Mit einer Übertragung des Songs „Cliquot“ der Band „Beirut“
Tanz aus der Krise, Teil 5 der musikalischen Sommerreise 2020
Den Walzer assoziieren wir heute entweder mit harmlosen Tanzvergnügungen oder – wenn wir an den Wiener Walzer denken – mit österreichischer High Society. Dabei hatte der Walzer in seinen Anfängen etwas durchaus Revolutionäres und war bei der Obrigkeit gefürchtet …
Von wüsten Wellern und rankelnden Geigen
Revolutionärer Walzer
Der Song Cliquot: ein ungewöhnlicher Walzer
Nachweise
Von wüsten Wellern und rankelnden Geigen
„Walzer tanzen …“ Wer das hört, denkt heute wohl zuerst an den Wiener Walzer – und damit an das Neujahrskonzert und den Wiener Opernball, Ereignisse, bei denen die feine Wiener Gesellschaft sich selbst feiert. Im Falle des Opernballs kommt noch die unappetitliche Melange aus High Society und Burschenschaften hinzu, so dass der „Wiener Walzer“ auch ein wenig nach rechter Ecke müffelt.
Mit den Ursprüngen des Walzers hat das alles herzlich wenig zu tun. Dies macht schon die Geschichte des Begriffs deutlich. Denn der Walzer ist unverkennbar verwandt mit der „Walz“ der Gesellen, also den Wanderjahren, auf denen die angehenden Handwerker sich die Fähigkeiten für ihre Berufsausübung aneigneten. Dies deutet bereits an, dass der Walzer ursprünglich ein volkstümlicher Tanz war, der sehr weit entfernt war von den Sälen der Aristokratie und ihren feierlich-gemessenen Tanzfiguren.
Das für die Walz charakteristische Unterwegssein, das „Im-Kreis-Herumwandern“ der Gesellen, findet zudem eine Entsprechung in den für den Walzer charakteristischen Drehschritten. Dies entspricht auch der Ursprungsbedeutung des Wortes „walzen“, das sich aus dem althochdeutschen „walzan“ (rollen/drehen) entwickelt hat.
Musikhistorisch wurzeln die für den Walzer charakteristischen Drehbewegungen in volkstümlichen Tänzen wie dem Ländler und anderen Bauerntänzen. Aus bezeichnenden Vorläuferbegriffen wie „wüster Weller“ entwickelte sich im 18. Jahrhundert die heute geläufige Bezeichnung „Walzer“. Erstmals nachweisen lässt sie sich in einer Komödie von Joseph Felix von Kurz-Bernadon aus dem Jahr 1754 (1).
Bereits vier Jahre später wurde der Walzer in Wien erstmals verboten. Er sei, so heißt es in einem „höchsten Hofdeskribt“, „der Gesundheit schädlich und auch der Sünden halber sehr gefährlich“ (2). Als besonders verpönt galt in der Folge das so genannte „Langaustanzen“, bei dem die Paare den Saal der Länge nach oder diagonal durchmaßen. Diese Form des „Walzens“ wurde 1791 in Wien noch einmal ausdrücklich unter Strafe gestellt. Da der „Sanitätsrat Seiner Majestät“ auf die Schädlichkeit dieser Art des Tanzens „bei schwachen und schwangeren Frauenzimmern“ hingewiesen habe, werde „allen Ballunternehmen“ angezeigt, „dass sie das so genannte Langaustanzen mit einer Strafe von 20 Gulden für die Person in ihren Sälen nicht gestatten sollen“ (3).
Die gesundheitlichen Bedenken, die sich auf mögliche Schwindel- und Ohnmachtsanfälle von Frauen infolge der Drehbewegungen bezogen, waren allerdings vielfach nur vorgeschoben. Dies wird deutlich, wenn es 1785 in einer Moralschrift heißt, es sei für die jungen Mädchen „schamlos“ (…), Arm in Arm geschlungen“ zu tanzen, „Brust auf Brust gepreßt, oder Blick in Blick geschmolzen mit einem jungen Kerl herumzutollen, bis sich alles um sie her im Kreise dreht und Wollust ihr und ihm aus den Augen glüht“. „Laszive Schlingungen“ und „wollüstige Blicke“ würden die „Sittsamkeit“ nicht weniger „beleidigen“, wenn sie zu ein paar „rankelnde[n] Geigen“ „im Takt gewalzt (…) werden“ (4).
Revolutionärer Walzer
Eben dieses lustvolle Hinwegtanzen über jede Etikette war es auch, was den Walzer im 19. Jahrhundert für weite Bevölkerungskreise attraktiv machte. Der Walzer wurde im Wortsinn als „Gegenbewegung“ zu der starren Ordnung empfunden, die in den Restaurationsjahren nach 1815 wieder etabliert werden sollte. Dies gilt gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen ermöglichten die ekstatischen Tanzbewegungen ganz unmittelbar eine Flucht aus den Zwängen, die mit der von Fürst Metternich vorangetriebenen Wiederherstellung der Adelsherrschaft einhergingen.
