Gespräch am Ufer des Pielinen-Sees

Kopfreise nach Nordkarelien, Teil 3.

Irgendwann wurde mir mein fliegender Teppich doch zu eng. Es reichte mir nicht mehr, mich nur von ihm hinabgleiten zu lassen und im Pielinen-See zu planschen. Ich wolltelieksa-2366842_1920 (2)ASMRsleep die Welt dahinter erkunden. Also ließ ich meinen Teppich von der Seemitte wegschweben und schwamm dann die letzten Meter bis zum Ufer.
Dort angelangt, treffe ich auf zwei junge Männer – vielleicht Studenten. Einer sieht mit seiner Hornbrille und dem Dreitagebart aus wie ein Nokia-Nerd und könnte auch im Silicon Valley über die Straße laufen. Der andere entspricht mit seinem stämmigen Körper und dem rötlich schimmernden Vollbart schon eher meinem Bilderbuchklischee von den „Nordmännern“.
Da die beiden sich angeregt unterhalten, setze ich mich etwas abseits unter einen Weidenbaum. Meinen fliegenden Teppich habe ich, um kein Aufsehen zu erregen, in den Unsichtbarkeitsmodus versetzt.
Einer der beiden – der mit dem Vollbart – nickt mir freundlich zu und spricht mich in einer fremden Sprache an. Als ich ihn nur verdutzt anstarre, fragt er lachend: „Suomi – wonderland?“ Ob ich sie wohl doch zu unverhohlen beobachtet habe?
„Tut mir leid“, antworte ich auf Englisch. „Ich wollte euch nicht stören. Aber euer Karelisch klingt für mich einfach so exotisch – da habe ich mich wohl ein bisschen vergessen …“
In der Tat hört sich die Sprache, in der die beiden sich unterhalten, für mich fast schon außerirdisch an. Selbst das Japanische, das man ja mittlerweile in jeder Fußgängerzone hört, kommt mir dagegen fast vertraut vor.
Ein dröhnendes Lachen ist die Antwort. „Karelisch?“ fragt der Bärtige, ebenfalls auf Englisch, zurück. „Aber wir unterhalten uns doch auf Finnisch!“
„Auf Ostfinnisch“, präzisiert der Nerd.
„Vielen Dank für die Klarstellung, Herr Professor“, neckt ihn der andere, aus Höflichkeit weiter Englisch sprechend. „Aber glauben Sie wirklich, dass das für unseren Gast von Interesse ist?“
bart-2571683_1920 (2)Sarah RichterSein Kumpel geht auf den frotzelnden Ton ein, verteidigt sich aber zugleich gegen den unterschwelligen Vorwurf der Haarspalterei: „Das denke ich schon, werter Herr Kollege. Schließlich ist das Ostfinnische dem Karelischen näher als unsere anderen Dialekte. Unser Besucher hier lag also gar nicht so falsch mit seiner spontanen Einordnung.“
Beneidenswert, wie perfekt die beiden Englisch sprechen, denke ich. Da kann ich mit meinem Schulenglisch nicht mithalten! Etwas sorgfältiger formulierend, frage ich nach: „Seid ihr hier auf Urlaub?“
„Nein-nein“, erklärt mir der Bärtige. „Wir leben hier. Nordkarelien ist durch und durch finnisch. Die Bezeichnung bezieht sich nur auf die Region, die Kultur hier ist nicht mehr und nicht weniger finnisch als im Rest des Landes.“
„Wenn du Karelisch hören willst, musst du schon nach Russland reisen“, schiebt der Nerd hinterher.
„Nach Russland?“ wundere ich mich. „Wird dort die karelische Kultur denn besser geschützt als hier?“
„Ich würde nicht sagen, dass sie bei uns schlecht geschützt wird“, korrigiert mich der Nerd. „Früher mag das vielleicht mal so gewesen sein. Mittlerweile gibt es aber in Joensuu sogar eine eigene Professur für Karelisch. Es ist einfach so, dass hier nur noch sehr wenige ‚echte‘ Karelier leben.“
„Ja“, stimmt der andere seinem Kumpel zu. „Die meisten haben sich an die Kultur hier angepasst – schließlich sind die Sprachen ja auch miteinander verwandt. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, dass die Karelier in Russland, in einem slawischsprachigen Umfeld, stärker an ihrer eigenen Kultur festhalten.“
Der Nerd wiegt den Kopf: „Na ja … So kann man das jetzt auch wieder nicht sagen. Immerhin sind die meisten Karelier russisch-orthodox – das spricht ja auch für einen gewissen Anpassungsprozess.“
„Eine seltsame Mischung“, werfe ich ein.
„Tja“, lacht der Rotbart. „So ist das eben, wenn du als kleines Volk zwischen zwei größeren Völkern bestehen musst. Uns selbst ist es ja auch nicht anders ergangen: Finnland war jahrhundertelang ein Teil Schwedens, ehe im 18. Jahrhundert die Russen ihre Fühler nach uns ausgestreckt und uns Anfang des 19. Jahrhunderts vollständig geschluckt haben. Ohne den Ersten Weltkrieg und die russischen Revolutionswirren wären wir wahrscheinlich heute noch ein Teil Russlands.“
Ich muss an die Matrjoschkas denken, die ineinander verschachtelten russischenrussian-dolls-912310_1920 (2)Jacqueline Macou Holzpüppchen: Die äußerste Puppe ist Russland, die Puppe darunter ist Finnland, darin verbirgt sich die Karelien-Puppe … Oder ist das Bild zu harmonisch? Ist es nicht eher wie bei den großen Fischen, die die jeweils kleineren fressen? Dann hätte Finnland sich gerade noch aus dem Bauch des russischen Wals herausgestohlen, während Karelien allmählich zwischen den Kulturen der größeren Völker zerrieben wird.
Gerne hätte ich mich darüber mal mit ein paar Kareliern unterhalten. Aber leider ist mir an diesem Tag außer den zwei jungen Finnen niemand begegnet. Natürlich hätte ich auch mit ihnen noch länger über kulturphilosophische Fragestellungen diskutieren können. Als ich später wieder auf meinem Teppich angelangt war und mir von meinem Teppichgeist ein Gute-Nacht-Lied vordudeln ließ, war ich aber froh, dass wir rechtzeitig auf harmlosere Alltagsthemen umgeschwenkt waren. Denn das Lied, das mein Teppichgeist für mich auswählte, entführte mich gleich in einen ganzen Irrgarten existenzieller Fragen, in dem ich mich hoffnungslos verlief.

