Hürdenreicher Start ins neue Leben / Obstacles on the Way to the New Life

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Der neue Tag hält einige Überraschungen für Theo parat – obwohl in seiner neuen Zeit ein Tag wie der andere zu sein scheint.

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Donnerstag, 19. März 2521

Ein anderes Appartement – aber alles sieht genauso aus wie gestern. Die hologrammartigen Wände, der überdimensionale, in die Wand eingelassene Bildschirm, das intelligente Möbelstück, die Hirnmaske: Nichts scheint verändert, und doch weiß ich ganz genau, dass die Leuchttafel unter der Riesensonde heute eine andere Nummer angezeigt hat als gestern!
Oder irre ich mich vielleicht doch? Fast hoffe ich es: Der Gedanke, dass die Menschen in diesem Endlos-Hochhaus senkrecht aufgereiht sitzen wie Vögel in einer riesenhaften Voliere, ein jeder als Klon des anderen, ist einfach zu erschreckend.
Habe ich gerade „Vögel“ geschrieben? Ein unpassender Vergleich – nichts ist dieser toten Umgebung fremder als ausgerechnet Vögel!
Wo soll das nur hinführen? Ich kann doch unmöglich in dieser Zeit weiterleben, als wäre nichts geschehen! Andererseits – gesetzt den Fall, es gelänge mir, in meine Zeit zurückzukehren: Wäre es dann überhaupt, von jetzt aus betrachtet, noch sinnvoll, an den Zielen von damals festzuhalten? Erscheinen sie nicht hinfällig angesichts der weiteren Entwicklung, deren Resultate ich hier begutachten kann? Konkreter gefragt: Wäre die Welt heute eine andere, wenn unsere Aktion geglückt wäre?
Was ich trotz allem nicht verstehe, ist diese Angst, die ich die ganze Zeit über empfinde. Es hat sich doch jetzt ganz klar herausgestellt, dass ich nichts zu befürchten habe! Das Leben hier ist zwar ganz anders, als ich es gewohnt bin, aber insgesamt sind die Menschen der Zukunft wohl viel friedlicher als zu „meiner“ Zeit.
Selbst Schattenlosigkeit scheint sogar eher toleriert zu werden. Zwar wird sie offenkundig noch immer als Makel angesehen und zieht die Einbuße bestimmter Vergünstigungen nach sich. Andererseits scheinen Schattenlose hier nicht so vollständig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden wie in der Welt, aus der ich komme. Wovor habe ich also Angst?

Unter den gegebenen Umständen war das heute ein recht guter Tag für mich – „gut“ in dem Sinne, dass ich keine größeren Fehler gemacht habe und die peinlichen Situationen, in die ich leicht hätte hineingeraten können, weitgehend vermieden habe. Das fing gleich morgens an – soweit man hier überhaupt noch von „morgens“ und „abends“ sprechen kann.
Mir war völlig unklar, wie ich den Tag verbringen sollte. Außerdem ärgerte es mich, dass mein Fress-Schlauch nicht bereit war, mir etwas Frühstückspampe einzuflößen. In der Situation hätte ich sehr leicht einen Fehler begehen können. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn ich nach dem Aufstehen nicht vor lauter Langeweile den Gummianzug anprobiert hätte, der neben meinem Allzweckmöbel für mich bereitlag?
Der Anzug erwies sich als ausgesprochen bequem. Er besteht aus einer Art Stretchmaterial und verfügt innen über eine Thermofunktion, wodurch er einem – ungeachtet der Strampelanzug-Ästhetik, die er von außen vermittelt – wie eine zweite Haut anliegt. Es hat aber etwas gedauert, bis ich mich aus meinen Kleidern geschält und den Anzug übergestreift hatte. Später hätte ich dafür wohl weder genug Zeit noch die nötige Ruhe gehabt.
Das heißt: Wahrscheinlich hätte die Zeit gereicht, wenn ich das Alarmsignal, das kurz davor zu hören gewesen war, richtig gedeutet hätte. Dieses versetzte mich jedoch nur in Panik. Das war’s, dachte ich, jetzt bist du doch aufgeflogen!
Und was jetzt? Wie sollte ich nun den Kopf noch aus der Schlinge ziehen? Einem spontanen Impuls folgend, stürzte ich zu der Nasszelle, um mich darin zu verstecken. Das war zwar insofern verständlich, als das Fallbeil vor der Fensterfront schon vor geraumer Zeit wieder hochgezogen worden war. Dadurch war jeder Winkel des Raumes von der Fenstertür aus sofort einsehbar. Einzige Ausnahme: die Nasszelle – oder besser: Nasskabine! Dennoch erwies sich mein instinktives Handeln als fatal, da ich so nicht gleich bemerkte, was vor sich ging.
Kurz nachdem das Alarmsignal verklungen war, hörte ich plötzlich ein leichtes Poltern, gefolgt von einem Zischen, dessen Herkunft ich nicht recht orten konnte. Als ich mich nach einigem Zögern schließlich dazu durchrang, die Kabinentür zu öffnen, waren das Möbelstück und die Hirnmaske verschwunden. Ich nehme an, dass sie sich zusammenfalten lassen und bei Bedarf in Boden bzw. Decke des Zimmers eingezogen werden.
Der Bildschirm war von einer schützenden Metallplatte verdeckt. Von den Wänden und der Decke des Raumes wurde wie bei einer Sprinkleranlage eine weiße Flüssigkeit in den Raum gespritzt, die in ihrer Reinigungswut bereits ein paar ansehnliche Pfützen auf dem Boden gebildet hatte.
Ich schaffte es gerade noch, nach der bereits halb eingeweichten Kutte zu greifen und zur Fenstertür zu stürzen, die sich automatisch vor mir auftat. Es war wirklich allerhöchste Zeit! Wenige Sekunden später wäre der Bewegungsmelder wahrscheinlich blockiert gewesen. Ich wäre in dem Raum gefangen gewesen und von der milchigen Reinigungslösung durchnässt worden – was meiner Gesundheit mit Sicherheit nicht sehr zuträglich gewesen wäre.
Die anderen Schattenlosen hatten ihre Appartements offenbar schon lange vor mir verlassen – jedenfalls war auf dem grell erleuchteten Platz keiner von ihnen zu sehen. Jetzt bedauerte ich natürlich, das Appartement nicht früher verlassen zu haben. Hätte ich nicht alles daransetzen müssen, meine Mit-Schattenlosen abzupassen, um mich unter sie mischen zu können, so wie am Abend zuvor? Jetzt wusste ich beim besten Willen nicht, was ich tun sollte!
Eine Zeit lang stand ich unschlüssig herum. Ich traute mich nicht, allein über den breiten Platz zu gehen, aber der Weg in mein Appartement war mir nun auch versperrt. Da sprach mich plötzlich jemand von hinten mit einer auffallend tiefen, harsch klingenden Stimme an: „Bitte mal den Pass vorzeigen, aber ’n bisschen dalli, wenn ich bitten darf!“

