Die Kathedrale – Marktplatz und Brücke zum Kosmos / The Cathedral – Marketplace and Bridge to the Cosmos

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

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Zusammen mit den anderen Mönchen seines Klosters besucht Theo einen Gottesdienst in der Kathedrale der Stadt. Dabei ist manches ganz anders, als er erwartet hätte.

English Version

Freitag, 25. März 1485

Was beim Eintritt in die gotische Kathedrale im Zentrum der Stadt als Erstes auffällt? Was mich betrifft, würde ich sagen: die ungeheure Dunkelheit, mit der sie angefüllt ist. Zwar ist der Raum um die einzelnen Altäre vom Licht der Kerzen und Fackeln ausreichend beleuchtet. Der Kontrast zu der tiefen Dunkelheit des oberen Gewölbes, an dessen Wände die bunt bemalten Fensterscheiben nur ein paar wenige Lichttupfer werfen, wird dadurch jedoch nur noch stärker betont.
Das Ganze erinnert ein wenig an eine Nacht im Gebirge, wenn die Dörfer sich in die dünnen Muschelschalen ihres Lichts hüllen, die sie kaum abschirmen gegen die im Dunkeln bedrohlich aufragenden Bergriesen. Ist das Glimmen der Lichter nicht hier wie dort ein hilfloser Versuch, sich gegen die unendliche Dunkelheit des Universums zur Wehr zu setzen, ein verzweifelter Ruf nach „Erleuchtung“, der Erlösung von dem Verlorensein im Nichts des Alls?
Zumindest war das meine Empfindung, als ich die Kathedrale zum ersten Mal betreten habe. Wahrscheinlich beruht dieses Gefühl auf dem Kontrast zu den Kirchen meiner ehemaligen Gegenwart, in denen die Dunkelheit in Fluten von Licht ertränkt wird. Außerdem wirkt wohl auch der Eindruck des gleißenden Lichts in der Kegelstadt noch in mir nach.
Die Menschen hier scheinen ihre Gotteshäuser allerdings ganz anders wahrzunehmen. Für sie ist die Kirche offenbar weniger ein Ort der Sammlung als eine Versammlungsstätte, ein Ort, an dem man ungezwungen zusammenkommen, sich austauschen, sich verabreden und Geschäfte machen kann. Möglicherweise ist dieses Bild aber auch durch die Jahreszeit verfälscht. Wäre es Sommer und nicht so verregnet, würde sich das Geschehen wohl mehr auf den Marktplatz verlagern – zumal in der Kirche eine empfindliche Kälte herrscht.
Trotzdem wirkt die Art und Weise, wie man sich hier in der Kirche aufführt, befremdlich auf mich. Würde sich das bunte Treiben außerhalb der Gottesdienste abspielen, könnte ich das ja vielleicht noch verstehen. Augenscheinlich nimmt es jedoch gerade während der Messen an Intensität zu. Der Predigt von Bruder Eberhart konnte ich so kaum folgen.
Direkt neben dem Kirchenportal standen Händlerinnen, die Eier und Strickwaren feilboten. In unmittelbarer Nähe des Chores, in dem die Messe abgehalten wurde, klimperten zwei Männer beim Abwickeln irgendeines Handels mit ihren Münzen. Hinter einer Säule kicherte ein Liebespaar miteinander, während in den Seitenschiffen die Besucher grüppchenweise auf und ab gingen und sich dabei angeregt unterhielten.
Insgesamt fielen allerdings all diese Einzelaktivitäten nicht sonderlich ins Gewicht, weil ohnehin ein ständiges Kommen und Gehen in der Kirche herrschte. Dies lag auch daran, dass an den zahlreichen Privataltären, die sich Zünfte, Bruderschaften und die diversen Ratsfamilien in der Kirche haben errichten lassen, weitere Messen gelesen wurden. Das war umso störender, als diese Privatandachten zeitversetzt begannen.
