Unsere neue Reihe „Buch im Schaufenster“ beginnen wir heute mit Nadja Dietrichs Reichstagskrimi. Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau ist ein ziemlich verrückter Roman. Ein Buch über eine russlanddeutsche Putzfrau, Lidia Afanasjewna, die eines Tages beim Reinigen der Reichstagstoiletten einen Toten findet.
Was steckt da wohl dahinter? Burn-out, Herzinfarkt, Exitus – ein klassischer Workaholic-Tod? Oder war es Mord? Ist die Drogenmafia in den Tod verwickelt? Handelt es sich um eine Verschwörung?
In ihrer Verwirrung wendet Lidia Afanasjewna sich zunächst einmal an ihren Vertrauten Aljoscha. Das Problem ist nur: Aljoscha existiert gar nicht. Er ist – im buchstäblichen Sinn – der „Mann ihrer Träume“.
Der folgende Textausschnitt handelt von der „schönen Leona“ – einer Rotlichtprominenten, die auf der Grenze zwischen den Geschlechtern lebt und der bei der Aufklärung des Falles eine Schlüsselrolle zukommt. Lidia Afanasjewna trifft sie zusammen mit Lutz – einem Ex-Stasi-Offizier, der ihr bei ihren Recherchen zur Hand geht – in einem Krankenhaus an:
Leseprobe
Der Fahrstuhl spuckte sie direkt in einen zum Gang hin offenen Aufenthaltsraum. Dieser befand sich vor der eigentlichen Station, die durch eine Glastür vom übrigen Gebäude abgetrennt war. An den Wänden zogen sich, fest ineinander verschraubt, abgenutzt wirkende Ledersitze entlang. Darauf saß eine einzige Gestalt, die hektisch, offenbar ohne innere Beteiligung, in den ausgelegten Gesundheitsheftchen blätterte.
Die Person nahm keinerlei Notiz von Lutz und Lidia Afansjewna. Sie trug eine eng anliegende Hose, deren Leopardenmuster einen auffallenden Kontrast zu der leichenblassen Farbe der Wände bildete. Darüber rang ein beigefarbenes Top mit einem gewaltigen Busen, der ständig die viel zu enge Hülle zu sprengen drohte. In dem schmalen, offenbar von Natur aus braun gefärbten Gesicht stachen die knallrot geschminkten Lippen wie ein sirenenhafter Lockruf heraus. Gekrönt wurde der Kopf von einer modischen Kurzhaarfrisur. Diese konnte freilich nicht verhindern, dass die Haare sich zu kleinen Löckchen zusammenschlossen, die sich wie Wellen auf einem unruhigen Meer kräuselten. Einige widersetzten sich auch vollends jeder Ordnung und ragten als gezackte Klippen in die Höhe. Lidia Afanasjewna musste an die dicken Kapseln des Springkrauts denken, die bei der leisesten Berührung aus der Haut fuhren.
Ohne sie je gesehen zu haben, war Lutz und Lidia Afanasjewna klar: Dies musste die „schöne Leona“ sein. Als sie sich ihr näherten, hob sie den Kopf. „Nicht schon wieder Missionare!“ stöhnte sie. „Das hatten wir doch alles schon, Kinder! Und was hat es gebracht? Nichts als Mord und Totschlag! Pfui! Bleibt mir bloß weg mit eurem Gott! Ich bin eine Tochter des Teufels, und das ist auch gut so!“
Konsterniert blieben die beiden Besucher mitten im Raum stehen. Lutz fing sich als Erster wieder. „Also, ich war zwar in der Volksarmee“, bemerkte er trocken. „Mit der Heilsarmee hab‘ ich aber nüscht am Hut.“ Nach einer kurzen Pause fügte er fragend hinzu: „Frau Leona, nehme ich an?“
„Ja, aber du kannst ruhig ‚Schöne‘ zu mir sagen, mein Süßer!“ erwiderte Leona mit kokettem Augenaufschlag.
Lutz und Lidia Afanasjewna fassten dies als Einladung auf und setzten sich. Lutz nahm direkt neben Leona Platz, Lidia Afanasjewna zog es vor, ihren Begleiter als Puffer zwischen sich und der karnevalesken Person zu haben.
