Tango und Fado

Mit übersetzten Liedern von Enrique Santos Discépolo und Rodrigo Leão

Tanz aus der Krise, Teil 6  der musikalischen Sommerreise 2020

Ja, der Tango erzählt viel von der Liebe. Als „trauriger Gedanke, den man tanzen kann“ (Enrique Santos Discépolo), sagt er jedoch auch viel über andere (unerfüllte) Träume aus. Hierin trifft er sich auch mit dem portugiesischen Fado.
 
Der Tango als Tanz der Liebe
Die Geburt des Tangos
Getanzte Sehnsucht
Tango-Lieder
Der Fado: ein Seelenverwandter des Tangos
Zwischen Tango und Fado: Rodrigo Leãos Lied Pasión
Lieder und Übersetzungen
Links

Der Tango als Tanz der Liebe

Tango_BuenosAiresDer Tango hat etwas Janusköpfiges, Vexierbildhaftes an sich. Schaut man auf die Tanzenden, so strahlt er eine Aura vollkommenen Glücks und erfüllter Leidenschaft aus. Bei kaum einem anderen Tanz kommen die Partner einander so nahe, bei kaum einem anderen Tanz verschmelzen sie so sehr miteinander. Kein anderer Tanz reicht in ähnlicher Weise heran an den Traum der Liebenden, ganz im anderen zu versinken.
Konzentriert man sich jedoch auf die Musik, so stellt sich – zumindest bei der Ursprungsform des „Tango Argentino“ – oft eher der Eindruck einer gewissen Melancholie ein. Auch die Texte erzählen auffallend häufig von einer verlorenen oder unerfüllten Liebe. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Ein Grund für die Diskrepanz zwischen Tanz und Musik könnte schlicht die Vergänglichkeit der Liebe sein. Dabei ist nicht nur an die Eigenart der Liebe zu denken, sich nach einer Phase glühender Verliebtheit rasch abzukühlen. Vielmehr bleibt gerade auch bei einer erfüllten Liebe die tiefere Sehnsucht der Liebenden, das völlige Einswerden mit dem anderen, unerfüllbar. Eine Vereinigung ist immer nur für wenige Augenblicke möglich, in einem ekstatischen Rausch, der die Illusion völliger Entgrenzung mit sich bringt. Wer daraus erwacht, sieht sich umso unerbittlicher mit seiner unaufhebbaren Vereinzelung konfrontiert.
So spiegelt sich gerade in der absoluten, von unbedingter Hingabe gekennzeichneten Liebe am Ende nur die unaufhebbare Vergänglichkeit allen Seins wider. Weil aber die Liebe das höchste Gut ist, das im Leben erlangt werden kann, ist die Erfahrung der Vergänglichkeit hier besonders schmerzlich.
Allerdings sind diese Erfahrungen ganz allgemein charakteristisch für die Liebe. Es stellt sich deshalb die Frage, warum ausgerechnet der Tango die Widersprüchlichkeit der Liebeserfahrung in sich zum Ausdruck bringt. Hier kommen nun die Entstehungsbedingungen dieses Tanzes ins Spiel.

