Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Wozu braucht man noch einen Fernseher, wenn man große Gefühle auch ohne den Umweg über das Eintauchen in virtuelle Welten auslösen kann?
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Mittwoch, 18. März 2521, nachts
Diese antiseptische, vollautomatische, alles unter Kontrolle haltende Umgebung erzeugt eine unbestimmte Wut in mir. Am liebsten würde ich laut schreien, alles in Stücke hauen, die kratzerlosen Fensterscheiben einschlagen!
Ob dann wohl doch die unsichtbaren Kontrollinstanzen als leibhaftige Ordnungsorgane in Erscheinung treten würden? Fast stelle ich mir das wie eine Befreiung vor: Es wäre immerhin konkret, etwas Greifbares, Nachvollziehbares! So habe ich die ganze Zeit über das Gefühl, beobachtet zu werden, ohne dass in dem Raum auch nur eine einzige Kamera zu sehen ist.
Natürlich, das Kameraauge könnte beispielsweise in dem überdimensionalen Bildschirm versteckt sein. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die Kontrolle hier nicht visuell, sondern eher haptisch oder sogar atmosphärisch, über biochemische Reaktionen meines Körpers mit der Umgebungsluft, funktioniert. Ich habe den Eindruck, dass nicht nur mein intelligentes Möbelstück, sondern der ganze Raum lebt, dass er in jeder Sekunde, in der ich hier verweile, meine Körperfunktionen misst, aufzeichnet und entsprechend darauf reagiert, als wäre ich in ein medizinisches Gerät eingesperrt.
Zum Beispiel die Wände: Eben, als mein Adrenalinspiegel offenbar angestiegen ist, haben sie plötzlich eine hellblaue Färbung angenommen, die wohl beruhigend auf mich wirken sollte – was, wenn ich ehrlich bin, auch tatsächlich funktioniert hat.
Überhaupt scheint es mir nicht ganz passend zu sein, einfach nur von „Wänden“ zu sprechen. Zwar ist der Begriff insofern zutreffend, als die „Wände“ auch hier die Funktion haben, das Zimmer von den Nachbarräumen abzutrennen. Aber schon das Material entspricht nicht ganz den Assoziationen, die der Begriff normalerweise – das heißt: unter Zugrundelegung meines Verständnisses von „Normalität“ – auslösen würde. Es handelt sich wohl um eine Art von Kunststoff, der bei Berührung leicht nachgibt. Wenn ich sie berühre, stellt sich eher der Eindruck einer gepolsterten Rückenlehne als der einer Wand ein.
Vor allem aber haben die Wände eine ähnliche Wirkung wie Hologramme: Statt die Begrenzung, der sie de facto dienen, hervorzuheben, öffnen sie den Blick in scheinbar unendliche Weiten. Beim Eintritt in das Appartement war es mir daher zunächst, als würde ich nicht einen einzelnen Raum, sondern eine ganze Zimmerflucht betreten. Dabei ist der Raum in Wirklichkeit kaum größer als die Zellen im Kloster der Dunkelmänner.
Bilder zeigen die Wände allerdings keine – der Eindruck einer Erweiterung des Raumes entsteht allein durch ein ständig wechselndes Farbenspiel. Für die Befriedigung des Bedürfnisses nach virtuellen Bildern ist offenbar der Bildschirm zuständig. Den habe ich allerdings bislang lieber nicht angerührt. Ich habe zu große Angst, dass ich durch das Anfassen der rot markierten Fläche an seinem unteren Rand vielleicht doch eine in den Bildschirm integrierte Kamera aktivieren könnte – samt für mich fataler Identitätsüberprüfung.
Wahrscheinlich ist diese Angst aber unbegründet – schließlich habe ich auch alle anderen Utensilien in dem Raum berührt und benutzt, ohne dass irgendetwas passiert wäre. Außerdem scheint es hier allem Anschein nach viel raffiniertere Formen der Kontrolle zu geben.
Im Nachhinein betrachtet, hätte ich mich wahrscheinlich vor der Hirnmaske, die über dem Möbelstück hängt, viel eher in Acht nehmen müssen. Von ihrem äußeren Erscheinungsbild her wirkte sie jedoch viel harmloser als der riesenhafte Bildschirm. Sie ist durch ein elastisches Drahtseil mit der Decke verbunden und sieht aus wie eine Kombination aus Fahrradhelm und Schlafbrille. Dies weckte in mir die Hoffnung, wenigstens für ein paar Minuten dem gleißenden Licht entgehen zu können.