Zudem findet man sich hier nicht unbedingt zu Beginn des Gottesdienstes ein. Angesichts der Kälte in der Kirche und des Mangels an Sitzplätzen kommen viele erst zur Wandlung oder teilweise auch kurz danach. Letzteres ist insbesondere bei jenen der Fall, die sich lediglich die Präsenz-Gelder für die Teilnahme an einem der Gottesdienste vor den Stiftungsaltären abholen wollen. Da es in diesem Fall immer wieder vorkommt, dass die Ausgabe der Stiftungspfennige verweigert wird, mischen sich in die markttreiberische Hektik auch noch Streit und Schimpfworte.
Für die Predigt von Bruder Eberhart waren lediglich drei zusätzliche Holzbänke aufgestellt worden. Hinzu kam natürlich das für die Ratsherren und ihre Familien vorgesehene Chorgestühl, dessen reich verzierte Rückenlehnen zu beiden Seiten des Altars emporragen. Die Bänke waren rasch besetzt, weshalb viele beim Lustwandeln in der Kirche nur kurz näher traten und quasi zur Zerstreuung in die Predigt hineinhörten.
Diejenigen, die sich einen Platz auf den Holzbänken gesichert hatten, harrten dort zwar bis zum Ende der Messe aus. Dies bedeutete jedoch nicht unbedingt, dass sie ihr auch aufmerksam folgten. Lediglich die sechs Nonnen in der ersten Bankreihe hörten der Predigt von Anfang bis Ende andächtig zu. Sie trugen fast dieselbe Tracht wie die Mönche „meines“ Klosters – nur dass sie zusätzlich eine weiße Haube aufgesetzt hatten, die unter ihrer Kapuze hervorlugte. Ob wohl auch die beiden Nonnen unter ihnen waren, die Albertus mit mir aufsuchen möchte?
Auch die Mönche des Klosters, dem Bruder Eberhart vorsteht, waren nicht vollzählig zu der Messe erschienen. Einige von ihnen waren an den Privataltären selbst als Prediger im Einsatz. Darunter befand sich auch Albertus, dessen Familie sich in ihrer Kirchennische mit einem großen Gedächtnisbild feiert.
Die anwesenden Mönche verfolgten die Predigt allerdings auch nicht mit besonderem Interesse. Einer hatte sogar den Ellbogen in geradezu provokanter Weise auf die Banklehne gestützt, um besser vor sich hindösen zu können. In der Bank hinter mir saßen zwei Frauen, die sich augenscheinlich weniger für die Predigt interessierten als für den Tratsch, den sie ungeniert austauschten. Außerdem drang von dort ein eigenartiges Gewinsel und Gejammer an mein Ohr. Es waren die Klagelaute eines Hundes, der für die Predigt ebenso wenig Interesse zeigte wie das Frauchen, auf dessen Schoß er saß.
Dass die Ratsherren und ihre Familien auf den Inhalt der Predigt achteten, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. Zwar zeigten sie ihr Desinteresse nicht so offen wie das auf den Holzbänken sitzende Publikum, sondern blickten starr und würdevoll auf den Prior – fast wie ihre hölzernen Abbilder auf den Wangen des Chorgestühls. Ihre gesamte Haltung zeigte jedoch, dass es ihnen mehr um die möglichst vorteilhafte Inszenierung der eigenen Person als um die Auseinandersetzung mit den Worten des Predigers ging.
Von Albertus wusste ich bereits, dass der Prior auf Deutsch zu predigen pflegte – eine Praxis, mit der, wie mein Mitbruder hinzufügte, nicht alle einverstanden seien, da hierdurch die heiligen Worte des Evangeliums in den Schmutz gezogen würden. Dabei wirkte Bruder Eberhart allerdings keineswegs volksnah. Mit seinem hageren, von zahlreichen Falten durchschnittenen Gesicht strahlte er eine asketische Strenge aus, mit der er in dem bunten Treiben um ihn her wie ein Fremdkörper erschien. Auch fiel es mir schwer, in ihm den „Mann mittleren Alters“ zu sehen, als den Albertus ihn mir geschildert hatte. Zumindest auf den ersten Blick wirkte er deutlich älter auf mich.

