Musikalische Sommerreise 2020 – Teil 1: Sarabande
Mit einer Nachdichtung von Thomas Hardy: Afterwards
Die diesjährige musikalische Sommerreise steht nach unserer langen Corona-Leidenszeit unter dem Motto: „Tanz aus der Krise“. Im Mittelpunkt stehen dieses Mal nicht einzelne Länder, sondern Tänze und ihre spezifische Interpretation durch einzelne Musiker.
Cross the borders!
Ein barocker Hardrocker
Zugabe: Thomas Hardy und Jon Lord
Nachdichtung: Thomas Hardy: Afterwards
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Die musikalische Sommerreise ist in diesem Jahr auf den Literaturplaneten umgezogen. Für ihre eigentliche Heimat auf rotherbaron ist in diesem Jahr ein anderes Projekt vorgesehen. Nach unserer langen Corona-Leidenszeit steht die diesjährige Musikreise unter dem Motto: „Tanz aus der Krise“. Im Mittelpunkt stehen dieses Mal nicht einzelne Länder, sondern Tänze und ihre spezifische Interpretation durch einzelne Musiker.
Das Problem ist nur: Wenn ich davon spreche, dass wir die Krise tanzend hinter uns lassen, denke ich natürlich an ekstatische Verrenkungen, an wilde Windungen und gejauchzte Sprünge, die uns alle Sorgen im Rausch vergessen lassen. Dies aber schließt eins radikal aus: Abstandsregeln.
Cross the borders!
Für das Tanzen in Corona-Zeiten scheinen eher die höfischen Tänze der Barock-Zeit geeignet zu sein. Sie sind zwar weit weniger ekstatisch, doch lässt sich dafür bei ihrer feierlich-gemessenen Schrittfolge besser darauf achten, dass man sich nicht zu nahe kommt. Und da trifft es sich nun gut, dass heute, am 9. Juni, der Geburtstag von Jon Lord ist.
Moment mal … Jon Lord? War der nicht Keyboarder bei den Hardrockern von Deep Purple? Was hat so jemand denn mit barocken Schreittänzen zu tun?
Liebhaber dieses großartigen Musikers kennen die Antwort: Einiges!
Schon bei Deep Purple war Jon Lord derjenige, der die opulenten Arrangements und die Crossover-Projekte vorantrieb, in denen Rock und klassische Musik miteinander verbunden wurden. Herausragende Beispiele dafür sind die Songs Anthem und April aus den Jahren 1968 und 1969. Jon Lords Vorliebe für diese Art von Musik war dabei nicht unumstritten. Noch im Rückblick beklagte sich Bassist Nick Simper: „Jon Lord fucked everything up with his classical ideas“.
Dennoch setzte sich Lord mit diesen Ideen in der Band zunächst durch (wobei sich allerdings deren Zusammensetzung änderte und Simper zusammen mit Sänger Rod Evans aus der Band ausschied). Die Früchte der entsprechenden Arbeit waren das Concerto for group and orchestra, das 1969 in der Londoner Royal Albert Hall uraufgeführt wurde, und die Gemini Suite, die ein Jahr später in der Royal Festival Hall von Deep Purple zusammen mit dem Light Music Society Orchestra dem Publikum präsentiert wurde. Die 1971 mit dem London Symphony Orchestra eingespielte Studio-Version realisierte Lord erstmals ohne Mitglieder von Deep Purple.
Ein barocker Hardrocker
Seit Beginn der 1970er Jahre ging der Musiker verstärkt eigene Wege. Wichtig war für ihn dabei auch die Zusammenarbeit mit dem deutschen Komponisten Eberhard Schoener. Dieser hatte zunächst als Dirigent an Aufführungen der Werke von Jon Lord in Deutschland mitgewirkt. 1974 brachte Lord gemeinsam mit Schoeler das experimentelle Album Windows heraus. Ein Jahr später war Schoeler als Dirigent an Lords Werk Sarabande beteiligt, das in Oer-Erkenschwick von Jon Lord und der Philharmonia Hungarica eingespielt wurde.
