Zu Konrad Bayers Gedicht marie dein liebster wartet schon / On Konrad Bayer’s poem marie dein liebster wartet schon
In seinem Gedicht marie dein liebster wartet schon schildert der österreichische Autor Konrad Bayer eine Gewalttat im romantischen Tonfall. Die so entstehende Dissonanz lenkt den Blick auf die Abgründe hinter der Fassade der bürgerlichen Ordnung.
Konrad Bayer: marie dein liebster wartet schon
marie dein liebster wartet schon
mit einer stange von beton
in seiner guten sanften hand
im haar trägt er ein seidenband
er schlägt den prügel dir ums ohr
da spritzt das blut gar hell empor
dein neuer hut er ging entzwei
ihm war das alles einerlei
warum geht er so eilends fort
warum spricht er kein einzig wort
was hat den knaben so bewegt
dass er dich einfach niederschlägt
er war so still er war so zart
sein kinn war weich und unbehaart
wer hätte das von ihm gedacht
marie er hat dich umgebracht
hat grausam dir und ohne grund
zerschlagen deinen rosenmund
nun liegst du hier und kannst nicht fort
die strasse ist ein schlimmer ort
zu sterben denn es schickt sich nicht
dass man im freien augen bricht
warum ist diese Welt so schlecht
warum war er so ungerecht
Konrad Bayer: marie dein liebster wartet schon (um 1955) aus: Konrad Bayer: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Rühm, Bd. 1, S. 86. Stuttgart 1985: Klett-Cotta.
Enttäuschte Erwartungen
„Marie, dein Liebster wartet schon … “ Der Anfang von Konrad Bayers Gedicht lässt ein romantisches Liebeslied erwarten. Diese Erwartung wird jedoch schon im zweiten Vers auf makabre Weise durchbrochen. Denn Maries Liebster trägt keine Blumen in der Hand, sondern eine „stange aus beton“. Und nicht Marie trägt ein „Seidenband“ im Haar, sondern der, der auf sie wartet.
So wird gleich in der ersten Strophe klar: Es geht hier nicht um ein romantisches Rendezvous, sondern um das Aufeinandertreffen einer ahnungslosen jungen Frau mit einem perversen Sexualstraftäter, dessen Opfer sie werden wird.
Die Abgründe hinter der bürgerlichen Fassade
Der Ton, in dem die grausame Tat geschildert wird, ist freilich derselbe wie in den Küchenliedern des 19. Jahrhunderts, mit denen die schlecht bezahlten Mägde in den gutbürgerlichen Haushalten sich ein besseres Leben erträumten. Die so entstehende Dissonanz dient dazu, den Widerspruch zwischen der wohlanständigen Fassade der bürgerlichen Gesellschaft und den dahinter verborgenen Abgründen bloßzulegen.
Konkret wird diese Dissonanz durch das Nebeneinander von romantischer Begrifflichkeit und grausamer Realität bewirkt. Nicht etwa die Sonne scheint „gar hell“ ins Zimmer, sondern das Blut „spritzt (…) gar hell empor“. Seine innere Bewegtheit führt „den knaben“ nicht dazu, seiner Angebeteten schwülstige Briefe zu schreiben, sondern dazu, dass er sie „niederschlägt“. Der „rosenmund“ dient nicht zum Küssen, sondern wird „zerschlagen“.
Hinzu kommt die Verbindung der Ungeheuerlichkeit des Geschehens mit banalen Kleinigkeiten. Dies gilt etwa für Erwähnung des Hutes der Ermordeten, der durch die Schläge des Angreifers zerstört wird.
Der Leser als Voyeur
Eine weitere Besonderheit von Bayers Gedicht ist die Rezeptionshaltung, die es nahelegt. Indem es „marie“ in der Weise eines unbeteiligten Passanten, der das Geschehen von weitem beobachtet, anspricht, legt es eine passive Beobachtung des Geschehens nahe. Indem diese in Analogie zur Passivität des bürgerlichen Kunstgenusses gesetzt wird, wird zugleich die Letzterem inhärente Gleichgültigkeit gegenüber der Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft angedeutet.
Hierzu passen auch die Schlussverse des Gedichts, die den Mord einer moralischen Wertung unterziehen, diese aber zugleich in sarkastischer Weise verfremden. So scheint „die strasse ist ein schlimmer ort“ zunächst aus der Sicht der Toten gesprochen zu werden. Kurz darauf enthüllt sich der Satz jedoch als Teil einer sittlichen Äußerung, die das Sterben im Freien als ‚unschicklich‘ qualifiziert. Damit wird dem Opfer selbst die Schuld an seinem Unglück zugeschrieben.
