Mercanti di liquore: Lombardia
Von der Lombardei war in den letzten Wochen meist nur als von einem „Hotspot der Corona-Pandemie“ die Rede. Die reiche Kultur und Geschichte der Region ist dabei aus dem Blick geraten. Um das schiefe Bild gerade zu rücken, stellen wir heute ein Lied der lombardischen Band Mercanti di liquore ins Schaufenster dieses Blogs. Der Song verschweigt nicht die Probleme, die sich aus der fortgeschrittenen Industrialisierung und dem ausgeprägten soziale Gefälle in der Region ergeben. An zahlreichen Beispielen veranschaulicht er jedoch zugleich den kulturellen Reichtum der Lombardei, der als eine Art geistiges Widerstandspotenzial für die dort lebenden Menschen fungiert.
Mitte der 1990er Jahre beschlossen Lorenzo Monguzzi, Simone Spreafico und Piero Mucilli, die zuvor bereits gemeinsam in der Rock-Band Zoo musiziert hatten, eine neue Akustik-Band zu gründen. Diese benannten sie nach einem Lied von Fabrizio De André, in dem ein Likörhändler („mercante di liquore“) gefragt wird, was er sich denn Besseres kaufen werde, nachdem er das Kostbarste verkauft habe („Tu che lo vendi, cosa ti compri di migliore?“).
Die Anspielung auf Fabrizio De André ist insofern programmatisch, als die Gruppe bei ihren anfänglichen Auftritten zahlreiche Cover-Versionen von Liedern dieses bedeutenden italienischen Cantautore im Programm hatte. Auch ihr 1999 erschienenes Album Mai paura (‚Niemals ängstlich‘) enthielt neben vier eigenen Stücken sieben Neuinterpretationen von Liedern De Andrés.
Nachdem die Band anfangs vorwiegend in der Lombardei aufgetreten war, wurde sie seit Ende der 1990er Jahre zunehmend auch auf Festivals in anderen italienischen Regionen eingeladen. Die Teilnahme an diesen blieb neben eigenen Tourneen ein wesentliches Charakteristikum der musikalischen Aktivität der Gruppe.
Der von der Kritik als „Power-Folk“ eingestufte Musikstil der Band korrespondiert mit ihren Texten, die oft kultur- und sozialkritische Elemente enthalten. Dabei wird immer wieder die originäre Volkskultur in ihrer Eigen- und Widerständigkeit herausgestellt und als Mittel der stillen Opposition gegen die Arroganz der Mächtigen beschworen. Dem entspricht auch die Bereitschaft der Bandmitglieder zum politischen Engagement. So haben sie etwa eine Kampagne gegen die Privatisierung der Wasserversorgung unterstützt.
Lombardia (aus La musica dei poveri / Die Musik der Armen, 2002) ist ein Lied, das mithilfe zahlreicher Anspielungen auf historische, ökonomische und soziale Besonderheiten der Lombardei ein Kurzporträt dieser italienischen Region entwirft. Daneben wird auch ein Eindruck von der Mentalität der Menschen, die von diesen Spezifika geprägt sind, vermittelt. Beides geschieht auf eher spielerische Weise, indem kulturelle Praktiken und geographische Besonderheiten eulenspiegelhaft miteinander verknüpft werden. Dem entsprechen ein Text, der landestypische Redewendungen aufgreift und durch eigene Sprachspiele ergänzt, und eine an die örtliche Folklore anknüpfende Musik.
Schöne Akustik-Fassung (Live) mit Bandgründer Lorenzo Monguzzi und Lyradanz
Albumfassung:
Übersetzung:
Lombardei
Nachdem wir wie eine [Boeing] 747 in der Brianza gelandet waren,
sind wir im Verborgenen aufgewachsen, wie Rosskastanien.
Die Königin Theodelinda hat uns zugezwinkert,
aber wir haben uns nicht erkenntlich gezeigt und uns nicht vor ihr verneigt.
Wir haben das Gitarrespielen gelernt, weil wir die Gelegenheit dazu hatten,
aber auch aus Angst, uns in Lissone wie ein Möbelstück zu fühlen.
Dann haben wir uns als Söldner verkleidet
und versucht, diese ansteigende Ebene zu bezwingen.
Lombardei, wie leicht es ist, dich nicht zu mögen!
Du lächelst nicht, und es gefällt dir, andere zu misshandeln.
Aber wir sind sprunghafte Söhne, geboren in einem Wirtshaus,
und uns gelingt es zu atmen, auch wenn wir in der Lombardei sind.
In Mailand haben wir ein kristallenes Karussell gebaut,
aber der Geldregen hat es zerstört, als es am schönsten war.
Wir sind an den Stadtrand geflohen,
weil sich unter dem Kehricht der Zauber verbirgt.
Und die Nächte waren immer lang, betrunken
haben wir in den Vorstädten den Gang der Gauner gelernt,
den Geruch des Asphalts und die Sprache der Messer.
Wir wurden Abschaum, wir gewannen unsere eigene Schönheit.
Lombardei, wie leicht es ist, dich nicht zu mögen!
Du lächelst nicht, und es gefällt dir, andere zu misshandeln.