Die Geburt des Tangos

Es gibt eine europäische und eine südamerikanische Begriffsgeschichte des Tangos. Beide verweisen auf je eigene Weise auf seinen ekstatisch-leidenschaftlichen Kern.
Laut europäischer Etymologie geht das Wort „Tango“ auf das spanische „ser tangente a“ bzw. das lateinische „tangere“ (berühren) zurück (erste Person Singular: „tango“). Die südamerikanische Begriffsgeschichte verweist auf rituelle Tänze der aus Afrika stammenden, zur Sklaverei gezwungenen BevölkerungsschichtenCandombe-Figari-1921. Das Wort   „Tango“ könnte dabei als Abschleifung aus „tambor“ (Trommel) entstanden sein oder aus einer Einleitungsformel zum „Candombe“, die „a tocá tango“ gelautet haben soll.
Der letztgenannte etymologische Ansatz verbindet die Begriffs- bereits mit der Musikgeschichte. Denn beim Candombe handelte es sich um kultische Tanzzeremonien, die sich bei ihrer Übertragung in den kulturellen Kontext Südamerikas nach und nach zu einer Art Karneval abgeflacht hatten. Nachdem es dabei immer wieder zu Ausschreitungen gekommen war und die Behörden entsprechende Veranstaltungen verboten hatten, begannen die Anhänger des Candombe sich abseits der Öffentlichkeit in speziellen Etablissements zu treffen, wo sie ungestört ihrem Vergnügen nachgehen konnten. Diese Etablissements gelten als Wiege des argentinischen Tangos.
Bandoneon-curvedAllerdings lässt sich der Tango keineswegs auf eine einzige Einflussrichtung zurückführen. Entscheidend für ihn ist vielmehr gerade die besondere Vielfalt der Einflüsse, die bei seiner Entstehung zusammengewirkt haben. So sind in den Tango sowohl Elemente des deutschen Walzers als auch der böhmischen Polka oder der polnischen Mazurka eingeflossen. Auch das Bandoneon – jene spezielle Art von Harmonika, die später so charakteristisch für den Tango werden sollte – hat der Tango aus Deutschland geerbt, wo das „Bandonion“ in den 1830er Jahren von Heinrich Band entwickelt worden war.
Die Vielfalt der Einflüsse, die auf den Tango eingewirkt haben, verweist wiederum auf die sozialen Hintergründe seiner Entstehung. Entwickelt hat er sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Hafenvierteln der Städte am Río de la Plata. Hier, wo die Flüsse Paraná und Uruguay sich in einem gewaltigen Mündungstrichter in den Atlantischen Ozean ergießen, trafen damals zahlreiche Migranten aus Europa ein, die von dem Einwanderungsprogramm der argentinischen Regierung angezogen worden waren.
Die Hoffnungen der Neuankömmlinge, in ihrer neuen Heimat ihrem sozialen Elend entgehen zu können, erfüllten sich allerdings nicht. Vielmehr mussten sie sich auch dort wieder am unteren Ende der sozialen Leiter einreihen. Verschärft wurde ihre prekäre Situation durch eine gescheiterte Landreform, die auch zahlreiche verarmte Bauern in die Städte trieb.
Erschwerend kam hinzu, dass es sich sowohl bei den Binnenmigranten als auch bei den Immigranten aus Übersee größtenteils um Männer handelte. Der Mädchenhandel, mit dem kriminelle Netzwerke auf den daraus resultierenden Frauenmangel reagierten, führte nur zu einer Ausweitung der Prostitution. Familiengründungen wurden dadurch nicht gefördert.

Getanzte Sehnsucht

 Dem Tango kam vor diesem Hintergrund eine Ventilfunktion zu: Für ein paar kurze Augenblicke ermöglichte er die Illusion jenes Glücks, das einem im Alltag verwehrt war. „Glück“ bedeutete dabei nicht nur Erfüllung in der Liebe. Vielmehr spielte hier auch der nostalgische Gedanke an die unerreichbar gewordene alte Heimat eine Rolle, die in der Erinnerung als verlorenes Paradies erschien.
Gleichzeitig war der Tango mit seiner melancholischen Grundierung aber auchDiscepolo Ausdruck des sozialen Elends, der Unerfüllbarkeit der Träume, mit denen die Migranten in ihr neues Leben aufgebrochen waren. Anders als die beschwingtere Milonga war der Tango von Anfang an auf Moll gestimmt. Zwar ähneln sich beide in Schrittfolge und Tanzfiguren. Auch stützten sich beide Tänze in ihrer Aufführungspraxis auf die Payada-Kultur der Gauchos, die stark von der Improvisationskunst der Musizierenden geprägt war. Nur für den Tango gilt jedoch, was der Komponist und Dramatiker Enrique Santos Discépolo einmal über ihn gesagt hat: dass er ein „trauriger Gedanke“ ist, „den man tanzen kann“.
In der ersten, von 1880 bis 1917 datierenden Phase des Tangos, der so genannten „Guardia Vieja“ (Alte Mode/Garde), wurde dieser Gedanke allerdings fast ausschließlich über Musik und Tanz zum Ausdruck gebracht. Erst danach, in der Zeit der „Guardia Nueva“, etablierten  sich auch Lieder als eigenständige Tango-Kunstform.
Mit dieser Entwicklung gingen weitere bedeutsame Änderungen einher. Vor allem rekrutierten sich die wichtigsten Tango-Künstler nun überwiegend aus den Kreisen der professionellen Musiker. Zuvor hatten sie größtenteils der sozialen Unterschicht der Städte entstammt, wo einzelne musikalisch Begabte damit begonnen hatten, sich mit dem Aufspielen zum Tanz ein paar zusätzliche Pesos zu verdienen.
Durch die Professionalisierung des Tango-Betriebs wurde dieser jetzt auch für weitere Bevölkerungskreise attraktiv. So wurde aus einem Sedativum für die Ausgegrenzten allmählich ein Rauschmittel des ganzen Volkes.