Schon wieder rufen die Glocken zum Gebet … Diese ständigen Andachten bringen wirklich jeden Gedankenfluss zum Erliegen! Aber was soll ich machen? Solange ich unter diesem Dach lebe, muss ich mich wohl oder übel an die Ordensregel halten!
Also frisch ans Werk, Bruder Theobald! Lobe den Herrn und preise den Geist, der dich auf seinen Flügeln fortträgt von der Trübsal des immer gleichen Mönchsgemurmels!

Die Beschreibung von Kirche und Kirchenleben stützt sich auf Boockmann, Hartmut: Die Stadt im späten Mittelalter, S. 191 – 218 (Kap. 15: Die städtische Pfarrkirche). München 1986: Beck (Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg).

English Version

The Cathedral – Marketplace and Bridge to the Cosmos

Together with the other monks of his monastery, Theo attends a worship service in the town’s cathedral. There, several things turn out to be quite different from what he had expected.

Friday, March 25, 1485

The most striking thing about entering the gothic cathedral in the middle of the town? As far as I am concerned, I would say: the immense darkness it is filled with. Admittedly, the space around the various altars is sufficiently illuminated by the light of candles and torches. But this only emphasises the contrast with the deep darkness of the upper vault, where the brightly painted window panes cast only a few spots of light on the walls.
The whole thing is somewhat reminiscent of a night in the mountains, when the villages wrap themselves in the thin shells of their light, which barely shield them from the mountain giants towering menacingly in the dark. Isn’t the glow of the lights here, too, a helpless attempt to defend oneself against the infinite darkness of the universe, a desperate call for „enlightenment“, redemption from being lost in the void of space?
At least that was my feeling when I entered the cathedral for the first time. Probably this sensation is based on the contrast with the churches of my former present, where darkness is drowned in floods of light. In addition, the impression of the glaring light in the cone town probably still lingers in me.
The people here, however, seem to perceive their places of worship quite differently. For them, the church is apparently less a place of contemplation than a meeting place, a place where people can come together informally, exchange ideas, make appointments and do business. This image may also be distorted by the time of year, though. If it were summer and not so rainy, the activities would probably shift more to the marketplace – especially as it is uncomfortably cold in the church.
Nevertheless, the way people are behaving here in church seems strange to me. If the hustle and bustle were taking place outside the church services, I could possibly understand it. But it even seems to increase in intensity during the Masses. So I could hardly follow Brother Eberhart’s sermon.
Right next to the church portal women were hawking eggs and knitwear. In the immediate vicinity of the choir room, where the service was being celebrated, two men were jingling their coins while carrying out some kind of trade. Behind a pillar, a pair of lovers giggled with each other, while in the side aisles, visitors walked up and down in groups, chatting animatedly.
On the whole, however, all these individual activities were of little consequence because there was a constant coming and going in the church anyway. One reason for this was that other Masses were taking place at the numerous private altars that guilds, brotherhoods and the town’s ruling families had erected in the church. This was all the more disturbing because these private services began at different times.
Moreover, people do not necessarily come here at the beginning of the service. In view of the cold inside the church and the lack of seats, many come only for the consecration or sometimes shortly afterwards. The latter is especially the case with those who only want to collect the attendance money for taking part in one of the services in front of the private altars. Since in this case it happens again and again that the handing out of the attendance pennies is refused, quarrels and insults are mixed in with the market-like fuss and flurry.
Only three additional wooden benches had been set up for Brother Eberhart’s sermon. In addition, of course, there were the choir stalls with their richly decorated backrests rising up on both sides of the altar, intended for the councillors and their families. The pews were quickly occupied, which is why many only stepped closer for a short while as they strolled around the church, using the sermon as a kind of diversion.
Those who had managed to find a place on the wooden benches stayed there until the end of the service. However, this did not necessarily mean that they followed it attentively. Only the six nuns in the first row of pews listened devoutly to the sermon from the beginning to the end. They wore almost the same garb as the monks of „my“ monastery – except that they had also put on a white bonnet that protruded from under their hood. I wonder if the two nuns Albertus wants to visit with me were among them.
The monks of the monastery over which Brother Eberhart presides were not all present at the Mass either. Some of them were preaching at the private altars themselves. Among them was Albertus, whose family celebrates itself in a special church niche with a large image of veneration.
The monks present, however, did not follow the sermon with particular interest. One of them even leaned his elbow on the back of the bench in an almost provocative way so as to better doze off. In the pew behind me sat two women who were obviously less interested in the sermon than in the gossip they were unabashedly exchanging. In addition, a strange whining and moaning reached my ears from there. It was the wailing of a dog that showed as little interest in the sermon as the mistress on whose lap it sat.
I even doubt that the councillors and their families were paying much attention to the sermon. True, they did not show their disinterest as openly as the audience seated on the pews, but gazed fixedly and with dignity at the Prior – almost like their wooden effigies on the sides of the choir stalls. Their entire posture, however, showed that they were more concerned with presenting themselves in a favourable light than with engaging with the preacher’s words.
Albertus had already told me that the Prior did not preach in Latin, but in the language of the people – a practice with which, as my confrere added, many did not agree, because they felt that the holy words of the Gospel were dragged through the mud in this way. Yet Brother Eberhart did not at all strike me as close to the people. With his haggard face, streaked with numerous wrinkles, he radiated an ascetic austerity that made him look like a stranger in the colourful hustle and bustle around him. I also found it difficult to see in him the „middle-aged man“ Albertus had described him as. At least at first glance, he seemed much older to me.

Again the bells call for prayer … These constant devotions really cause every flow of thought to dry up! But what can I do? As long as I live under this roof, I willy-nilly have to abide by the Rule of the Order!
So get to work, Brother Theobald! Praise the Lord and thank the Spirit who carries you away on his wings from the tribulation of the constant monkish murmurings!

The description of church and church life is based on Boockmann, Hartmut: Die Stadt im späten Mittelalter [The Town in the Late Middle Ages], pp. 191 – 218 (Ch. 15: Die städtische Pfarrkirche – The Town Parish Church). Munich 1986: Beck (licensed edition of Büchergilde Gutenberg).

Bilder / Images: Anthonie de Lorme  (circa 1610 –1673; Architektur Figurennchurch interior1673) / g (Wikimedia commons)) /Anthonie Palamedesz:  (1602 – 1673; Figuren):Von Kerzen beleuchteter Innenraum einer Kirche (1641); Wikimedia commons; Pascal Beckmann: Kathedrale in Prag (Pixabay; modifiziert)/ Pascal Beckmann: Cathedral in Prague (Pixabay; modified)


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