Das Gedicht stellt demnach den imaginären Beobachter des Geschehens in doppelter Weise bloß. Es zeigt ihn zunächst als Voyeur, der den Mord aus sicherer Distanz und – wie die schwülstige Wortwahl unterstellt – mit heimlicher Faszination beobachtet. In den letzten beiden Strophen entlarvt es ihn dann als lächerlich ordnungsbesessenen Spießbürger, der sich von der Toten in seinem Bedürfnis nach einer heilen Welt gestört fühlt.
Die bürgerliche Ordnung als Nährboden für Perversionen
Der Schluss des Gedichts, der in der allgemein gehaltenen Klage über die Ungerechtigkeit der Welt den süßlichen Weltschmerz der Küchenlieder aufzugreifen scheint, erhält vor diesem Hintergrund einen konkreten Sinn: Nicht „diese Welt“ im ganzen ist „schlecht“. „Schlecht“ ist vielmehr die bürgerliche Ordnung, die sich in ihrer Scheinheiligkeit als grausam erweist.
Auch der unsinnige Bezug der ethischen Kategorie „Gerechtigkeit“ auf den Akt des Mordens erweist sich so als versteckte Anklage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist „ungerecht“ in dem Sinne, dass sie in ihrem Ordnungsfanatismus die perverse Entartung von Trieben erst ermöglicht, hieran jedoch den Opfern ihres Moralkodex die Schuld gibt. Gerade in der Absolutsetzung ihrer eigenen Moral erweist sich die bürgerliche Gesellschaft somit als unmoralisch.
Über Konrad Bayer
Der 1932 in Wien geborene Konrad Bayer war schon während seiner Gymnasialzeit künstlerisch aktiv. Gemeinsam mit Freunden gründete er den Künstler-Club genie und irrsinn, er selbst stand anfänglich der Lyrik Georg Trakls und dem Surrealismus nahe.
Nach der Schulzeit wollte Bayer Maler werden, absolvierte jedoch auf Wunsch des Vaters eine kaufmännische Ausbildung. Anschließend war er zunächst als Bankmitarbeiter tätig.
Seit 1957 lebte Bayer als freier Künstler. Als Mitglied der Wiener Gruppe beteiligte er sich mit Hans Carl Artmann, Gerhard Rühm, Oswald Wiener und Friedrich Achleitner an deren oft happeningartigen Auftritten. Außerdem wirkte er in Experimentalfilmen mit.
Neben der Mitarbeit an den experimentellen Gemeinschaftsprojekten der Wiener Gruppe verfasste Bayer auch eigene Gedichte und Prosatexte. 1963 las er auf einer Tagung der Gruppe 47 aus seinem Roman der sechste sinn. Der teils autobiographische Text wurde dort sehr wohlwollend aufgenommen, blieb allerdings Fragment: Bayer nahm sich ein Jahr darauf, noch nicht einmal 32 Jahre alt, das Leben.
Der Freitod des Künstlers kam trotz seiner Depressionen auch für seine geistigen Weggefährten überraschend. Er passt allerdings zu der lebensphilosophischen Grundüberzeugung Bayers, die er sowohl in seinem Werk als auch in seinem Leben zu realisieren versuchte.
Demnach widerspricht der Gedanke von Ganzheit und Abgeschlossenheit der Dynamik des Seins. Der Sinn des Lebens offenbart sich eher im Fragment, in und zwischen den Scherben, in die das Dasein zerfällt.
Beitrag über das österreichische Nachkriegskabarett auf rotherbaron:
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English Version
An Act of Violence in the Guise of a Romantic Love Song
On Konrad Bayer’s poem marie dein liebster wartet schon
In his poem marie dein liebster wartet schon (Mary, your beloved is already waiting), the Austrian author Konrad Bayer describes an act of violence in a romantic tone. The dissonance thus created draws attention to the abysses beneath the surface of the bourgeois order.
Konrad Bayer: mary your beloved is already waiting
mary your beloved is already waiting
holding a bar of concrete
in his good gentle hand
in his hair he wears a ribbon of silk
he beats the stick against your ear
so that the blood spurts brightly upwards
your new hat broke in two
he didn’t care about all that
why does he leave in such a hurry
without uttering a single word
what has agitated the lad so much
that he just knocks you down
he was so quiet he was so tender
his chin was soft and hairless
who would have expected that of him
mary he has murdered you
has cruelly and without cause
smashed your rose mouth
now you’re lying here and cannot leave
the street is a terrible place
to die because it’s inappropriate
to close your eyes outside your home
why is this world so wicked
why was he so unjust
Konrad Bayer: marie dein liebster wartet schon (c. 1955);from: Konrad Bayer: Sämtliche Werke (Collected Works),edited by Gerhard Rühm, tome 1, p. 86. Stuttgart 1985: Klett-Cotta.
