Das Lied Txoria txori (‚Vogel, kleiner Vogel‘) ist heute eine Art baskische Freiheitshymne. Es handelt sich dabei um die Vertonung eines Gedichts von Joxean Artze, auf das der Cantautor Mikel Laboa um 1968 in einem Restaurant in San Sebastián (baskisch ‚Donostia‘) gestoßen war. Dort hatte man es, als Zeichen des Protests gegen das Franco-Regime, auf die Servietten gedruckt.
Das kurze Gedicht bringt durch die Metapher eines Vogels, den man nur dadurch ganz an sich binden kann, dass man ihm die Flügel stutzt, ein zentrales Dilemma zwischenmenschlicher Beziehungen zum Ausdruck: Je näher man einander kommt, desto stärker wird der Wunsch, immer mit dem anderen zusammen sein – respektive die Angst, ihn zu verlieren. Je mehr man dieser Angst nachgibt, desto größer wird jedoch die Gefahr, dass man den anderen eben hierdurch an seiner freien Entfaltung hindert und ihm so die Freiheit nimmt, der zu sein, als den man ihn liebt.
Unter der Franco-Diktatur verstand man das Gedicht allerdings auch als Kritik an der Unterdrückung der Freiheitsrechte im Allgemeinen und der kulturellen Freiheit der einzelnen Volksgruppen im Besonderen. Die metaphorische Sprache des Gedichts bezog man dabei auf ein Regime, das sich ein Heer von wesenlosen Untertanen zu schaffen versuchte, indem es die Menschen an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer jeweiligen Kultur hinderte.
Ein solches Unterfangen aber – das ist die hoffnungsvolle Botschaft von Lied und Gedicht – ist notwendig zum Scheitern verurteilt. Denn wie ein Vogel, dem man die Flügel gestutzt hat, „kein Vogel mehr ist“, büßt auch ein Mensch, dem man die Freiheit raubt, ein wesentliches Merkmal seiner Existenz ein. So werden diejenigen, denen man das Menschsein verweigert, aus schierem Selbsterhaltungstrieb mit den „Flügeln der Freiheit“ schlagen und auf diese Weise ihre Unterdrücker abschütteln.
Text des Gedichts mit (französischen) Hintergrundinformationen zu Entstehung von Gedicht und Lied
Vertonung von Mikel Laboa (aus: Bat-Hiru, 1974); mit spanischen Untertiteln
Informationen zum Autor des Gedichts, Joxean Artze (spanisch): Der im Januar 2018 im Alter von 78 Jahren verstorbene Dichter gründete 1966 zusammen mit anderen Künstlern die bis 1972 bestehende Gruppe Ez Dok Amairu, die wichtige Impulse für die Erneuerung der baskischen Kultur geliefert hat. Zusammen mit seinem Bruder Jesús und mit Mikel Laboa hat er in den 1970er Jahren neuartige multimediale Aufführungen kreiert. Dabei kam ihm auch seine Kunstfertigkeit beim Spielen des traditionellen baskischen Perkussionsinstruments Txalaparta zugute.
Übersetzung:
Vogel, kleiner Vogel
// Wenn ich ihm die Flügel gestutzt hätte,
hätte er mir ganz gehört.
Er wäre niemals fortgeflogen. //
// Dann aber
wäre er kein Vogel mehr gewesen, //
und ich …
ich habe den Vogel geliebt.
Wenn ich ihm die Flügel gestutzt hätte …
Dann aber …
Links zum Baskenland:
Baskultur.info: Baskenland: Sprache, Reise, Musik, Literatur und Geschichte auf einen Blick: Baskische Geschichte (2007; aktualisierte Fassung).
Bräcker, Antje: „Wir sind die Basken des Baskenlandes“ – baskische Identität(en) heute. In: Ost-West. Europäische Perspektiven (OWEP) 2/2008.
Otegi, Arnaldo: Den Diskurs selbst bestimmen: Was will die linke Unabhängigkeitsbewegung im Baskenland? Rede vom 14. Januar 2017 bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz, Berlin; info-baskenland.de, 22. Februar 2017 (zuerst erschienen in der Beilage der Jungen Welt zur Rosa-Luxemburg-Konferenz, 1. Februar 2017).
Streck, Ralf: Das Baskenland blickt „neidisch“ auf Katalonien; Telepolis, heise.de, 17. Dezember 2017.
Bild: ©Rujhan Basir: Sea, Bird (pixabay)
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