Tango-Lieder

Seine Herkunft aus der Schattenseite der Gesellschaft konnte der Tango allerdings auch nach seinem Aufstieg zu einem Tanzvergnügen für alle nicht verbergen. Nicht nur waren die Texte der frühen Tango-Lieder umgangssprachlich geprägt und von Elementen des Lunfardo, der in Argentinien und Uruguay gebräuchlichen Gaunersprache, durchsetzt. Auch das Markenzeichen des Tangos – die unerfüllte und unerfüllbare Sehnsucht – blieb erhalten.
Dies äußerte sich zunächst, als Reminiszenz an den Frauenmangel der frühen Tango-Jahre, in der überwiegend männlichen Klage über eine verlorene oder enttäuschte Liebe. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist Carlos Gardels in Lunfardo verfasstes Lied Mi noche triste (Meine traurige Nacht). Die erste Strophe lautet in deutscher Übersetzung:

Mein Schatz, wie schmählich hast du mich verlassen
im schönsten Augenblick meines Lebens.
Wie hast du meine Seele verwundet
und einen Stachel in mein Herz gebohrt,
obwohl du wusstest, dass ich dich liebe,
dass du meine ganze Freude warst
und mein leuchtender Traum.
Für mich kann es keinen Trost geben,
und deshalb ziehe ich mich in mich selbst zurück,
um meine Liebe zu vergessen.

GardelDas Erscheinungsjahr des Liedes (1917) markiert zugleich den Beginn der zweiten Phase des Tango Argentino, der „Guardie Nueva“. Die besondere Bedeutung Gardels für den Tango zeigt sich zudem in der landesweiten Trauer, die sein Unfalltod im Jahr 1935 auslöste.
Daneben wurde das Leiden an dem unausgefüllten Leben nun aber auch häufiger auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückgeführt, auf denen dieses Leid beruhte. Mitunter wurden die Texte dabei explizit sozialkritisch.
Ein Beispiel sowohl für diese gesellschaftskritische Tendenz als auch für die umgangssprachliche Prägung des Gesangs ist Enrique Santos Discépolos Lied Cambalache (Trödelladen/Gemauschel). Es wurde 1934 für den Tango-Film El alma de bandoneón (Die Seele des Bandoneon) geschrieben, der ein Jahr darauf in die Kinos kam. Zeitweise war es in Argentinien verboten.
In dem Lied wird die Aussichtslosigkeit, das Gefängnis des sozialen Elends zu verlassen, auf den Verfall aller moralischen Werte zurückgeführt. Diejenigen, die sich am unteren Ende der sozialen Leiter wiederfinden, stehen vor diesem Hintergrund vor einer düsteren Wahl: Entweder sie legen ebenfalls alle moralischen Skrupel ab – und laufen dann Gefahr, von den ebenso skrupellosen, aber ungleich mächtigeren Herrschenden ins Gefängnis geworfen zu werden. Oder sie behalten ihren moralischen Kompass bei und finden sich damit ab, weiter von der skrupellosen Elite ausgebeutet zu werden.