Shattered Expectations
„Mary, your beloved is already waiting …“ The beginning of Konrad Bayer’s poem suggests a romantic love song. But this expectation is abruptly shattered in the second verse – because Mary’s lover is not carrying flowers in his hand, but a „bar of concrete“. And it is not Mary who wears a „ribbon of silk“ in her hair, but the one who is waiting for her.
So it becomes clear right from the first stanza: this poem is not about a romantic rendezvous, but about the encounter of an unsuspecting young woman with a perverted sex offender, whose victim she will become.
The Abysses beneath the Bourgeois Order
However, the tone in which the cruel deed is described is the same as in the kitchen songs of the 19th century, with which the poorly paid maids in bourgeois homes dreamed of a better life. The dissonance thus created serves to expose the contradiction between the proper façade of bourgeois society and the abysses hidden behind it.
In concrete terms, this dissonance is brought about by the juxtaposition of romantic terminology and cruel reality. Thus it is not the sun that shines „brightly“ into the room, but the blood that „spurts brightly upwards“. His inner agitation does not cause the lad to write his beloved rapturous letters, but rather to „knock her down“. Her „rose mouth“ does not serve him for kissing, but is „smashed“ by him.
On top of that, the monstrosity of the event is linked to banal trivialities. This applies, for example, to the mention of the murdered woman’s hat, which is destroyed by the attacker’s blows.
The Reader as a Voyeur
Another special feature of Bayer’s poem is the attitude of reception it suggests. By addressing „mary“ in the manner of an uninvolved passer-by observing the event from afar, it implies a passive observation of the incident. As the poems relates this to the passivity of bourgeois enjoyment of art, it also hints at the indifference to the inhumanity of bourgeois society inherent in this kind of enjoyment.
The final verses of the poem also fit in with this. They subject the murder to a moral evaluation, but at the same time alienate the latter in a sarcastic way. Thus, „the street is a terrible place“ seems at first to be spoken from the point of view of the murdered woman. Shortly afterwards, however, the sentence reveals itself as part of a moral statement that qualifies dying outdoors as „unseemly“. This suggests that the victim herself is to blame for her misfortune.
The poem thus exposes the invisible observer of the event in two ways. First, it shows him as a voyeur who observes the murder from a safe distance and – as the turgid choice of words implies – with secret fascination. In the last two stanzas, it then unmasks him as a ridiculously order-obsessed philistine who in his need for an ideal world feels disturbed by the dead woman.
The Bourgeois Order as a Breeding Ground for Perversion
The poem’s conclusion, which in its general lament about the injustice of the world seems to take up the mawkish world-weariness of the kitchen songs, takes on a concrete meaning against this background: it is not „this world“ as a whole that is „wicked“. Rather, it is the bourgeois order that in its hypocrisy proves to be cruel.
Even the nonsensical connection of the ethical category „justice“ to the act of murder thus proves to be a hidden accusation of bourgeois society. This society is „unjust“ in the sense that its fanaticism about order makes the perverse degeneration of drives possible in the first place, while blaming the victims of its moral code for this. Hence, bourgeois society proves to be immoral precisely due to the absouluteness of its own morality.
About Konrad Bayer
Born in Vienna in 1932, Konrad Bayer was already artistically active during his secondary school years. Together with friends he founded the artists‘ club genie und irrsinn (ingenuity and madness), he himself was initially close to the poetry of the expressionist author Georg Trakl and to surrealism.
After leaving school, Bayer wanted to become a painter, but completed a commercial apprenticeship at his father’s request. Afterwards, he worked as a bank employee for some time.
Since 1957 Bayer lived as a freelance artist. As a member of the Wiener Gruppe (Vienna Group), he participated with Hans Carl Artmann, Gerhard Rühm, Oswald Wiener and Friedrich Achleitner in the group’s performances, which often resembled artistic happenings. Furthermore, he was involved in experimental films.
In addition to his collaboration in the experimental joint projects of the Vienna Group, Bayer also wrote his own poems and prose texts. In 1963, he read from his novel der sechste sinn (The Sixth Sense) at a meeting of the then most important literary artists‘ association, the Gruppe 47 (Group 47). The partly autobiographical text was very well received there, but remained a fragment: Bayer took his own life a year later, not even 32 years old.
Despite his depression, the artist’s suicide came unexpectedly, even for his intellectual companions. However, it fits in with Bayer’s basic philosophical convictions, which he tried to implement in his work as well as in his life.
According to these convictions, the idea of wholeness and completeness contradicts the dynamics of being. The meaning of life is rather revealed in the fragment, in and between the shards into which human existence disintegrates.
Bilder / Images : Lucent_Designs: Nächtliche Gasse / Alley by night (Pixabay); Renate Ganser: Konrad Bayer, 1962 (Automatenfoto / Wikimedia commons)