Kuusumun Profeetta- Ei aurinko milloinkaan laske

aus: Jatkuvasti maailmaa pelastamaan kyllästynyt supersankari (2002)

Song mit Liedtext und englischer Übersetzung in den Kommentaren

Freie Übertragung:

Die Sonne geht niemals unter

Die Sonne geht niemals unter,
der Mond und die Sterne entschwinden nicht im Licht des Tages.
Der Regen, die Stürme und der Wind haben für alle dieselbe Realität.
Das Schweigen und der einsame Schrei in der Nacht
kommen aus derselben gequälten Seele,
die ihre Fragen in gebeugter Haltung im Tempel stellt
und dabei auf demselben richtenden, niemals vergebenden Stein kniet.

Gibt es eine absolute Wahrheit,
die den Weg der Gerechten gegenüber den anderen Wegen auszeichnet?
Gibt es Gedanken und Handlungen, die die Verirrten vor sich selbst schüt­zen?
Wer kann am Ende sagen,
dass er mehr im Recht war als die anderen?
Nur weil er die ewige Schwäche des Verlangens kannte,
die er in sich trug seit seiner Geburt?

Können wir nicht, statt des Heiligen Grals,
nach hell schimmerndem Engelshaar suchen,
dessen Berührung uns unmittelbar verbindet mit dem Himmel,
als Gnadenanker für die Verdammten dieser Erde?
Aber müssten solche Engelssaiten
nicht eher das Heulen der zusammenstürzenden Galaxien hörbar machen?
Und wenn sie existieren:
Wie soll dein Finger sie erreichen?

Kann das Leben in uns sich selbst verstehen?
Sehen wir den Schuss, nachdem wir ihn abgegeben haben?
Sind wir nur verlorene Schafe,
die über die Wiese wandern, auf der Suche nach einem Hirten?
Gehört Jesus Christus zu den Hirten?
Oder ist er einer von uns?

Kannst du genug Gold gewinnen
aus den ewig fließenden Flüssen,
um dem Feuer das Recht abzukaufen, alles niederzubrennen,
um den stürmischen Ozean zu besänftigen
und den sich verdüsternden Himmel?
Reichen die Edelsteine dieser Erde aus
für all die Schmuckbedürfnisse unserer Könige?
Gibt es wirklich so viele davon,
dass sie uns am Ende Erlösung bringen können
von allem Bösen?

Der Augenblick der Hoffnung ist zu wertvoll, um ihn zu verlieren.
Deshalb nehmen wir den Kampf darum wieder auf,
sobald der Kampf zu Ende ist,
denn der Kampf ernährt den Kampf.
Wer hat den höchsten Turm bezwungen?
Wer hat am tapfersten gekämpft?
Wer ist erdrückt worden von der Last seiner Bedeutungslosigkeit?
Wer hat seine Geburt verfehlt?

Es ist einfach, zu glauben,
dass du eine Sonne bist, die niemals untergeht,
dass du den Strahlen gleichst, die in der Ferne
hinter dem bleichen Gebirge hervorbrechen.
Es ist schwer, zuzugeben,
dass du nur ein zufälliges Geflüster bist,
ein flüchtiger Sonnenfunken,
der nicht dem Tagesanbruch nahe ist,
sondern der alles verfinsternden Nacht.

 

Tipps für Sprachbegeisterte:

kurze Einführung ins Finnische: Branch, Hannele: Woher stammt Finnisch? Artikel auf finland.fi;

ausführlichere Charakterisierung der finnischen Sprache: Krug, Hartmut: Die Geschichte der finnischen Sprache; gepostet auf der Website der Deutsch-finnischen Gesellschaft, 15. Januar 2015.

zur karelischen Sprache und Kultur: Vihavainen, Timo: Karelien – eine oder mehrere Regionen? Begegnungen mit „Karelien“. In: Ost-West. Europäische Perspektiven (OWEP) 1/2009

 

Teil 4 am kommenden Freitag: Auf einem namenlosen Pferd in Nordkarelien

 

Bildnachweise: Pixabay: Kerttu: Steg; ASMRsleep: Pielinen; Sarah Richter: Bart; Jacqueline Macou: Matrjoschkas

 

 

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