Auf einem namenlosen Pferd in Nordkarelien

Kopfreise nach Nordkarelien, Teil 4

small-2509214_1920 (2)Finnische Sauna FinmikiAls es Abend wurde, luden mich die beiden Nordkarelier, die ich am Ufer des Pielinen-Sees kennengelernt hatte, in die Sauna ein. Die beiden haben ihr Saunahäuschen zwar intensiv beworben – spezielle Kräutermischung, wunderbarer Duft, du fühlst dich wie neu geboren! –, aber ich habe die Einladung dennoch ausgeschlagen. Die schwülheiße Luft im Dampfbad ist mir noch nie bekommen – sie schlägt mir auf den Kreislauf. Außerdem wollte ich die Abendstimmung am See noch ein wenig genießen.
Der leichte Wind, der schon den ganzen Tag über geweht hatte, fächelte mir jetzt eine angenehme Kühle um die Wangen. Und über dem erzitternden Wasser wurde ein tanzender Goldregen sichtbar, der unablässig auf und ab wogte.
Als ich begriff, dass es sich bei dem vermeintlichen Goldregen um Mückenschwärme handelte, zog ich mich rasch auf meinen fliegenden Teppich zurück und aktivierte die Anti-Mücken-Tarnkappe. So wurde der Teppich zu einer frei schwebenden Hängematte, in der ich mich unbeschwert in die Nacht hinüberschaukeln lassen konnte.
Da es für meinen Geschmack nun schon fast ein wenig zu still war um mich her, befahl mosquitoes-555827_1920 (2)Jan Mallanderich dem Geist des Teppichs, mir ein wenig regionale Musikkost herbeizuzaubern. Augenblicklich begann es von irgendwoher zu dudeln. Ich schloss die Augen und dämmerte, den fremden Klängen lauschend, vor mich hin.
Plötzlich stutzte ich: Diese Melodie kannte ich doch? Aber wieso verstand ich trotzdem kein Wort von dem, was da gesungen wurde? War ich etwa schon eingeschlafen und vermischte jetzt in meinen Träumen die Musik mit meinen Tageseindrücken?
Ich schlug die Augen auf. Nein, ich träumte nicht! Was ich hörte, war schlicht eine finnische Cover-Version von dem legendären Song A horse with no name der Band America. Neugierig geworden, ließ ich mir von meinem Teppichgeist ein paar zusätzliche Informationen zuraunen. So erfuhr ich, dass die Cover-Version ursprünglich schon 1972, ein Jahr nach Erscheinen des Originals, von der Band Petri & Pettersson Brass herausgebracht worden war. Offenbar hat man sich in Finnland von dem Song also besonders angesprochen gefühlt.
Als ich mich fragte, woher diese finnische Affinität zu dem Lied kommt, fielen mir spontan ein paar Zeilen daraus ein:
„The ocean is a desert with its life underground
and a perfect disguise above.
Under the cities lies a heart made of ground,
but the humans will give no love.“
(sinngemäß etwa: ‚“Das Meer ist eine Wüste voller unterirdischem Leben, / das du von außen nicht siehst. / Unter den Städten liegt ein Herz aus Erde, / das die versteinerten Herzen der Menschen nicht sehen.“
Vielleicht war das ja der Schlüssel für das Verständnis der Seelenverwandtschaft, die die Verfasser der ursprünglichen Cover-Version anscheinend ebenso empfunden haben wie die nordkarelische Country-Band Huojuva Lato („Schwankende Scheune“), die das Cover vor Kurzem noch einmal neu aufgenommen hat. Schließlich lässt sich A horse with no name ja gerade im Sinne der Unmöglichkeit, ohne Natur zu leben, verstehen – Naturverbundenheit aber scheint in Finnland, wo man gar nicht anders kann, als mit und in der Natur zu leben, tatsächlich viel selbstverständlicher zu sein als anderswo.
Zwar wird das Leben in einer Wüste, in der die naturhafte Reproduktion weitgehend zum Erliegen gekommen ist, in dem Song am Anfang als angenehm dargestellt: Die Unwägbarkeiten, die mit dem Leben in der Natur einhergehen, wie etwa ein unerwarteter Regenschauer, sind in der Wüste ausgeschlossen. Am Ende wird ein solches von der Natur abgekoppeltes Leben jedoch als illusorisch, ja, als irreal entlarvt: Die Wüsten der Städte tun nur so, als wäre die Natur aus ihnen verbannt. In Wahrheit aber lebt diese in und unter ihnen fort.
nature-2448933_1920 (2)FinmikiDabei vermittelt das Lied die Hoffnung, dass eine Rückkehr zu einem Leben, in der die Natur wieder eine größere Rolle spielt, jederzeit möglich ist: Sie erwacht zu neuem Leben, sobald die Bewohner sich erneut zu ihrer naturhaften Existenz bekennen.
So kann das Lied als Plädoyer für ein Leben im Einklang mit der Natur verstanden werden, wie es in Finnland – und erst recht in dem besonders dünn besiedelten Nordkarelien – noch sehr weit verbreitet ist. Nicht nur verfügt das Land über sehr ausgedehnte Wald- und Seenflächen. Viele der dort lebenden Menschen ziehen sich im Sommer auch gerne in die Waldeinsamkeit zurück und stimmen in einfachen Holzhütten in den Rhythmus der Natur ein.

Huojuva Lato (Schwankende Scheune): Päättömällä Polella (finnische Fassung von A horse with no name von America);

aus: Takkulan bari (2017)

Informationen zu Band und Album auf nordische-musik.de

Tipp:

Eine schöne Einführung in die finnische Kultur bietet eine fünfteilige Radiosendung von Jenni Roth: Was ist finnisch? Fünfteilige Recherchereise in der Deutschlandfunk-Sendereihe „Gesichter Europas“ (31.12. 2018 bis 4.1. 2019).

Überblicksartige Informationen zu finnischer Geschichte, finnischem Alltag, finnischer Kultur etc. finden sich im Finnland-Lexikon auf finn-land.net; dort auch eine kleine Chronik zur finnisch-karelischen Geschichte.

Teil 5 am kommenden Sonntag: Trügerische Idylle?

 

Bilder: Pixabay: Titelbild: Makalu: Pferd; 1. Finmiki: Sauna am See; 2. Jan Mallander: Mückenschwarm; 3. Finmiki; Natur

Eine Antwort auf „Auf einem namenlosen Pferd in Nordkarelien

  1. Nati

    Eine wirklich originelle Fassung des America-Kassikers- Mir gefallen auch die „Reiseschilderungen“ sehr. Nett und flockig geschrieben, mit ein bisschen Lebensphilosophie gewürzt. Gerne mehr davon!

    Gefällt 1 Person

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