Teil 1

Teil 2

English Version

Obstacles on the Way to the New Life

The new day has a few surprises in store for Theo – although in his new time one day seems to be like any other.

Thursday, March 19, 2521

A different apartment – but everything looks the same as yesterday. The hologram-like walls, the oversized screen embedded in the wall, the smart piece of furniture, the brain mask: Nothing seems to have changed, and yet I know very well that the light board under the giant probe displayed a different number today than it did yesterday!
Or am I wrong after all? I almost hope so: The thought that the people in this endless skyscraper sit lined up vertically like birds in a giant aviary, each one a clone of the other, is simply too frightening.
Did I just write „birds“? An inappropriate comparison – nothing is more alien to this dead environment than birds of all things!
How is this whole thing supposed to go on? I can’t possibly live on in this time as if nothing had happened! On the other hand – provided that I succeeded in returning to my time: Would it then still make sense at all, seen from now, to hold on to the goals of that time? Are they not obsolete in view of the further development, the results of which I can examine here? More concretely, would the world be a different place today if our action had succeeded?
What I do not understand, despite everything, is this fear that I feel all the time. After all, it has now become quite clear that there is no reason for me to be scared! The life here is quite different than the one I am used to, but on the whole, the people of the future are probably much more peaceful than in „my“ time.
Even shadowlessness seems to be more tolerated here. It is true that it is obviously still considered a flaw, and that it entails the loss of certain benefits. On the other hand, shadowless people do not seem to be as completely excluded from the community here as they are in the world I come from. So what am I afraid of?

Under the given circumstances, today was a fairly good day for me – „good“ in the sense that I didn’t make any great mistakes and avoided most of the embarrassing situations I could have gotten into. This was already the case in the morning – if you can call the different times of the day here „morning“ and „evening“ at all.
ActualIy, I was completely clueless about how I was supposed to spend the day. Moreover, it annoyed me that my feeding tube wasn’t willing to grant me some breakfast mush. In that situation, I could quite easily have made a mistake. And who knows what would have happened if, out of sheer boredom, I hadn’t tried on the rubber suit lying next to my all-purpose furniture after getting up?
The suit proved to be extremely comfortable. It’s made of a kind of stretch material and has a thermal function on the inside, which means that it fits like a second skin – despite the romper suit look it gives on the outside. It took me a while to peel myself out of my clothes and slip the suit on, though. If I had waited any longer, I might have run out of time.
Actually, there probably would have been enough time if I had correctly interpreted the alarm signal that had been heard shortly before. However, this only caused me to panic. That’s it, I thought, now you’re busted after all!
How could I pull my head out of the noose now? Following a spontaneous impulse, I rushed to the wet room to hide in it. This was understandable insofar as the portcullis in front of the window front had been pulled up some time ago. As a result, every corner of the room was immediately visible from the window door. The only exception: the wet cell – or rather: wet cubicle! Nevertheless, my instinctive action proved fatal, as it prevented me from immediately noticing what was going on. .
Shortly after the alarm signal faded away, I suddenly heard a slight rumbling, followed by a hissing sound, the origin of which I couldn’t quite pinpoint. When, after some hesitation, I finally got myself to open the cabin door, the piece of furniture and the brain mask had disappeared. I assume they folded up and were retracted into the floor and ceiling of the room.
The screen was covered by a protective metal plate. A white liquid was sprayed into the room from the walls and ceiling of the room, like in a sprinkler system. In its cleaning frenzy, it had already formed a few respectable puddles on the floor.
I just managed to grab the already half-soaked robe and rush to the window door, which automatically opened in front of me. It was really high time! A few seconds later, the motion detector would probably have been blocked. I would have been trapped in the room and soaked by the milky cleaning solution – which would certainly not have been very beneficial to my health.
The other shadowless ones had obviously left their apartments long before me – at least none of them could be seen in the brightly lit square. Now, of course, I regretted not having left the apartment earlier. Shouldn’t I have made every effort to wait for my shadowless soulmates and to join them, as I had done the night before? Now I did not know for the life of me what I should do!
For a while I stood around indecisively. I didn’t dare walk across the wide square alone, but the way to my apartment was now blocked as well. Just then, someone suddenly spoke to me from behind in a remarkably deep, harsh-sounding voice: „Please show me your passport, but be quick about it, otherwise …“

Part 1

Part 2

Bilder / Images: Pete Linforth (TheDigitalArtist): Verzweiflung / Despair (Pixabay); FaceMePLS: Car Wash (Wikimedia Commons)

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