Kaum hatte ich die Maske aber aufgesetzt, da begann sie sich ebenso wie mein schlauer Sessel plötzlich mit Leben zu füllen. Wie eine Friseuse, die einem Kunden das Haar wäscht, tastete sie meinen Kopf ab – so schien es mir zumindest. Dies dauerte allerdings nur wenige Sekunden. Dann legte die Maske sich fester um meinen Kopf, während ich gleichzeitig das Gefühl hatte, als senkten sich von mehreren Seiten unsichtbare Hände in mein Gehirn, um es zu massieren.
Ich muss zugeben, dass mir diese Art von Massage nicht unangenehm war – auch wenn ich, außer im Schlaf, noch nie zuvor so vollständig die Kontrolle über mein eigenes Denken und Empfinden verloren habe. Vor allem die Stimulation, die sich von der Stirnmitte und dem vorderen Teil meiner Schädeldecke auf mein Gehirn übertrug, lieferte mich vollständig den elektrischen Strömen aus, die offenbar von der Hirnmaske auf mich übergingen.
Auch die an den Schläfen und oberhalb des Nackens eingeleiteten Ströme hatten eine starke Wirkung auf mich. Jedenfalls bildete sich rasch ein ganzes Netz von miteinander verbundenen Strömen, in dem ich mich ohne jede Möglichkeit der Gegenwehr verfing. Durch die Art der Hirnmassage war jeder Gedanke an Widerstand ausgeschlossen.
Wie lange ich so dagesessen habe, kann ich ebenso wenig sagen, wie sich nach dem Aufwachen die Dauer eines Traumes bestimmen lässt. Ich konnte mich hinterher auch an nichts Konkretes erinnern, obwohl ich die ganze Zeit über das Gefühl hatte, nicht nur zu sehen und zu hören, sondern auch zu riechen und zu schmecken.
Gerade die Geruchsempfindungen waren so intensiv, dass sie auch dann nicht aufhörten, als die Ströme plötzlich abebbten – was wohl automatisch nach einer genau festgelegten Zeit geschieht. Aber sie waren nur mit unbestimmten Erinnerungen verbunden, die sich – so sehr ich es auch versuchte – einfach nicht fassen ließen.
Die Bilder, die ich unter dem Einfluss der Hirnmaske gesehen hatte, verflüchtigten sich noch viel schneller. Sie hatten sich schon in nichts aufgelöst, als ich die Maske wieder abnahm und an ihren angestammten Platz zurückschnellen ließ. Was zurückblieb, war ein Gefühl tiefer Entspannung, aber auch von Erschöpfung, wie nach einer Kombination aus Meditation und Marathonlauf.
Ich kann nicht mehr … Mir fallen die Augen ja schon während des Schreibens zu! Ich fürchte, die schlaffördernden Dämpfe sind doch in die Nasszelle eingedrungen. Oder bin ich einfach nur müde von den vielen neuen Eindrücken, die auf mich eingeströmt sind? Wie auch immer, ich muss jetzt jedenfalls schlafen. Hoffentlich schaffe ich es noch bis zu meinem intelligenten Sessel – der schon so schlau war, sich für mich in eine Liege zu verwandeln.
English Version
Brain Masks and Smart Walls
Who needs a television set when you can trigger powerful emotions directly, without any immersion in virtual worlds?
Wednesday, March 18, 2521, at night
This antiseptic, fully automatic, all-controlling environment creates a vague rage in me. I feel the strongest urge to scream out loud, to smash everything to pieces, to shatter the scratchless window panes!
I wonder if the invisible control authorities would then appear in their physical manifestation. I almost imagine this as a liberation: After all, it would be concrete, something tangible, traceable! As it is, I have the feeling of being observed all the time, without a single camera being visible in the room.
Of course, the camera eye could be hidden in the oversized screen, for example. But somehow I can’t shake the feeling that the surveillance here is not visual, but rather haptic or even atmospheric, via biochemical reactions of my body with the surrounding air. I have the impression that not only my intelligent piece of furniture but the whole room is alive, that it measures and records my bodily functions every second I spend here and reacts accordingly, as if I were locked in a medical device.