Der Fado: ein Seelenverwandter des Tangos

Anders als im Falle des Tangos handelt es sich beim portugiesischen Fado zwar um ein stärker auf den Gesang fokussiertes Kulturgut. In Grundstimmung und Entstehungsgeschichte ergeben sich zwischen beiden jedoch auffallende Parallelen. So trifft sich der Fado in seiner Eigenart, die Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem zum Ausdruck zu bringen, mit dem Tango. Zudem hat auch der Fado eine soziale Komponente und ist teilweise unter ähnlichen Bedingungen entstanden wie der Tango.
Im Kern dient der Fado dem Ausdruck und der musikalischen Inszenierung derOld_Portuguese_Tiles_O_Fado_(2861589727) „saudade“ – eines Weltschmerzes, der sich aus der Sehnsucht nach dem verlorenen Glück speist, bei gleichzeitigem Bewusstsein von der Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht: Statt sich dem vergangenen Glück anzunähern, schreitet der Mensch unaufhaltsam dem eigenen Untergang entgegen. Letztlich drückt sich im Fado damit das unabwendbare Schicksal des Menschen, sein Zum-Tode-Sein, aus. Dem entspricht auch die Verwandtschaft des Begriffs mit dem lateinischen „fatum“ („Schicksal“).
Außer dieser allgemein-philosophischen Ebene gibt es im Fado allerdings auch eine Nebenlinie, bei der sich die Melancholie aus dem konkreten sozialen Elend herleitet. Manchen Musikhistorikern zufolge, die den Fado aus der Musik der einheimischen Bevölkerung in den ehemaligen portugiesischen Kolonien – insbesondere der Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen brasilianischen Liedform der Modinha sowie den Tänzen Fofa und Lundum – herleiten, sind dies sogar die eigentlichen Wurzeln des Fados. Hierfür spricht, dass der Fado seine Erfolgsgeschichte in Portugal im 19. Jahrhundert als Klagelied der Armen und Ausgegrenzten begann. Bezeichnenderweise wurde er zunächst im Lissabonner „Maurenviertel“ Mouraria gepflegt, das für seinen hohen Anteil zugewanderter und sozial unterprivilegierter Einwohner bekannt ist. Daneben verweist dies auch auf die arabischen Elemente des Fados.

Zwischen Tango und Fado: Rodrigo Leãos Lied Pasión

Als Beispiel für die Verbindung von Fado und Tango sei hier das Lied Pasión (Leidenschaft) angeführt. Das Lied, im dazugehörigen Clip mit einem Tango-Tanz verknüpft, entstammt der Feder des portugiesischen Komponisten Rodrigo Leão. Gesungen wird es im (spanischsprachigen) Original von Lula Pena. Sowohl der 1964 geborene Komponist als auch die ein Jahrzehnt später auf die Welt gekommene Sängerin – die auch eigene Lieder geschrieben hat – sind in ihren musikalischen Anfängen vom Fado geprägt. Die Stücke auf Lula Penas Debütalbum Phados (1998) zeugen hiervon ebenso wie Rodrigo Leãos erste Schritte in der Musikkultur seines Landes. So war er 1985 u.a. Mitbegründer der legendären Band Madredeus, deren Musik anfangs stark vom Fado beeinflusst war.
tango-4048879_1920 (2)TangoPasionPasión ist zuerst im Jahr 2000 auf dem Album Alma Mater erschienen. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines Albums Cinema im Jahr 2004 gründete Leão dann das Cinema Ensemble, deren Sängerin Ana Vieira das Lied in Live-Konzerten ebenfalls vorgetragen hat.
Das Album bezeugt Leãos Affinität zum Film, das sich auch in diversen Filmmusiken niederschlägt. Es ist jedoch nicht aus konkreten Filmprojekten hervorgegangen – ebenso wenig wie Pasión, das im Internet gleichwohl mit Ausschnitten aus unterschiedlichen Filmen präsentiert wird.
In seiner Heimat ist Leão mittlerweile zu einer musikalischen Ikone aufgestiegen. Deutlichster Beleg dafür ist das Konzert zum 40. Jahrestag der Nelkenrevolution, das er 2014 auf Einladung des portugiesischen Parlaments vor dem Parlamentsgebäude organisiert hat. Das daran u.a. auch der bekannte Fado-Sänger (Fadista) Camané beteiligt war, unterstreicht einmal mehr die besondere Bedeutung, die diese Art von Liedgut für die portugiesische Kultur besitzt.
Der Text von Pasión bringt das Lebensgefühl des Fados ebenso wie das des Tangos in prägnanter Weise zum Ausdruck. Hier wie dort geht es um eine Sehnsucht, die um ihre Unerfüllbarkeit weiß und deshalb den flüchtigen „Kuss des Glücks“ so intensiv wie möglich auskosten möchte.