Aber wir sind sprunghafte Söhne, geboren in einem Wirtshaus,
und uns gelingt es zu fliegen, auch wenn wir in der Lombardei sind.
Als uns über Lecco ein Orkan überrascht hat,
haben wir ihn am Schwanz gepackt und ihn in einen Sack gesteckt.
Sogar der See war freundlich, er hat uns sein Geheimnis verraten
gegen das Versprechen, es nicht weiterzuerzählen.
Wir haben einige Sterne vom Nachthimmel über Bergamo gepflückt,
und während der Teufel lachte, haben wir ihn um seine Kleie betrogen.
Dann haben wir das Gebirge gebeten, uns ein Lied zu singen
und uns in dem darunter gelegenen Tal der Liebe hingegeben.
Lombardei, wie leicht es ist, dich nicht zu mögen!
Du lächelst nicht, und es gefällt dir, andere zu misshandeln.
Aber wir sind sprunghafte Söhne, geboren in einem Wirtshaus,
und uns gelingt es zu atmen, auch wenn wir in der Lombardei sind.
Wir haben auf ein Leben in Lumpen gesetzt,
wie wenn man im Briscola chiamata die Zwei ausspielt.
Wir schämen uns nicht für die Gemeinheiten und das Tohuwabohu,
weil man sogar mit einem blauen Auge noch weit genug sieht.
Deshalb sollte man uns nicht tadeln, wenn wir nicht ehrerbietig sind.
Es ist schwer, mit einem Zahnschutz im Mund zu sprechen.
Wenn du uns nicht mögen kannst, leiste uns doch wenigstens Gesellschaft.
Du weißt ja, wo du uns findest … Gute Nacht, Lombardei.
Anmerkungen:
Brianza: lombardische Provinz nördlich von Mailand
Königin Theodelinda (Teudelinde): langobardische Königin (570 – 627; Königin von 589 – 626), die 590 Monza (in der Provinz Brianza) zu ihrer Sommerresidenz machte und dort den Johannisdom errichten ließ
Lissone: Stadt mit überdurchschnittlich vielen Schreinereien, was den Ort zu einem Zentrum der Möbelfertigung gemacht hat
Söldner: Auf dem Boden der Lombardei wurden immer wieder Kriege ausgetragen, für die insbesondere die reichen Stadtstaaten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stets zahlreiche Söldner anwarben.
ansteigende Ebene: bezieht sich auf die Po-Ebene, die sich zwischen Alpen und Appenin erstreckt
kristallenes Karussell: In Mailand findet jedes Jahr eine große Glasmesse („Vitrum“) statt.
Geldregen: Mailand ist die reichste Stadt der Lombardei und Sitz der italienischen Börse.
Lecco: 44.000 Einwohner zählende Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in den südlichen Alpen; die Stadt liegt am Lago di Lecco, einem Seitenarm des Comer Sees.
haben wir ihn um seine Kleie betrogen: Anspielung auf die italienische Redewendung „Das Mehl des Teufels wird vollständig zu Kleie“, die der deutschen Wendung „Unrecht Gut gedeihet nicht“ verwandt ist: Was man vom Teufel bekommen bzw. auf unrechtmäßige Weise erworben hat, trägt keine Früchte.
Leben in Lumpen: wörtlich: einem „geflickten Leben“, also einem Patchworkleben, dessen Richtung nicht von vornherein vorgegeben ist. Die Übersetzung erfolgt in Anlehnung an das Lied Wilde Gesellen, in dem die ungebundenen Vagabunden als „Fürsten in Lumpen und Loden“ beschrieben werden. Das 1927 von Fritz Sotke verfasste Lied war in der Wandervogel-Bewegung und speziell bei der Bündischen Jugend beliebt, bei den Nationalsozialisten dagegen wegen seiner freiheitlichen Orientierung verpönt.
Briscola chiamata: italienisches Spiel mit 40 Karten; die Zwei auszuspielen, zeugt von geringem Ehrgeiz, da sie den niedrigsten Wert aller Karten hat.
Bildnachweise:
- Titelbild: Pascvii: Engel mit Katze in der Lombardei (Pixabay)
- Luca Fusillo: Monte Barro, höchste Erhebung (922 Meter) in der Brianza (Pixabay)
- Königin Theodelinda (Theudelinde); Fresco von 1444 im Dom von Monza (Wikimedia)
- Paolo: Erste Lehrstätte für Schreiner in Lissone (1922), berühmt für das Wirken des Schreinermeisters Ambrogio Fassoli (Wikimedia)
- Dima Burakov: Malcesine am Gardasee (Pixabay)
- Messier: Galleria Vittorio Emanuelle II in Mailand (Wikimedia)
- Mirko Bozzato: Landschaft in der Lombardei (Pixabay)
- Mirko Bozzato: Wassermühle in Cascina (Pixabay)
- Alefolsom: Lecco (Pixabay)
- Ben Kerckx: Die Kathedrale St. Alexander in Bergamo (Pixabay)
- Mirko Bozzato: Ebene in der Lombardei (Pixabay)
- Krankman: Italienische Spielkarten (Wikimedia)