Let’s take the walls, for example: just now, when my adrenaline level had apparently risen, they suddenly took on a light blue hue that was probably supposed to have a calming effect on me – which, to be honest, actually worked.
Therefore, it does not seem appropriate to me to simply speak of „walls“. It is true that the term is accurate insofar as the „walls“ have the function of separating the room from the neighbouring rooms. But the material itself does not correspond to the associations that the term would normally trigger – that is: based on my understanding of „normality“. It is probably a kind of plastic that can slightly be pressed in. When I touched it, I had more the impression of a padded backrest than that of a wall.
Above all, the walls have an effect similar to holograms. Instead of highlighting the boundary they serve, they open up the view into seemingly infinite expanses. On entering the flat, I therefore initially felt as if I weren’t stepping into a single room, but into an entire suite of rooms. Yet in reality the room is hardly larger than the cells in the monastery of the Disciples of Darkness.
However, the walls do not show any pictures – the impression of extension is created solely by a constantly changing play of colours. Satisfying the need for virtual images is apparently the job of the huge screen – which so far I have preferred not to touch. I fear that by touching the red area at the bottom I might activate a camera integrated into the screen – including an identity check that would be fatal for me.
Probably this fear is unfounded, though. After all, I touched and used all the other utensils in the room without anything happening. Besides, it seems that they dispose of much more sophisticated forms of control here.
In retrospect, I rather should have been more cautious about the brain mask hanging above the piece of furniture. But compared to the huge screen, it seemed harmless. It is connected to the ceiling by an elastic wire rope and looks like a combination of a bicycle helmet and sleeping goggles. So I hoped to escape the glaring light with it for at least a few minutes.
But no sooner had I put on the mask than it suddenly began to fill with life, just as my smart armchair had done before. Like a barber washing a customer’s hair, it palpated my head – at least that’s how it seemed to me. This, however, only lasted a few seconds. Then the mask tightened around my head, while at the same time I felt as if invisible hands were descending into my brain from several sides to massage it.
I have to admit that this kind of massage was not unpleasant for me – even though, except when asleep, I had never before lost control of my own thinking and sensations so completely. Especially the stimulation that was transferred to my brain from the center of my forehead and the front part of my skull completely surrendered me to the electric currents that apparently passed from the brain mask to me.
The currents introduced at the temples and above the neck also had a strong effect on me. In any case, a whole network of interconnected currents quickly developed, in which I became entangled without any possibility of resistance. Due to the nature of the brain massage, even the thought of resistance was out of the question.
How long I sat there like that I cannot say. Afterwards it was like waking up from a dream – of which you also never know how long it lasted. I couldn’t remember anything concrete afterwards either, although the whole time I had the feeling not only of seeing and hearing, but also of smelling and tasting intensely.
The olfactory sensations in particular were so intense that they did not stop even when the currents suddenly died down – which probably happens automatically after a precisely defined time. But they were only associated with vague memories that I – try as I might – just could not grasp.
The images I had seen under the influence of the brain mask evaporated even more quickly. They had already dissolved into nothing when I took the mask off again and let it snap back into its usual place. What remained was a feeling of deep relaxation, but also of exhaustion, as if after a combination of meditation and marathon race.
I’m running out of strength … My eyes are even closing as I write! I’m afraid the sleep-inducing fumes have penetrated the wet cell. Or am I just tired from all the new impressions I have been exposed to? Whatever the case, I have to sleep now. Hopefully I’ll make it to my smart armchair – which has already been clever enough to turn into a lounger for me.
Bilder / Images: Pete Linforth (TheDigitalArtist): 1. Futuristische Phantasie / Futuristic fantasy (Pixabay); 2. Das elektrische Gehirn / The electric brain (Pixabay)
Jakob
Ich glaube, genau da führt es hin, wenn wir die Effizienz- und Digitalisierungstendenzen auf die Spitze treiben. Alle leben sauber und satt. Es gibt aber weder Poesie, Originalität noch „Verrücktheiten“. Die Wohnungen der jüngeren, urbanen Bevölkerung zeigen jetzt schon einen gewissen Konformismus. Grünanlagen und Plätze in den Städten auch. Interessante, aber auch abschreckende Beschreibung im Text!- Danke für die Lesung.
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