door. And when he saw me fiddling with the remote, he didn’t hesitate and kicked the door in. I didn’t stand a chance. I suppose you called off the operation then, didn’t you?“
I shook my head. „It was too late for that, unfortunately.“
„Dammit!“ exclaimed Shorsh. „Then Lina and Yvonne walked straight into the trap!“
Involuntarily I lowered my voice. „With Lina it was like with you: she just suddenly disappeared. But for Yvonne things don’t look good at all. She’s obviously been hit by a bullet. But I don’t know how badly she was injured. Maybe she was able to escape to this place after all.“
Shorsh looked at me fixedly. The depth effect of the screen made his eyes look unnaturally large. „What a mess!“ he cursed. „And yet we planned everything so carefully!“
„In my opinion, these people knew exactly what we were up to beforehand,“ I explained to him. „I think George’s blond boy toy was playing a double game. I certainly saw him in the president’s entourage.“
A swelling humming sound reached my ear from Shorsh’s room. Unyieldingly, it demanded attention.
„Yippee – predator feeding!“ quipped Shorsh. „I can’t miss that one, of course – the mush is just irresistible! I’ll get back to you later.“ Apparently the feeding hose was not activated at the same time in all the apartments.
A moment later, the screen was again an inconspicuous part of the wall. For a moment I had the impression that I had only dreamed it all. However, I was unsure whether the conversation with Shorsh was the dream or the environment in which it had taken place. I closed my eyes for a moment. When I opened them again, the glistening floods of light left no doubt that what I was seeing was reality.
Bilder / Images: Pete Linforth (TheDigitalArtist): 1. Big Brother (Pixabay), 2. Kamera-Überwachung / Camera surveillance (Pixabay)