Lieder und Übersetzungen

Rodrigo Leão: Pasión

 
Videoclip (Gesang: Lula Pena)

Live-Aufnahme mit Ana Vieira

Liedtext

Freie Übertragung ins Deutsche:
 
Leidenschaft
 
Vergiss mich nicht, ich sterbe für dich,
du meine Liebe, mein Leben ist nur Leiden
ohne dich an meiner Seite, nur du hast die Macht,
mein Schicksal zu wenden.

Ach, umarme mich heute Nacht,
auch wenn du es nicht möchtest,
die Lüge wärmt mich besser als die Wahrheit,
das Leben ist zu traurig und zu kurz dafür.
Komm zu mir,
umarme mich, in Gottes Namen,
lass dich in meine Arme sinken.

Mein Herz ist schwer,
ich weiß, dass du es rufen hörst,
durch den Schleier meiner Tränen
seh‘ und fühle ich nur dich, du meine wahre Liebe.

Ach, umarme mich …

 

Enrique Santos Discépolo: Cambalache
 

Liedtext
 

Freie Übertragung ins Deutsche:

Trödelladen*

Dass die Welt schon immer auf Sauereien aufgebaut war –
ich weiß es schon lange.
Im Jahr 506 war das nicht anders,
als es im Jahr 2000 sein wird.
Schon immer hat es Diebe gegeben,
Machiavellis und Betrüger,
schon immer haben Glück und Bitternis,
Aufrichtigkeit und Heuchelei
nebeneinander existiert.
Das 20. Jahrhundert aber
ist ein einziges Kaleidoskop
niederträchtigster Bosheit –
wer wollte das leugnen?
Unser Leben ist ein einziges Bad im Dreck,
und indem wir uns darin suhlen,
machen wir uns alle die Hände dreckig.

Heute läuft es auf dasselbe hinaus,
ob du ein aufrichtiger Mensch bist oder ein Verräter.
Unwissend oder weise,
diebisch, großzügig oder betrügerisch –
es ist alles gleich! Keins ist besser als das andere.
Ein Esel zählt dasselbe
wie ein großer Gelehrter.
Es gibt keine Abstufungen oder Schattierungen,
die Unmoral hat uns alle gleich gemacht.
Ob du dein Leben dem Betrug widmest
und dich durchs Leben stiehlst,
ob du Pfarrer oder König,
Flegel oder Schmarotzer bist –
es läuft alles auf dasselbe hinaus.