„Müsst ihr etwa auch in diesen Bunker einfahren?“ erkundigte Leona sich mitfühlend bei Lutz. „Es ist doch nichts Ernstes? Am Ende noch so eine böse Frauengeschichte bei deinem Schwesterchen? Es hat ihr ja schon ganz die Sprache verschlagen …“
Da Leona sich vorgebeugt hatte und Lidia Afanasjewna mit ihrem leicht flackernden Blick fixierte, war dieser klar, dass sie mit dem „Schwesterchen“ gemeint war. „Stimmt ja“, stotterte sie daher, leicht errötend. „Ich … ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Lida, und das hier ist Lutz, ein guter Bekannter von mir.“
„Ja“, ergänzte Lutz, „und krank sind wir beide nicht. Wir sind extra Ihretwegen gekommen, Leona.“
„Oh, was für eine Ehre!“ hauchte Leona mit ihrer leicht rauchigen Stimme. Und während ihre Finger selbstvergessen mit den Härchen auf der Hand, die Lutz auf der Stuhllehne abgelegt hatte, zu spielen begannen, setzte sie bedauernd hinzu: „Leider bin ich momentan außer Dienst. Was würden denn die Leute von mir denken, wenn ich dir hier zur Erleuchtung verhelfen würde, mein Großer?“
Erstaunt stellte Lidia Afanasjewna fest, dass Lutz sich die Streicheleinheiten widerstandslos gefallen ließ. Was das nur Taktik? Oder war er etwa …? Nein, das war undenkbar – dafür war Lutz viel zu spießig. Andererseits: Was wusste sie schon von ihm? War er wirklich, wie er immer behauptete, überzeugter Junggeselle? Oder war „Junggeselle“ für ihn vielleicht nur eine Chiffre, mit der er seine wahren Vorlieben zu kaschieren versuchte?
„So war das nicht gemeint“, stellte Lutz mit einem süffisanten Grinsen klar. „An Ihren Diensten sind wir gar nicht … das heißt …“
„Waren wir nicht schon beim ‚Du‘ angelangt?“ säuselte Leona.
„Entschuldigung“, korrigierte sich Lutz. „An deinen Diensten sind wir sozusagen nur indirekt interessiert. Es geht um Richard Groß, den Politiker, der Anfang der Woche tot in seinem Büro aufgefunden worden ist. Man hat uns gesagt, du hättest mit ihm, nun ja, verkehrt?“
Leona zog ihre Hand zurück wie einen Pudel, dem das Frauchen die Leine strafft. „Seid ihr etwa von der Polente?“ entsetzte sie sich. „Also – mit den Bullen rede ich nur noch über meinen Anwalt, damit das ein für allemal klar ist! Ihr braucht euch gar nicht weiter einzuschleimen, das ist mein letztes Wort: Punkt, Aus, Basta!“
„Keine Angst!“ beruhigte Lutz sie geistesgegenwärtig. „Das hier ist eine rein private Angelegenheit. Lidia ist nämlich die Schwester von Richard, musst du wissen. Der Tod ihres Bruders hat sie schwer getroffen – das alles ist ja so unerwartet gekommen. Deshalb wollte sie einfach noch einmal mit denen reden, die zuletzt mit ihm zusammen waren.“
Leona schlug sich mit einer Hand gegen die Lippen. „Hach, ich Dussel!“ rief sie aus. „Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! Dabei sieht sie ihm doch so ähnlich!“
Damit sprang sie auf, baute sich, die Arme halb ausgebreitet, vor Lidia Afanasjewna auf und zog diese an ihre Brust. „Es tut mir leid, Schwester!“ schluchzte sie. „Kannst du mir noch einmal verzeihen!“
Lidia Afanasjewna versank in einer Wolke weichen Wohlgeruchs. Sie hatte das seltsame Gefühl, von den Armen ihrer Mutter umfangen, gleichzeitig aber von einem Prinzen aus dem Morgenland verführt zu werden. Für einen kurzen Augenblick entglitt sie in ein Zwischenreich, das sie noch nie betreten hatte, in ein Reich, in dem die sonst so klaren Konturen der Dinge verschwammen und die Gegensätze sich versöhnten. Eine Ahnung von der befreienden Kraft dieses Reiches streifte sie, sie schloss die Augen – aber da entließ Leona sie auch schon wieder aus ihren Armen.
Infos
Hardcover, 200 Seiten, 15 €
ISBN: 9783981214970
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Lesung
Interview mit Nadja Dietrich
Bild: Andreas Mattern: Reichstag
Renate
Der Leseauszug und die Beschreibung des Buches haben mich neugierig gemacht. Ich habe mir sofort das E-Book gekauft. Habe schon mit dem Lesen angefangen: Sehr vielversprechend!- Danke für den Tipp 😉
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