Das Album orientiert sich an der barocken Suite, einer Folge höfischer Tänze. Dem entsprechen auch die Titel des Albums, die entweder an klassische Musikstücke oder unmittelbar an barocke Tänze (Sarabande, Gigue, Bourrée, Pavane, Caprice) anknüpfen. Neben der schon bei Deep Purple erprobten Verbindung von klassischer und Rock-Musik finden sich auf dem Album auch komplette Grenzübertritte in das Reich der klassischen Musik (wie in dem besonders melodischen Stück Aria). Das ist doch ein schöner Einstieg in die diesjährige musikalische Sommerreise …
Wie – das geht nicht? Auf einem literarischen Blog muss immer die Literatur im Vordergrund stehen? Aber kann die nicht mal eine Schweigeminute für einen großen Musiker einlegen? Nein? Die Literatur schweigt nie?
Zugabe: Thomas Hardy und Jon Lord
Na gut, dann machen wir’s wie im Konzert und servieren noch eine Zugabe: Im Jahr 2009 hat Jon Lord eine weitere Suite komponiert und zur Aufführung gebracht, dieses Mal zu Ehren eines verstorbenen Freundes, des Anwalts und Schriftstellers John Mortimer. Die sechsteilige Komposition für Flöte, Klavier und Violine zitiert in ihrem Titel ein Zitat aus einem Werk des viktorianischen Dichters und Romanciers Thomas Hardy (1840 – 1928): To notice such things („Solche Dinge zu bemerken“). Der Titel des Gedichts wird wiederum im abschließenden Stück der Suite zitiert: Afterwards („Danach“). Eine Lesung des Gedichts bildete den Schlusspunkt der musikalischen Trauerfeier, die in eine Gedenkveranstaltung zu Ehren des Toten integriert war.
Nach Jon Lords Tod im Jahr 2012 diente die Aufführung der Suite der Erinnerung an ihn selbst. Bei einem Konzert, das an den „Composer“ Jon Lord erinnerte, las dabei Jeremy Irons das Gedicht Afterwards. So kann dieses gewissermaßen als literarischer „Beifang“ in diesen Beitrag integriert werden. Angemerkt sei allerdings, dass die Verse zwar Trost und auch eine eigentümliche Form von Hoffnung ausstrahlen, jedoch weit von jeder tänzerischen Ekstase entfernt sind. Aber ihr habt es ja nicht anders gewollt …
Thomas Hardy: Afterwards
Originaltext
Nachdichtung: Wenn alles vorbei ist
Wenn längst das Leben seine Tür geschlossen hat
nach meinem flüchtigen Besuch und sich der Mai,
mit seinen seidig-grünen Flügeln schlagend, in die Lüfte hebt,
wird mancher mich in seinem Fluge wiederfinden.
Wenn wie ein lautloser Lidschlag der Tau
die Nebelschatten falkenhaft durchstößt
und sich auf einem windgebeugten Dornbusch niederlässt,
wird mancher mich in seinem Schweigen wiederfinden.
Wenn heimlich ein Igel huscht durch das Gras,
derweil mich feucht-warme Finsternis umfängt,
wird in der Verlorenheit des unschuldigen Wesens
mancher mein vergebenes Streben wiederfinden.
Wenn das saumlose Sternengewand des Winters
sich breitet über mein unaufhebbares Schweigen,
wird in dem funkelnden Gewölbe
mancher mein geheimstes Hoffen wiederfinden.
Wenn sich das dunkle Tönen meiner Totenglocke
an einem Luftzug bricht, der wie ein Neubeginn
die Schwingungen der Glocke klingen lässt,
wird mancher mich in seinem Herzen wiederfinden.
Videos
Jon Lord: To notice such things: VI. Afterwards:
Sarabande (Live):
Weitere Links
Musik von Jon Lord:
Aria (mit Dia-Show zu Jon Lord von cbFIN: RIP Maestro)
To notice such things: VI. Afterwards (Albumfassung
Lesung von Afterwards durch Jeremy Irons im Rahmen des Erinnerungskonzerts Celebrating Jon Lord – The Composer
Nachweis Simper-Zitat: Simon Robinson: Interview mit Nick Simper; darkerthanblue.wordpress.com, Juli 1983
Barocke Tänze:
Tanzen mit Abstand: Sarabande