Zum anderen war der Walzer aber auch ganz konkret eine Möglichkeit, die Durchmischung der Stände zu erproben und so der Aristokratie einen Hauch von Volksherrschaft entgegenzusetzen. Denn die Festivitäten in den neuen Tanzsälen waren auch für besser gestellte Angehörige des Bürgertums und sogar für manche Adlige so reizvoll, dass sie sich hier wortwörtlich „unter das Volk“ mischten.
Von diesem revolutionären Impetus des nun schon nicht mehr ganz so neuen Tanzes blieb auch Walzerkönig Johann Strauss (Sohn) nicht unberührt. So hat er die Revolution von 1848 ausdrücklich in einigen seiner Werke hochleben lassen – und dafür sogar einen eigenen Walzer komponiert, den er passend „Freiheits-Lieder“ nannte. Auch der Donauwalzer, der heute als fester Bestandteil der Wiener Hofkultur wahrgenommen wird, war ursprünglich nicht frei von Gesellschaftskritik.
Josef Weyl, Textdichter des Wiener Männergesangsvereins, für den Strauss den Walzer komponiert hatte, deutete die Kreisbewegung des Walzers 1867 – ganz anders als Franz von Gernerth, der 1889 den bekannteren heimatverbundenen Text über die „schöne, blaue Donau“ schrieb – als Metapher für die Orientierungslosigkeit der politischen Elite. Vor dem Hintergrund des verlorenen Krieges mit Preußen von 1866 und unzureichenden Maßnahmen gegen eine Choleraepidemie heißt es in dem Text:
„Selbst die politischen, kritischen Herr’n
drehen weise im Kreise sich gern.
Wenn auch scheinbar bewegend sich keck,
kommen sie doch niemals vom Fleck,
Wie sie so walzen, versalzen sie meist
trotz der Mühen die Brühen im Geist.
Wie’s auch Noten schreib’n noch so so exakt,
kommen’s leider Gott stets aus dem Takt.“ (4)
Der Song Cliquot: ein ungewöhnlicher Walzer
Im Jahr 2002 entschloss sich Zach Condon zu einem radikalen Schritt: Mit nur 16 Jahren brach der aus Albuquerque im US-amerikanischen Neu-Mexiko stammende Musiker die Schule ab und begab sich auf eine Reise durch Europa. Musikalisch haben ihn dabei vor allem seine Erfahrungen auf dem Balkan geprägt. Insbesondere die spezielle Art von Polka, die anarchische Art von Blasmusik und die Musikkultur der Sinti und Roma, die er dort kennengelernt hat, haben später auch sein eigenes musikalisches Schaffen beeinflusst.
Dies ist auch dem Song Cliquot anzuhören. Dieser entstammt dem Album The Flying Club Cup, das Condon 2007 mit der von ihm gegründeten, in wechselnden Besetzungen spielenden Band Beirut herausgebracht hat. Der Name spiegelt Condons Bekenntnis zu einem Crossover-Stil wider, in dem verschiedene Musikstile zu einer neuen Einheit zusammengebunden werden. Wie in Beirut verschiedene religiöse und kulturelle Strömungen nebeneinander existieren und sich, allen Konflikten zum Trotz, gegenseitig befruchten, sieht er auch seine Songs als musikalische „melting-pots“ an (5).
Als Sänger fungiert in Cliquot der Violinist und Sänger Owen Pallett, der auch für die Geigenarrangements des Albums verantwortlich zeichnete. Der Song ist im Zusammenhang mit Condons Frankreicherfahrungen zu sehen, von denen auch die übrigen Stücke des Albums zeugen. Condon bezieht sich in dem Lied auf das Schicksal von Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin (1777 – 1866). Diese hat als „veuve Clicquot“ (Witwe Clicquot) der gleichnamigen Champagner-Marke zu Weltruhm verholfen. Das Unternehmen mit Sitz in Reims in der Champagne hatte sie 1805 von ihrem verstorbenen Gatten, dem Sohn des Firmengründers, übernommen.
Der Song Cliquot kreist um die Gefühle der Witwe im Augenblick des Todes ihres Gatten. Alles in ihr ist in Aufruhr. In ihrer Verzweiflung träumt sie von Melodien, die den Verstorbenen von den Toten auferwecken könnten. Dann wieder schwört sie sich, so lange zu trommeln, bis sie selbst tot an seiner Seite niedersinkt. Oder sie gibt sich Zerstörungsphantasien hin, die dem „Fieber“, das ihrem Gatten, wie so vielen anderen, den Tod gebracht hat, jede Nahrung entziehen sollen.