Was für ein Mangel an Respekt!
Was für eine Beleidigung der Vernunft!
Jeder von uns ist ein vornehmer Herr
und ein dreckiger Dieb zugleich.
Spekulant oder Sprachrohr der Armen,
Gangster oder General,
Boxer oder Befreier**:
Wie in den Vitrinen der Trödelläden
wird alles im Leben
achtlos durcheinandergeworfen.
Sogar die Bibel muss sich seufzend
zerfleddern lassen
an einem Toilettenpapierhalter.***

Ein Fiebertraum, ein Flickenteppich
aus Sauereien ist das 20. Jahrhundert.
Wer am lautesten schreit, wird am besten genährt,
wer nicht klaut, ist ein Idiot.
Nimm dir einfach deinen Teil!
Na los, worauf wartest du?
Komm, wir treffen uns
im Hinterhof des Lebens!
Denk einfach nicht mehr nach,
nimm hier an meiner dunklen Seite Platz!
Denn niemanden interessiert es,
ob du eine edle Seele hast,
ob du wie ein Ochse schuftest
Tag und Nacht
oder von der Arbeit anderer lebst,
ob du das Gesetz achtest
oder achtlos darauf pfeifst.

* Cambalache: Das Wort bedeutet gleichzeitig „Trödelladen“ und „Gemauschel“. Es fasst somit amoralische Handlungsweisen und die daraus resultierende Erscheinungsweise der Welt in einem Wort zusammen.

** Spekulant oder Sprachrohr der Armen …: Im Original werden an dieser Stelle konkrete historische Persönlichkeiten aufgezählt. Da es in dem Lied jedoch nicht um diese selbst geht, sondern um ihre metaphorische Bedeutung, habe ich hier Paraphrasierungen gewählt. Nähere Erläuterungen finden sich in den Anmerkungen zu dem oben verlinkten Originaltext.

*** Bibel zerfleddert: Anspielung auf die damalige Praxis von argentinischen Katholiken, protestantische Bibeln als Klopapier zu benutzen.

 

Links

 Brown, Stephen and Susan: Tango Argentino de Tejas [Website mit verschiedenen Artikeln zu Geschichte des Tangos, Tanzstilen etc.]; tejastango.com (2000 – 2014).

Reichhardt, Dieter: Der argentinische Tango und seine Texte. Einleitung zu einem von Reichhardt herausgegebenen Sammelband von ihm übersetzter Texte von Tango-Liedern. In: Iberoamericana 1 (1977), S. 3 – 17

Riedl, Gerhard: Tango: Worüber singen die eigentlich? [mit kommentierten Textbeispielen]. Gerhards Tango-Report, Eintrag vom 21. Dezember 2016; milonga-fuehrer.blogspot.com.

Sartori, Ralf: Tango: Geschichte, Literatur und Philosophie [Ausschnitte aus Büchern von Sartori]. Tango-a-la-carte.de.

Welsch, Annett: Sinnlichkeit und Sucht. Tango Argentino – Wie ein Tanz die Sehnsucht weckt und eine verlorene Erotik zurückbringt. Parapluie.de; überarbeitete Fassung des Essays in Der Freitag 27 (2005): Die Beziehung zum Boden: zärtlich.

Zu Enrique Santos Discépolo:

El Forjista: Enrique Santos Discépolo [ausführliches Essay zu Discépolo, spanisch].

Malpartida, Juan: El tango“, tristeza que se baila. In: ABC, 21. September 2016 [zu Discépolo-Zitat: „Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den  man tanzen kann“].

Mehr zum Fado (mit weiterführenden Links):

RotherBaron: Fado und Novemberblues – Gift oder Gegengift?

In der nächsten Woche reisen wir von Argentinien weiter nach Venezuela und schauen, was die Menschen dort tanzen würden, wenn ihnen nach Tanzen zumute wäre.

 

Bilder: 1. Titelbild: Andre Kohn: Tango; 2. Michael Catazarili: Tanzpaar in Buenos Aires, 2011 (Wikimedia); 3. Pedro Figari: Candombe-Tänzer (1921),  Constantini Collection (Wikimedia); 4. Pavel Krok: Bandoneon „Cardinal“ , Baujahr 1920, 2005 (Wikimedia); 5. Unbekannter Fotograf: Enrique Santos Discépolo (Wikimedia); 6. José Maria Silva: Carlos Gardel (1933), Achivo General de la Nación (Wikimedia); 7. Pedro Sinões: Alte Kachel in einem Haus in Lissabon (Wikimedia); 8. TangoPassion: Tanzpaar (Pixabay) 

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