Der Walzerrhythmus, mit dem der Song unterlegt ist, erhält vor diesem Hintergrund eine kontrapunktische Funktion. Er gibt der im Text geäußerten Verzweiflung gewissermaßen einen produktiven Sinn. Der dem Walzer innewohnende Widerstandsgeist wird dafür in eine existenzielle Dimension überführt. Denn es geht in diesem Fall ja nicht darum, sich gesellschaftlichen Normen zu widersetzen. Das, wogegen sich der Widerstand richtet, ist vielmehr das unerbittliche Schicksal, das wahllos Leben in Tod überführt und dabei auch vor den Liebenden nicht Halt macht.
Der Walzer kann zwar das Schicksal nicht aufheben und das Geschehene nicht ungeschehen machen. Die tänzerische Ekstase, für die er steht, ermöglicht jedoch den vorübergehenden „Austritt“ aus dem Schicksal, einen kurzen Augenblick außerhalb der Zeit. Dieses euphorische „Carpe diem“ stellt der Song umso deutlicher der im Text zum Ausdruck gebrachten Trauer entgegen, als der Walzerrhythmus sich darin mit Anklängen an die lebensfrohe Balkan-Folklore vermischt.
Darin spiegelt sich zum einen die Erinnerung an das verlorene Glück wider, das in der Musik weiterlebt. Zum anderen deutet sich in der Musik aber auch der faktische Überlebenswille der trauernden Witwe an, die sich als legendäre Unternehmerin bereits zu Lebzeiten ihr eigenes Denkmal geschaffen hat.
Nachweise
(1) Vgl. Annotierbares elektronisches interaktives österreichisches Universalsystem Informationssystem (AEIOU): Die Entstehung des Walzers; aeiou.at; Artikel auch im Austria-Forum zu finden.
(2) Zit. nach Menzel, Lisa: Als der Walzer in Wien Sünde war; evangelisch.de, 10. Februar 2017.
(3) Zit. nach AEIOU/Austria-Forum, s. (1)
(4) Beide Textvarianten (sowohl die von Josef Weyl als auch die von Franz von Gernerth) sind vollständig wiedergegeben auf der Website von Frank Petersohn (ingeb.org).
(5) Wörtlich sagt Condon, „Beirut“ sei „a good analogy for my music. I haven’t been to Beirut, but I imagine it as this chic urban city surrounded by the ancient Muslim world. The place where things collide“ (Zitat aus Syme, Rachel: Beirut: The Band. In: New York Magazine, 4. August 2006). Der erste Auftritt der Band im Libanon fand 2014 anlässlich des Byblos International Festival statt.
Beirut: Cliquot
Song:
Liedtext
Freie Übertragung ins Deutsche:
Cliquot
Todbringend hat sich aus dem Armenhaus*
ein Fieber zu meinem Liebsten geschlichen.
Nun muss die Trommel meinen Schmerz bezwingen,
mit tauben Fingern tromml‘ ich bis zum Tod.
Wüsst‘ ich nur eine Melodie,
um meinen Liebsten aufzuwecken!
Gäb‘ es nur einen Klang, der ihn
in meine Arme zurückbringen kann!
Brandschatzen will ich wie das Fieber!
Lieber alles zerstören als ihm gehören!
Funkelnd wie zerspringendes Glas
soll das Gewand meiner Liebe verbrennen.
Wüsst‘ ich nur eine Melodie,
um meinen Liebsten aufzuwecken!
Gäb‘ es nur einen Klang, der ihn
in meine Arme zurückbringen kann!
Von dunklen Brunnenschächten, sonnentrunknen Höhen,
vom letzten Rausch der Liebe will ich singen –
und von dem Schattenreich, das kommt,
den kalten Tagen, Liebster! ohne dich.
* wörtlich: Arbeitshaus. Gemeint sind die „working houses“, in denen mittellose Menschen einer im utilitaristischen Verständnis „vernünftigen“ Beschäftigung zugeführt werden sollten. Ursprünglich als Element der Armenfürsorge gedacht, entwickelten sich aus der Einrichtung später die „Zucht-Häuser“.
Und der Donauwalzer? Hmm … Da die meisten Donauwalzer-Aufführungen reichlich pompös wirken, verlinke ich an dieser Stelle lieber auf eine polnische Tanzvorführung zum Valse d’Amélie des bretonischen Musikers Yann Tiersen. Sowohl Aufführungsort als auch Tanzstil vermitteln zumindest eine Ahnung von den bescheideneren Ursprüngen des Walzers:
Nächste Woche bleiben wir noch ein wenig bei den klassischen Tänzen und widmen uns dem Tango.